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Altersforscherin: Wir müssen Pflegebedürftigkeit vermindern

Die Gerontologin Ursula Lehr sieht in einer verstärkten Prävention den Schlüssel gegen die steigende Pflegebedürftigkeit unserer alternden Gesellschaft. Städteplaner und mobile Versorgungsdienste müssten sich auf den demografischen Wandel einstellen - und die Bürger sich mehr bewegen, um gesünder zu altern.

Das Gespräch führte Silvia Engels | 25.04.2012
    Silvia Engels: Die Bundesregierung stellt in dieser Woche das Thema der alternden Gesellschaft in den Mittelpunkt. Es begann mit der gestrigen Demografie-Konferenz im Bundeskanzleramt, heute will das Bundeskabinett eine Demografie-Strategie verabschieden und dazu soll im Herbst auch der erste von regelmäßigen Demografie-Gipfeln starten. Bundeskanzlerin Merkel sagte jedenfalls gestern:

    O-Ton Angela Merkel: "Demografischer Wandel, das wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus: Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Kultur. Alle müssen sich auf eine ältere und zahlenmäßig kleinere Erwerbsbevölkerung einstellen."

    Engels: Bundeskanzlerin Merkel. Wenn man dann allerdings auf die Eckpunkte der bislang bekannten Demografie-Strategie schaut, dann findet man viele Einzelpunkte, die man eigentlich schon kennt: bessere Kinderbetreuung zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, frühkindliche Bildungsförderung für Kinder mit in- und ausländischen Wurzeln, längeres Arbeiten, bessere häusliche Pflege, generell ein Kampf gegen den Fachkräftemangel. Zugeschaltet ist uns die Altersforscherin Professor Ursula Lehr, von 1988 bis 1991 war sie zudem Familien-, Frauen- und Jugendministerin für die CDU. Guten Morgen, Frau Lehr.

    Ursula Lehr: Schönen guten Morgen, Frau Engels.

    Engels: Sie selbst haben sich ja schon vor Jahrzehnten mit der Bevölkerungsentwicklung befasst, als eine der Ersten die Probleme der alternden Gesellschaft gesehen. Wieso ist das Thema erst jetzt seit einigen Jahren im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte angekommen?

    Lehr: Weil es jetzt erst deutlich wird. Durch den Fachkräftemangel ist auch die Wirtschaft wach geworden und ist auch die Politik wach geworden. An sich hat ja die Politik schon 1991, vom Bundestag beschlossen, eine Enquete-Kommission "Demografischer Wandel" eingerichtet und man hat über drei Legislaturperioden getagt und es liegen da auch einige Schriften vor. Aber stöhnen wir nicht, dass es so lange vergessen wurde, sondern freuen wir uns, dass es endlich in den Mittelpunkt gerückt wird.

    Engels: Sie haben es angesprochen: Fachkräftemangel macht es jetzt spürbar. Welches sehen Sie als die nächsten Folgen der alternden Gesellschaft, die für uns jetzt demnächst am krassesten, am deutlichsten in den Blickpunkt treten werden?

    Lehr: Nun, das Problem auch der Pflegekräfte. Wir haben schon heute nicht genug Pflegekräfte. Nun muss ja Alter nicht unbedingt Pflegebedürftigkeit bedeuten. Da aber doch der Anteil der über 80-, über 90-, ja sogar über 100-Jährigen noch enorm steigt, muss man mit einem größeren Bedarf an Pflegekräften rechnen. Aber hier muss noch weit mehr getan werden: Wir müssen nämlich viel stärker die Prävention, die Vorsorge in den Vordergrund rücken und auch die Rehabilitation. Das würde manche Pflegebedürftigkeit zumindest vermindern.

    Engels: Sie sprechen jetzt gerade den Blick auf die Betreuung Älterer an. Jetzt hat ja die Familien- und Bildungspolitik gerade versucht, auch im Zusammenhang mit alternder Gesellschaft darauf zu setzen, durch Familienförderung möglicherweise der Zahl der Geburten etwas auf die Sprünge zu helfen. War das der richtige Ansatz?

    Lehr: Sicherlich hängt der demografische Wandel auch oder ganz besonders stark mit dem Geburtenrückgang zusammen, und hier kann man nur eines tun: Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, und zwar im doppelten Sinne, fördern: einmal Berufstätigkeit und Aufziehen kleiner Kinder, dann aber auch Berufstätigkeit und Versorgung alter Eltern oder alter Angehöriger. Hier wird schon viel getan, aber hier ist noch mehr zu tun.

    Engels: Da sind wir jetzt doch mitten im Streit angekommen, der zurzeit die CDU zerreißt: Es geht um das Betreuungsgeld, also Geld, das Eltern bekommen sollen, die ihre Kinder nicht in eine Kindertagesstätte geben. Ist das ein Baustein auch in einem Gesamtkonzept Demografie?

    Lehr: Darüber lässt sich streiten. Zunächst einmal ist es unbedingt notwendig, dass wir bestmögliche Bildung vom Kleinstkind an haben, und gerade, wenn wir sehr viele Kinder doch von Zuwanderungsfamilien haben, worüber wir uns im Prinzip freuen, müssen wir aber alles tun, um hier schon von kleinst an Bildung, deutsche Sprache zu fördern, und deswegen darf das Betreuungsgeld auf keinen Fall dazu dienen, dass eventuell Zugewanderte ihre Kinder zuhause lassen.

    Engels: Wie passt das zu der Meldung, die heute in mehreren Zeitungen nachzulesen ist, wonach die Koalition das Betreuungsgeld wohl nun voll von Hartz-IV-Leistungen abziehen will? Das würde ja gerade möglicherweise auch Zuwandererfamilien stark treffen.

    Lehr: Ja. Aber andererseits würde das wahrscheinlich dazu führen, dass diese Kinder auch in eine Kinderbetreuung, in einen Kindergarten kommen, und das wünschen wir uns ja.

    Engels: Also wäre das ein Schritt, den Sie mittragen würden?

    Lehr: Ja, das würde ich mittragen.

    Engels: Dann schauen wir wieder etwas weiter, denn das Thema Demografie hat – Sie haben es angesprochen – ja auch vor allen Dingen die Komponente, ob unsere Gesellschaft in allen Einzelheiten auf eine alternde Gesellschaft richtig eingestellt ist.

    Lehr: Da ist noch viel zu tun.

    Engels: Wo sehen Sie denn das Hauptdefizit, auch wenn Sie die Eckdaten hören, die jetzt rund um Demografie in Gang kommen sollen? Was fehlt da noch?

    Lehr: Hauptdefizit ist sehr schwer zu sagen, aber all die vielen Einzelheiten. Schauen Sie, unsere Städteplanung ist noch gar nicht auf den demografischen Wandel eingestellt. Wie viele Bahnhöfe haben wir, die nur über Treppen zu erreichen sind? Bei einer alternden Gesellschaft ist nun einmal ein großer Prozentsatz nicht in der Lage, Treppen hochzusteigen. Wie viele Tiefgaragen haben wir, die keine Aufzüge und auch keine Rolltreppen haben, wo man also klettern muss? Hier gibt es so viel zu tun, allein schon in der Gestaltung der Kommune, dass man eigentlich eine ganze Liste aufzählen müsste.

    Engels: Der Städtebau ist das eine. Das Stichwort lautet auch "regionale Entwicklung", denn es drohen ja ganze Landstriche zu verkümmern, weil einfach dort die Jungen wegziehen. Welche Schwerpunkte würden Sie hier legen?

    Lehr: Da haben Sie völlig recht. Vor allen Dingen auch in unseren neuen Bundesländern, aber auch in einigen früheren, ist es so, dass ganze Dörfer geradezu vereinsamen, reduziert sind. Hier muss was getan werden, um die Versorgung vor Ort zu gewährleisten. Wahrscheinlich mobile Dienste, dass wie in früheren Zeiten der Bäcker zweimal, dreimal die Woche vorbei kommt und klingelt, oder dass die anderen Lebensmittelhändler klingeln. Hier müssen wir wirklich uns auch noch was einfallen lassen. Ich rechne auch damit, dass die sogenannten AAL-Systeme, Ambient Assisted Living, das heißt Assistenzsysteme, die auch durch Fernbedienung den Leuten weiterhelfen, dass die sich mehr und mehr durchsetzen werden. Man spricht ja jetzt schon von Tele-Care, sodass man durch solche handyartigen Geräte dem Arzt, der ein paar Kilometer weg ist, die Werte melden kann und er dann Anweisungen gibt. Ich meine, das ist Zukunftsmusik, aber sicher muss das weiter ausgebaut werden.

    Engels: Kurz zum Schluss, Frau Lehr: Ist dieser Umbau für unsere Gesellschaft bezahlbar?

    Lehr: Er wird einiges kosten, das ist ganz klar, aber fangen wir doch erst mal mit dem an, was relativ wenig kostet, und das ist die Aufforderung an alle unsere Bürger, möglichst gesund alt zu werden, indem man mindestens täglich eine halbe Stunde so schnell wie möglich spazieren geht. Körperliche Bewegung ist die Voraussetzung für ein gesundes Altern. Ich meine, alles andere ist wichtig und sehr wichtig, aber fangen wir doch mal mit dem an, was geht.

    Engels: Ursula Lehr, Altersforscherin und selber Familienministerin von 1988 bis 1991, kombiniert mit einem Gesundheitstipp. Vielen Dank für das Gespräch heute Früh.

    Lehr: Bitte, einen schönen Tag noch.

    Engels: Ihnen auch.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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