Samstag, 11. Mai 2024

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Archaisierendes Stimmengewirr, skurrile Stolpereien, lichtglitzernde Wolken

Zum Auftackt der Münchner Biennale für Neues Musiktheater stand die Uraufführung von Sarah Nemtsovs Oper "L'Absence" auf dem Programm. Das Stück basiert auf Edmond Jabès "Buch der Fragen". Die Oper stellt eine Auswahl des Werks dar ohne Abfolge und Texte zu verändern.

Von Christoph Schmitz | 04.05.2012
    Eine Oper in fünf Akten hat Sarah Nemtsov komponiert. Das klingt schwer nach 19. Jahrhundert. Außerdem hat sie eine Literaturoper geschaffen, ganz so wie im 19. Jahrhundert Goethe und Shakespeare hoch und runter vertont wurden. Sarah Nemtsov hat aber kein Drama, auch keinen Roman zum Klingen gebracht, sondern die poetischen Reflexionen aus Edmond Jabès "Buch der Fragen" von 1963. Unter dem Eindruck des Holocaust spürt Jabès dem Verlust nach, dem Tod, der unglücklichen Liebe zwischen Sarah und Yukel. Yukel überlebt den Genozid, Sarah ebenfalls, im Gegensatz zu ihren Eltern, allerdings schwer traumatisiert. Als Person ist Sarah zerstört. Wie eine Irre wandelt ihr Körper durch die Tage. Getrennt vom Körper Sarahs Seele. Sie betrachtet die Verrückte und ihr Schicksal. Yukel findet Sarah zwar wieder, muss aber erkennen, dass es die junge Frau von damals nicht mehr gibt. Was hier wie eine Geschichte klingt, lässt sich sowohl in Jabès' Text wie auch in Sarah Nemtsovs Oper nur mühsam rekonstruieren. Die Klage über die Vernichtung und den Schmerz überlagert die Geschichte. Ein Chor frommer Rabbiner kommentiert und reflektiert das Unglück von Sarah und Yukel auf der Bühne. Eine Erinnerung an friedliche Tage zeigt die jugendliche Sarah mit zwei Kindern, die sie nach Anfang und Ende der Welt befragen. von der Liebe träumt ein Frauenpaar. Und ein Erzähler führt uns durch die Szenen, er begleitet einen Leser, von einem Schauspieler gespielt, durch Jabès' Textkosmos und Nemtsovs Klangwelt. Der Erzähler wird gesprochen und gesungen vom fabelhaften Altus Bernhard Landauer.

    Größte Anspannung und höchste Not stecken in diesem Erzähler wie in allen andern Figuren. Unheilschwanger das Gemurmel des Rabbinerchors. Hysterische Liebesreflexionen des Frauenpaars. Und alle bewegen sie sich durch einen schwarzen Bühnenraum. Der wird lediglich von Buchseiten ähnlichen Wänden aufgefächert. Dazu sparsame Requisiten, vor allem Kleider aus vergangener Zeit. Regisseurin Jasmin Solfaghari hat das Maximum an szenischen Möglichkeiten dem Stück entlockt. Aus einer Komposition, die vor allem eines ist: ein Schrei des Entsetzens über die Vernichtung eines Volkes, als sei sie gerade erst geschehen. Der Schock des Dichters Jabès klingt unmittelbar in Sarah Nemtsovs Musik nach. Auch in den Orchesterstücken, die die Akte einleiten, mit ihren oftmals schroffen, mitunter knirschenden Klangkonstruktionen.

    Starke Momente gibt es in diesen 100 Minuten. Archaisierendes Stimmengewirr, skurrile Stolpereien, lichtglitzernde Wolken.

    Vital und pointiert vorgetragen vom Bundesjugendorchester unter der Leitung von Rüdiger Bohn. Auch Chor und Solisten zeigen souveräne Leistungen. Und doch wirken die 100 Minuten viel zu lang. Die Hälfte hätte möglicherweise gereicht. Die musikalische Substanz scheint mehr nicht tragen zu können. Destilliert wäre ein dichtes, intensives, hochprozentiges Stück daraus geworden. Die Fragmente des gebrochenen Lebens bleiben zudem jeweils für sich stehen. Sie wirken nicht zu einem dramaturgisch zwingenden Räderwerk verzahnt. Überhaupt steckt zu wenig Musiktheater in dieser Arbeit. Deswegen ist sie alles, nur keine Oper, schon gar keine in fünf Akten. Eher ein Oratorium. Und hier zeigt sich wieder einmal das seit Jahren bekannte und vielfach diskutierte Problem der Münchener Biennale für neues Musiktheater, dass nämlich das Theater in den Kompositionen zu kurz kommt. Das von Peter Ruzicka verantwortete Festival hält zum Auftakt der 13. Ausgabe am Konzept geschichtenfreier Assoziationen fest. Aber auch mit Sarah Nemtsovs "L'Absence" kann er nicht davon überzeugen, dass dieses Konzept einen Weg in die Zukunft zeitgenössischen Musiktheaters weist.