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Antisemitismus in Frankreich
"Du bist ein dreckiger Jude"

Wer steckt hinter dem alltäglichen Hass auf Juden? Der traditionelle Antisemitismus aus rechtsextremen und konservativ katholischen Kreisen gehe zurück, sagt der Historiker Georges Bensoussan. Jetzt komme die Gewalt von linken Anti-Zionisten und von Islamisten. Eine These, die an Tabus rührt.

Von Suzanne Krause |
    Ein Davidstern über einer Synagoge
    Der Antisemitismus in Frankreich ist auf dem Vormarsch (Picture Alliance / dpa / Jan Woitas)
    Ein Verantwortlicher der Synagoge in Garges-lès-Gonesse, einem armen Vorort im Pariser Norden, empfängt ein Fernsehteam in der jüdischen Kultstätte. Die wurde vor Jahren verbunkert hinter einer hohen Mauer, die Eingangstür gesichert mit Zahlencode. Trotz installierter Videokameras finden sich regelmäßig antisemitische Parolen auf der Mauer. Resigniert zieht der Synagogen-Sprecher Bilanz.
    "Früher war die Synagoge beim Gottesdienst voll besetzt. Heute bleibt mancher Platz frei."
    Ab der Jahrtausendwende stieg die Zahl antisemitischer Übergriffe. Ein Grund, warum sich französische Juden zunehmend zur Auswanderung entschieden, nach Israel, in die Vereinigten Staaten, nach Kanada. Über 8.000 Menschen waren es 2015, Höhepunkt der Auswanderungswelle. Die Attentate im November 2015 in Paris und Saint-Denis brachten eine Wende: sie zeigten, dass islamistische Terroristen nicht mehr nur Juden im Visier haben, sondern die gesamte Bevölkerung. Seither verlassen deutlich weniger Juden das Land. Obwohl die Schwierigkeiten im Alltag zunehmen. In einer TV-Reportage berichtet Sylvain Boukobza von einem Schreckenserlebnis. Kürzlich sei er im Auto unterwegs gewesen und habe unvermittelt bremsen müssen. Darauf habe der Fahrer hinter ihm rabiat reagiert, erzählt Sylvain Boukobza.
    "Keine Bange, wir kriegen Dich!"
    "Er drehte die Scheibe runter und sagte mir: ich weiss, wer du bist und wo du wohnst. Du bist ein dreckiger Jude. Keine Bange, wir kriegen dich!"
    Eine Drohung, die keineswegs mehr lächerlich erscheint, sagt Françis Kalifat, Präsident des CRIF, des Zentralrats jüdischer Institutionen in Frankreich.
    "Neu ist, dass Juden nun nicht mehr nur auf der Straße angegriffen werden, sondern auch bei sich zuhause."
    Für landesweites Entsetzen sorgte der Fall von Sarah Halimi, einer jüdischen Rentnerin, die im April in Paris ermordet wurde. Ein junger Nachbar war in ihre Wohnung im dritten Stock eingedrungen, hatte die 65-Jährige gefoltert und aus dem Fenster geworfen - weil sie Jüdin war. Seither kämpft der jüdische Zentralrat CRIF dafür, dass der Ermittlungsrichter den Mord als antisemitische Gewalttat behandelt.
    "Die Justiz muss die Hintergründe des Mords durchleuchten."
    Mitte Juli, bei der Gedenkfeier zum 75. Jubiläum des Auftakts der Judendeportation in Frankreich, erklärte Staatspräsident Emmanuel Macron: "Auch wenn der Täter antisemitische Beweggründe abstreitet, so muss doch die Justiz die Hintergründe des Mords an Sarah Halimi komplett durchleuchten."
    Das wünscht sich auch CRIF-Präsident Françis Kalifat:
    "Uns ist es natürlich wichtig, dass der Täter verurteilt wird für den antisemitischen Mord. Aber darüber hinaus ist es auch wichtig, dass dabei dem Antisemitismus der Prozess gemacht wird, der in unserem Land heute noch tötet."
    Den ganz banalen Antisemitismus schildern französische Juden erstmals in der Tageszeitung Le Monde. Eine Familie, die seit Urzeiten ein Häuschen in einem Sozialbauviertel nahe Paris bewohnte, erhielt im Frühjahr Drohbriefe, denen eine Gewehrkugel beigelegt war. Die Hauswand wurde mehrfach verschmiert mit Parolen wie 'Tod den Juden' oder 'Es lebe der islamistische Staat'. Nach einigen Monaten suchte die Familie das Weite und zog weg. Das sei längst kein Einzelfall, sagt Françis Kalifat.
    "50.000 Juden sahen sich gezwungen wegzuziehen"
    "Wenn man eine Bilanz der letzten 17 Jahre zieht, kommt man auf die Zahl von knapp 50.000 jüdischen Bürgern, die sich gezwungen sahen, vor allem aus den Mietskasernen rund um Paris wegzuziehen. Mancher hatte dort sein ganzes bisheriges Leben verbracht. Und ging aus Sicherheitsgründen, entweder ins Pariser Zentrum oder in Vororte im ruhigeren Westen."
    In seinem Jahresbericht zu Rassismus und Antisemitismus verbreitete das Innenministerium im Februar eine gute Botschaft: 2016 sei, im Vergleich zum Vorjahr, die Zahl der Angriffe auf französische Juden um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Doch immer noch handelt es sich bei jedem dritten Rassismus-Opfer um einen Juden. Dabei stellt die jüdische Gemeinde nicht mal ein Prozent der Gesamtbevölkerung. Auch wenn die staatliche Statistik einen Rückgang antisemitischer Akte aufzeigt, ist das für Françis Kalifat nicht die ganze Wahrheit.
    "Erfasst wird ein Fall nur, wenn jemand bei der Polizei Anzeige erstattet. Aber wir wissen sehr wohl, dass sich Antisemitimus heute zumeist im Internet abspielt. Und das taucht in den amtlichen Statistiken nicht auf. Deshalb habe ich beschlossen, im CRIF eine Beobachtungsstelle für Antisemitismus im Internet aufzubauen."
    Beim Judenhass handele es sich um eine 'widerliche Bestie'
    Der CRIF will die Vorgänge im Internet quantifizieren. Um die Provider zur Verantwortung zu ziehen. Als Vorbild gilt das geplante deutsche Gesetz gegen Hasskommentare in den sozialen Medien. Den Kampf gegen Hasstiraden will auch die französische Regierung ab 2018 in einem neuen Plan gegen Antisemitismus festschreiben. Beim Judenhass handele es sich um eine 'widerliche Bestie', erklärte Premierminister Edouard Philippe, als er Anfang Oktober Leitlinien der geplanten Kampagne vorstellte.
    Klare Worte, die vielen in der jüdischen Gemeinde Frankreichs den Eindruck geben, von den Politikern nicht allein gelassen zu werden. An klaren Worten jedoch mangele es, meint Georges Bensoussan, bei der Benennung der Täter.
    "In den letzten Jahren wurden 14 Juden in Frankreich bei antisemitischen Angriffen ermordet. Nicht jeder Täter war arabischer Abstammung, aber ausnahmslos alle waren Muslime."
    Und das ist für Bensoussan ein Merkmal des neuen Antisemitismus. Der Historiker ist Experte für jüdische Kulturgeschichte im Europa des 19. und 20 Jahrhunderts und bei der Pariser Shoah-Gedenkstätte tätig.
    Muslimischer Antisemitismus sei ein Tabuthema in Frankreich
    "Der traditionelle Antisemitismus in Frankreich, der von den Rechtsextremen oder konservativen katholischen Kreisen ausgeht, spielt kaum mehr eine Rolle. Heute gibt es zwei Neuheiten. Zum einen erstarkt wieder der gewalttätige Antisemitismus der extremen Linken, der sich mit einem Antizionismus vermengt. Die wahre Neuheit aber ist der muslimische Antisemitismus. Nicht nur in Frankreich, sondern weltweit."
    Der muslimische Antisemitismus sei ein Tabuthema in Frankreich, das die dunklen Seiten seiner Kolonialgeschichte, insbesondere den Algerienkrieg, noch nicht überwunden habe, sagt Bensoussan. Vor zwei Jahren hatte der Historiker für viel Polemik gesorgt. Als er damals im Radio erklärte, französische Muslime seien geprägt von einem, Zitat: "Atavistischen Antisemitismus, der wie ein Geheimnis verschwiegen wird." Ein Verein von Muslimen gegen Islamophobie brachte Benoussan deswegen vor den Kadi, das Gericht sprach den Historiker frei.
    Laut Bensoussan, in Marokko geboren, gehöre die Geringschätzung von Juden zur traditionellen Kultur im Maghreb, in Algerien, Tunesien und Marokko. Doch bei Muslimen, die mit diesem Judenbild im Kopf nach Frankreich auswanderten, sei die Geringschätzung umgeschlagen in Hass.
    "In der traditionellen Kultur des Maghreb gilt ein Jude als Figur des Unterdrückten, als gesellschaftlich niedrigstehend. In Frankreich jedoch wird dieses Bild auf den Kopf gestellt. Die hiesige jüdische Gemeinde ist sehr gut integriert, gebildet. Für einen typischen Migranten aus dem Maghreb ist es schwer zu verstehen, dass viele Juden in Frankreich in sozial dominanten Bereichen zu finden sind, in der Kultur, in der Finanz, in der Medizin und so weiter."
    Auch Muslimen gelingt immer häufiger der soziale Aufstieg
    Bensoussan zeichnet allerdings ein sehr Holzschnittartiges Bild. Denn auch den Nachkommen muslimischer Migranten gelingt mehr und mehr der Aufstieg in die Mittel- und Oberschicht.
    Unbestreitbar ist: Die 'widerliche Bestie' des Antisemitismus gehört heute in Frankreich zum tristen Alltag. Mit fatalen Folgen. CRIF-Präsident Françis Kalifat nennt ein Beispiel aus dem als Sozialbaughetto verschrieenen Pariser Norden.
    "Im Département Seine-Saint-Denis gibt es in den öffentlichen Schulen heute quasi kein einziges jüdisches Kind mehr. Das kommt meiner Meinung nach einem Scheitern der Republik gleich."