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Amoklauf von Winnenden
Psychologen entwickeln Strategien

Direkt nach der Katastrophe standen Psychologen Opfern und Angehörigen zur Seite. Bald wurde klar, dass auch eine Nachsorge nötig ist. In Baden-Württemberg sind nun Strategien entwickelt worden, in denen Schulpsychologen vermehrt zum Einsatz kommen. Sie sollen das Risiko weiterer Amokläufe an Schulen senken.

Von Michael Brandt |
    Gedenkstätte für die Opfer des Amoklaufs vom 11. März 2009.
    Gedenkstätte für die Opfer des Amoklaufs vom 11. März 2009. (Stadtverwaltung Winnenden)
    "Wir hatten ganz normal Unterricht, dann kamen von nebenan Schüsse, kurz darauf ist er dann in unser Zimmer und hat angefangen zu schießen, Ich bin unter den Tisch, wie viele andere auch. Am Anfang packt man das gar nicht ..."
    Das berichtete Marco F., damals Schüler in der 9. Klasse der Albertville-Realschule in Winnenden, über das, was heute vor 5 Jahren um 9.30 an der Schule passierte. Man packt es nicht, sagte der 15 Jährige damals und sein Vater fügte einen Tag später hinzu: "Man macht sich dann auch Sorgen, wie wirkt sich das auf eine Kinderseele aus. Ich sage, er ist schlagartig erwachsen geworden gestern. Ich hoffe, das verdaut er alles gut."
    Unterschiedlichste Aufgaben der Schulpsychologen
    Das wollten die Eltern, das wollte die Schule, das wollte das ganze Land. Unmittelbar nach dem Amoklauf wurden mehrere Schulpsychologen nach Winnenden geschickt, unter ihnen Anna Niedermeier von der schulpsychologischen Beratungsstelle im Schulamt Stuttgart:
    "Am 11. März waren drei Kollegen dort, die für unmittelbare Fürsorge und Erstversorgung zu Verfügung standen. Zum Teil auch für spontan übernommene Aufgaben, das ging bis zum Überbringen von Todesnachrichten an Angehörige."
    Außerdem wurde eine Hotline mit weiteren vier Psychologen geschaltet, bei der am ersten Tag weit über 2000 Anrufe eingingen. Was direkt nach dem Amoklauf eine Krisenintervention war, wurde dann aber nachhaltiger gedacht. Es war klar, dass der Amoklauf bei den Jugendlichen tiefe seelische Narbe hinterlässt und folglich blieb das Psychologenteam auch nach dem Amoklauf an Ort und Stelle, zweieinhalb Jahre insgesamt.
    "Das ist ein massives Gefühl der Verunsicherung und eine massive Erschütterung des Weltbildes und des Selbstbildes."
    Zum einen wurden die Schüler betreut, zum anderen waren die Psychologen aber auch dafür zuständig, dass die Schule als Einheit mit den Ereignissen fertig wird: "Der Versuch, das Ganze wieder in Strukturen zu bringen, der hat dann auch sämtliche schulischen Ebenen betroffen. Das ging zum einen um die Schulleitung, dann um die Arbeit mit den Lehrkräften als Bezugspersonen der Schüler."
    Die unmittelbare Aufgabe der Schulpsychologen war also die Nachsorge nach dem Amoklauf – aber schnell war klar, dass es dabei nicht bleiben kann. Wichtiger noch ist die Prävention, dass es künftig keine Amokläufe wie am 10. März 2009 in Winnenden mehr geben kann, dass zumindest die Wahrscheinlichkeit geringer wird.
    Private Initiative nach der Katastrophe
    Gisela Meyer ist die Mutter der Referendarin, die von Amokläufer Tim K. im Klassenzimmer erschossen wurde. Sie hat mit anderen wenige Tage nach dem Unglück das Aktionsbündnis gegen Gewalt an Schulen gegründet, das sich unter anderem für eine Verbesserung der Prävention einsetzt.
    "Weil es vom ersten Augenblick an allen Angehörigen klar war, dass das, was passiert ist, etwas völlig anderes war als das, was auf den Philippinen passiert ist. Es war kein Erdbeben, keine Naturkatastrophe, sondern es war menschliches Handeln."
    Und menschliches Handeln, so Gisela Meyer, hat Gründe, die Gründe kann man erkennen und auf sie kann man Einfluss nehmen. Unter anderem durch eine bessere Betreuung der Schüler, durch mehr Schulpsychologen im Alltag. "Ich stelle fest, dass eine ganze Menge passiert, die Zahl der Schulpsychologen ist in einzelnen Abschnitten verdoppelt worden, die Zahl der Schulsozialarbeiter ist erhöht worden."
    Politische Konsequenz
    Tatsächlich hat der Amoklauf auch die Landespolitik aufgerüttelt. Das Kultusministerium beschloss damals ein ganzes Maßnahmenpaket gegen Gewalt, so Schulpsychologin Anna Niedermeier: "Für Baden-Württemberg wurde vom Kultusministerium ein Gesamtpaket erarbeitet. Besonders wichtig ist das Präventionskonzept "stark-stärker-wir", das alle Schulen umsetzen sollen. Als Unterstützung dafür wurden rund 150 Präventionsbeauftragte ausgebildet, die inzwischen mit vier bis sechs Deputatsstunden tätig sind mit dem Ziel, dass Prävention tatsächlich besser in den Schulen verankert wird."
    Außerdem soll, so das Kultusministerium, das Thema Prävention, fest im neuen Bildungsplan, der derzeit entsteht, verankert werden. Hier gibt es allerdings auch Widerspruch. Gisela Meier vom Aktionsbündnis mahnt eine bessere Vernetzung von Lehrern und Psychologen in der Schule an und Gerhard Brand vom Verband Bildung und Erziehung Baden-Württemberg stellt fest: "Es hat sich etwas getan. Es ist dokumentierbar mit dem Kriseninterventionsplan, mit einer Fortbildungsreihe, die sich aber mittlerweile schon erledigt hat. Das ist das, was sie festmachen können, und das ist definitiv zu wenig."
    Der Lehrerverband fordert jetzt vor allem kleinere Klassen für mehr Prävention.
    Aber dennoch bleibt die Feststellung, dass die Zahl der Schulpsychologen in Baden-Württemberg seit Winnenden fast verdoppelt wurde und dass darüber hinaus an der Uni Tübingen ein schulpsychologisches Kompetenzzentrum eingerichtet wurde, wo Forschung und Praxis besser verzahnt werden sollen.