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Alte und neue Klänge in der Provence

Festival-Direktor Bernard Foccroulle setzt zum Auftakt auf eine sichere Bank: "La Traviata" von Giuseppe Verdi. Daneben gibt es aber auch die Uraufführungen von Oscar Bianchis "Thanks to my eyes" mit dem Ensemble modern.

Von Frieder Reininghaus | 07.07.2011
    Frankreich pflegt das Verhältnis zur Geschichte emphatisch. Zuvorderst das zu den schönsten Aspekten, die ja bekanntlich immer Schattenseiten haben. Gerade auch die Histoire der Alphonsine Plessis, die in den 1840er-Jahren auf den Pariser Liebesmarkt kam – im teuersten Preissegment. Alexandre Dumas d.J. hatte mit ihr, die sich selbst nobilitierte und bevorzugt du Plessis nannte, eine heiße Liebesaffäre. Als sie 23-jährig starb, errichtete ihr ein respektvoll erschütterter Teil der Finanzbourgeoisie auf dem Friedhof von Montmartre ein steinernes Monument, Dumas ein literarisches in Gestalt der Marguerite Gaultier im Roman Die Kameliendame, den er auch gleich noch per Schauspiel ausbeutete. Er folgte dabei einem vom Pariser Musikkritiker Heinrich Heine gegebenen Stichwort, nach dem der Typus dieser Frauen weit weniger habgierig sei als gemeinhin angenommen, und schon gar nicht "böse oder falsch". Genau dies zu zeigen war die Intention Giuseppe Verdis, als er sieben Jahre nach dem Tod der Duplessis deren Leben und Sterben komponierte, die Dame nach Einmischung der Zensur aber "Traviata" nennen musste – also: "die vom Weg Abgekommene".

    Der Komödiant und Schauspielregisseur Jean-François Savadier durfte sich in Aix-en-Provence der (Ab-)Wege der "Traviata" annehmen. Auf der zum elegisch einsetzenden Vorspiel fast leer dahindämmernden Bühne wird ein Sternenhimmel gemalt, der sich dann als Vorhang über das rauschende Lebensfest der Mademoiselle Valéry erhebt. Milchstraßen deuten eine gewisse Fülle der Lichtpunkte an und die so gut wie ganz auf Requisiten verzichtende Produktion reduziert die letzten Lebensstationen der Violetta Valéry auf absichtsvoll karg gezeigte menschliche Beziehungen und gesungene Emotion. Der Mozart-Spezialist Louis Langrée hält den Estnischen Kammerchor und die Londoner Symphoniker dazu an, genau dieses Spannungsfeld von Kargheit und aufglühenden Emotionen auszutarieren.

    Der Operngänger begegnet der Traviata ja in jenem abwegigen Augenblick, in dem sie Gradlinigkeit in ihr unübersichtliches Liebesleben bringen will – in dieser Hinsicht verhält sich Verdis fortdauernd beliebteste Oper kontradiktorisch zu den ganzen auf Ausbüchsen aus Zweierbeziehungen hin angelegten Dreiecksgeschichten der Großen Oper. Hier geht es also ums Eindosen und dann ums Eingemachte. Die Titelheldin, die sich mit allzu scharfen Sachen aufputscht, weiß bereits, dass ihre Zeit auf Erden bemessen ist. So ist das, was Natalie Dessay großartig singt und energisch-vital zeigt, höchst plausibel: sie glaubt, im blutjungen Alfredo Germont, den Charles Castronovo mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit und Unbedenklichkeit gibt, endlich den festen Anker gefunden zu haben. Was aber bekanntlich Vater Germont durchkreuzt. Auch dessen Partie ist in Aix mit Ludovic Tézier glänzend besetzt.

    Der belgische Barock-Organist Bernard Foccroulle, der seit 2007 das Opern-Festival in der Provence leitet, schafft auch dem Neuen einen gewissen Raum – allemal einen schmalen und esoterisch parfümierten. So auch heuer. Ein in Oberitalien geborener Schweizer Komponist, dessen Vita vor allem aus der Liste der empfangenen Fördermaßnahmen besteht, durfte nochmals einen Vater-Sohn-Konflikt betönen. Der Autor Joël Pommerat hat aus einem eigenen Schauspiel ein angeblich "symbolistisch" geprägtes Libretto und die Inszenierung abgeleitet. Doch Unaufmerksamkeit gegenüber virulenten Problemen der Gegenwart, Unschärfe und ideologische Indifferenz sollten nicht die Erbschaft des vor hundert Jahren grassierenden Symbolismus sein. Die Kammeroper und ihre Macher wurden offensichtlich überdüngt. Das mag symbolisch sein.