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Anfeindungen, Leugnungen und Mord

Imraan Coovadia berichtet in seinem Roman über eine historische Phase Südafrikas: Das stark autobiografisch geprägte Werk über eine indische Arztfamilie in Durban bringt die dramatischen Jahre nach der Präsidentschaft Nelson Mandelas 1999 näher.

Von Antje Deistler |
    "In diesem Buch geht es um eine kurze Zeit in diesen ersten sechs Jahren des Jahrhunderts, als eine starke, ziemlich destruktive Form des schwarzen Nationalismus aufkam, die vom Präsidenten selbst ausging und von seinen Handlangern, die zum Teil noch nicht mal besonders schwarz oder afrikanisch waren. Die bezichtigten alle anderen ständig des Rassismus und betrieben eine Form der Wirtschaftsförderung, die einige wenige sehr schnell sehr reich werden ließen. Diese Politik wirkte zerstörerisch, sie entfremdete alle gesellschaftlichen Gruppen voneinander und wurde beendet. In diesem Fall hat die Demokratie gesiegt, dieser rassistische Nationalismus hat nicht funktioniert."

    Die historische Phase Südafrikas, von der Imraan Coovadia in "Gezeitenwechsel" erzählt, ist seit der Amtsenthebung von Thabo Mbeki im Jahr 2008 vorbei. Glücklicherweise, sagt der Autor. Coovadia wuchs als Sohn indischer Eltern in Durban auf. Mutter und Vater sind Ärzte, die gegen die Rassentrennung und das Apartheidregime kämpften. Im ANC, der heutigen Regierungspartei, Seite an Seite mit Aktivisten aller Hautfarben. Allerdings wurden sie, nachdem das Unrechtssystem besiegt war, von einem Teil der ehemaligen Mitstreiter bitter enttäuscht.

    "So ist das mit Revolutionen, es ist unausweichlich.
    Das hat mich interessiert, weil meine Familie mittendrin war, ich bin damit aufgewachsen, mit dem ANC, mit Männern mit falschen Bärten und Brillen, die um 3 Uhr morgens bei uns klingelten, um der Sicherheitspolizei zu entgehen. Und dann konnte man beobachten, wie die Solidarität innerhalb des ehemaligen Widerstands in sich zusammenbrach, parallel zu den Problemen der neuen Regierung, eins davon war das Leugnen von AIDS."

    Man kann also davon ausgehen, dass "Gezeitenwechsel" stark autobiografisch geprägt ist. In dem Roman geht es um Arif, einen ehemals hochangesehenen Arzt, Medizinprofessor und AIDS-Forscher in Durban und seine Frau Nafisa, die im örtlichen Krankenhaus täglich gegen die Seuche kämpft. Die beiden haben einen schweren Stand. Denn Präsident Thabo Mbeki persönlich leugnet das HI-Virus. AIDS, so propagiert er, sei eine Folge von Armut und keine sexuell übertragbare Krankheit. Arif sieht sich Anfeindungen ausgesetzt, und seine Frau Nafisa schafft bereits Geld beiseite, um im Notfall das Land verlassen zu können. Doch am Tag seines Abschieds vom Universitätsbetrieb findet sie ihren Mann tot in seinem Arbeitszimmer.

    "Ich habe vor allem überlegt: Was kenne ich gut genug, um damit eine glaubwürdige Geschichte zu erzählen? Und ich weiß, wie es ist, in Südafrika Arzt zu sein, auch und vor allem zu der Zeit, als hier 1000 Menschen am Tag starben. Jetzt sind es nur noch 600 pro Tag, die Ansteckungsrate ist auch viel geringer geworden. Aber ich wusste von den Sorgen der Mediziner, und auch, wie es war, auf diesen Stationen zu arbeiten, ... dabei kenne ich wahrscheinlich nur einen winzigen Bruchteil dessen, was in den Krankenhäusern und Laboren los war, sehr unheimlich, auch die ständige Gefahr durch infizierte Spritzennadeln."

    Die Schilderungen des alltäglichen Horrors auf der AIDS-Station gehören zu den stärksten Passagen in "Gezeitenwechsel". Die realistische Angst, sich als Doktor selbst anzustecken, an einer ausrutschenden Nadel zum Beispiel, oder der Kampf gegen ideologisch geprägte und letztlich tödliche Ignoranz – davon erzählt Imraan Coovadia so eindringlich, dass die Hoffnungslosigkeit der Ärzte auch die Leser zu überwältigen droht. Nur der durchaus schwarze Humor des 42-jährigen Minderheitsangehörigen rettet einen davor.

    "Das ist sicher etwas, das für Leser in Europa schwer zu verstehen ist: Warum es so viele indische Ärzte gibt in Südafrika. Es ist ähnlich wie bei jüdischen Anwälten. Lass dich gut ausbilden, mach ein tragbares Examen, wenn sie anfangen, dich zu steinigen, kannst du es überall hin mitnehmen."

    "Gezeitenwechsel" ist vieles: Gesellschaftsporträt, Familienroman, und, wenn man will, auch Kriminalroman. Obwohl Imraan Coovadia diese Etikettierung nicht so recht wäre.

    "Naja, es kommt schon jemand darin um, obwohl lange nicht klar ist, ob er ermordet wurde. Wir leben in einem gewalttätigen, gefährlichen Land, und es ist strukturell gesehen für einen Schriftsteller auch einfach, eine Geschichte um einen Mord herum zu entwickeln, aber Kriminalliteratur interessiert mich eigentlich nicht, ich hoffe, ich habe keinen ganz normalen Krimi geschrieben. Viel wichtiger ist doch die Frage: Eignet sich Kriminalliteratur dazu, die Situation eines Landes, den Zustand der Gesellschaft zu analysieren? In unserem Fall denke ich: Ja, unbedingt."

    Kriminalromane aus Südafrika haben in den vergangenen Jahren einen Boom erlebt. Manche Autoren vom Kap halten das Genre für die einzig angemessene literarische Form, um ihre gewalttätige Gesellschaft zu analysieren. Doch Imraan Coovadias Buch lässt sich darauf nicht reduzieren. Zwar beginnt es mit einem rätselhaften Todesfall, doch steht eine irgendwie geartete Mordermittlung viel weniger im Vordergrund als die Beschreibung einer Familie im Niedergang, und zwar auf vielen komplizierten Ebenen. Die ständigen Auseinandersetzungen zwischen der wohlhabenden Inderin Nafisa und ihrem Hausmädchen Estella, einer jungen Zulu, gehören dazu. Imraan Coovadia:

    "Die Beziehung zwischen weißer Frau und schwarzem Dienstmädchen, das ist einer der ältesten Topoi von Kolonialliteratur, das geht zurück bis zu Cervantes mit Sancho Pansa in Don Quijote. Das ist inzwischen uninteressant, aber für mich wurde es wieder interessant durch den Blickwinkel indische Frau und Zulufrau, das Machtgefälle verschiebt sich langsam. Die Mutter von Jacob Zuma war auch Dienstmädchen, und jetzt ist er Präsident, das sagt viel aus über die Veränderungen in Südafrika. Zwischen Nafisa und Estella gibt es Menschlichkeit und Intimität, aber auch Grausamkeit, das gehört für die beiden zusammen."

    Eine Zeit, in der alles irgendwie verkehrt herum läuft, in der Verhältnisse auf den Kopf gestellt wurden – eine spiegelverkehrte Welt, die an Alice im Wunderland erinnert. Die Assoziation ist gewollt, gibt der Autor zu.

    "Ich weiß nicht, warum wir Schriftsteller so oft auf andere Bücher anspielen. Irgendwann ergibt sich eine Parallele, und dann fragt man sich: Greife ich die auf oder lasse ich’s? Dieses Buch spielt auf Alice im Wunderland an, weil bei Alice alles verkehrt herum und auf dem Kopf steht, alles ist unlogisch. So fühlte sich für mich Thabo Mbekis Südafrika an, die Regeln von Politik, von Krankheit und Gesundheit, alles war seitenverkehrt, falschrum. Aber nicht nur in Mbekis Südafrika, auch in George Bushs Amerika. Damals lief in der Welt einiges falsch, Wahrheiten wurden verleugnet, und mir gefiel die Idee, dass Schriftsteller das alles wieder zurechtrücken sollten – ausgerechnet als Vertreter der Realität und NICHT der Fantasie."

    Das ist ihm gelungen, auch nach Meinung seiner Landsleute. Für "High Low In-Between", so der englische Originaltitel von "Gezeitenwechsel", wurde Coovadia mit literarischen Preisen ausgezeichnet. Die Mbeki-Ära ist vorbei, heute ist Jacob Zuma Präsident von Südafrika. Ein, so drückt Imraan Coovadia es vorsichtig aus, typischer Machthaber in einem Drittweltland wie Südafrika. Aber die Gesundheitspolitik habe sich stark verbessert, betont der Autor, mittlerweile gebe es ein Anti-AIDS-Programm der Regierung, und es greife sogar. Die Hoffnungslosigkeit, von der "Gezeitenwechsel" geprägt ist, gehört der Vergangenheit an, auch für Imraan Coovadia - wie er mit dem für ihn typischen Galgenhumor bestätigt.

    "Ja, es geht um eine Gesellschaft in den Fängen von Armut, Unterdrückung und Krankheit. Aber bin ich selbst hoffnungslos? Nicht immer, nur sonntags, den Rest der Woche nicht, und auch nicht in jedem Buch."

    Imraan Coovadia: Gezeitenwechsel
    Aus dem Englischen von Indra Wussow
    Wunderhorn, Juni 2011
    280 Seiten, 24,80 Euro