Dienstag, 16. April 2024

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Armut in Deutschland
"Die Menschen haben Angst vor sozialem Abstieg"

Die Große Koalition führe "eine Grundrente ein, die eigentlich keine Rente ist", sagte der Präsident des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, im Dlf. Es sei eine Art "Sozialhilfe plus" für Menschen, die ohnehin Grundsicherung beziehen. Aktuell würde die geplante Grundrente nur etwa 100.000. Menschen erreichen.

Ulrich Schneider im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 12.03.2018
    Kunden der Essener Tafel stehen mit ihren Einkaufstrolleys vor dem Eingang der Ausgabestelle.
    In Deutschland gibt es seit Jahren rund eine Million Langzeitarbeitslose – was soll für sie getan werden? (dpa / Roland Weihrauch)
    Ann-Kathrin Büüsker: Ab dieser Woche kann es für die neue Bundesregierung ans Regieren gehen und eine der zentralen Aufgaben wird dann die soziale Frage sein. In den vergangenen Wochen, da hat sich ja rund um die Diskussion über die Essener Tafel gezeigt, wie sehr das Thema spalten kann. Dort war ein Aufnahmestopp für neue Kunden mit ausländischer Herkunft erlassen worden und infolgedessen gab es eine große Diskussion um Armut und Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland. Im Jahr 2016 waren in Deutschland 19,7 Prozent der Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen, obwohl es Deutschland ja wirtschaftlich eigentlich richtig gut geht. Trotzdem haben sehr viele Menschen Angst vor dem sozialen Abstieg, insbesondere wenn es ums Alter geht. Mit Blick auf die kommenden Jahre die soziale Frage eine der drängendsten. Aber inwiefern hat die neue Große Koalition Antworten darauf? – Das schauen wir uns zusammen an mit Ulrich Schneider, Präsident des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Guten Morgen!
    Ulrich Schneider: Einen schönen guten Morgen.
    Büüsker: Herr Schneider, wo trifft denn der Koalitionsvertrag mit Blick auf die Bekämpfung von Armut voll ins Schwarze?
    Schneider: Ich denke mir, er hat eine Reihe richtiger Ansätze drin, wenn man ihn sich anschaut. Es ist erst mal die Willensbekundung da, das Wohngeld noch mal anzupassen. Da steht zwar noch nichts Konkretes, aber Wohngeld ist natürlich zur Vermeidung von Armut angesichts der ja wirklich schlimm steigenden Mieten gerade in Ballungsgebieten eine ganz wichtige Sache. Es ist drin, dass das BAFÖG noch mal angehoben werden soll. Da soll eine Milliarde zur Verfügung gestellt werden. Das sind natürlich Punkte, mit denen kann man was anfangen. Insgesamt jedoch, muss man leider sagen, fehlt der armutspolitische Wurf. Da ist nicht zu erkennen, wie man doch dieser enormen Armut und dieser Spaltung von Arm und Reich in Deutschland wirklich wirksam entgegentreten will.
    Büüsker: Aber ein ganz zentrales Element der Arbeitsmarktpolitik der Großen Koalition ist ja, dass sie mehr Menschen in Arbeit bringen möchte und insbesondere Langzeitarbeitslose wieder mehr fördern möchte. Das klingt doch prima.
    Schneider: Das ist ein schönes Beispiel, wie ein wichtiges Thema tatsächlich aufgegriffen wird, aber dann leider auch wieder halbherzig angegangen wird. Anders kann man es nicht nennen. Es ist geplant, 150.000 Langzeitarbeitslose in öffentlich geförderte Beschäftigung zu bringen. Das hört sich gut an, ist auch gut. Aber man muss sehen: Wir haben seit Jahren rund eine Million Langzeitarbeitslose, für die was getan werden müsste. Diese 150.000 Menschen sollen zudem mit einer Milliarde finanziert werden. Wir wissen aus Erfahrung, die Experten geben uns da recht, damit bekommt man höchstens 100.000 Menschen in Arbeit. Mit anderen Worten: Auch hier zeigt sich das Grundproblem dieses Koalitionsvertrages. Die Themen sind richtig, aber sie sind nicht ausfinanziert und in den Maßnahmen wird regelhaft zu kurz gesprungen.
    "Erhöhung des Kindergeldes wird voll abgezogen"
    Büüsker: Was müsste die Große Koalition denn besser machen?
    Schneider: Ich denke, wenn man Armut bekämpfen will, dann muss man sich erst mal auch einem Problem stellen, das Sie ja vorhin angesprochen hatten und das hier völlig ausgeblendet wird: Wie sieht es eigentlich mit Hartz IV aus? Wie sieht es mit der Höhe der Altersgrundsicherung aus? Wir sagen, das ist Armut. Wir sagen, man kann mit 240 Euro im Monat ein Kind nicht über den Monat bringen. Wir sagen, die Regelsätze sind auch für Erwachsene viel zu gering gestrickt. Die Menschen wissen nicht, wie sie klar kommen sollen mit Hartz IV, und darüber finden wir überhaupt kein Wort in diesem Vertrag. Ganz im Gegenteil! Nehmen Sie eine Maßnahme wie die Erhöhung des Kindergeldes, 25 Euro pro Kind pro Monat ist eine gute Sache. Aber in Hartz IV wird es voll abgezogen. Sprich: Die Armen, die Ärmsten unter uns werden von solchen Maßnahmen überhaupt nicht erreicht.
    Grundrente ist "eigentlich keine Rente"
    Büüsker: Aber um Armut im Alter zu bekämpfen wird eine Grundrente eingeführt.
    Schneider: Da haben Sie schon wieder so einen Punkt genannt, an dem man das sehr schön beispielhaft erklären kann, was da passiert. Das Problem ist benannt. Wir haben es mit einer großen Altersarmut zu tun, die auf uns zukommt, wenn wir nicht politisch gegensteuern. Aber was passiert? Es wird eine Grundrente eingeführt, die eigentlich keine Rente ist. Das bekommt nämlich lediglich der, der ohnehin Grundsicherung bezieht, sprich der gar kein Einkommen hat, bei dem auch der Partner kaum Einkommen hat, der kaum Vermögen hat. Das ist alles andere als eine Rente. Es ist eine Sozialhilfe plus. Und sie wird gekoppelt an 35 Beitragsjahre, die man haben muss. Das heißt im Klartext, es würden heute damit gerade mal etwa 100.000 alte Menschen erreicht, mehr nicht.
    "Mit 2,70 Euro am Tag kann ich kein Kind ernähren"
    Büüsker: Herr Schneider, Sie sagen nun, die Regelsätze sind zu niedrig, die müssten erhöht werden. Das Bundesverfassungsgericht hat aber 2014 festgestellt, die sind total okay berechnet.
    Schneider: Das Bundesverfassungsgericht hat einerseits festgestellt, sie sind im Grundsatz richtig berechnet, weil es transparent ist in weiten Teilen. Das Bundesverfassungsgericht hat aber im letzten Urteil auch gesagt, es ist gerade noch, gerade noch statthaft, was da passiert ist. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, bei Mobilitätskosten muss dringend was passieren. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, bei den sogenannten einmaligen Leistungen, wenn etwa eine Waschmaschine kaputt ist oder Ähnliches, muss dringend was passieren. Bei all diesen Dingen ist überhaupt nichts nachgebessert worden. Deswegen haben wir schon Bedenken.
    Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands
    Hartz IV-Regelsätze seien "willkürlich" berechnet, findet Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband (dpa-Zentralbild / Britta Pedersen)
    Wir sind der Ansicht, dass diese Regelsätze wirklich sehr willkürlich und vorsätzlich kleingerechnet wurden. Ich will Beispiele nennen. Man hat Pfennigbeträge oder Centbeträge rausgerechnet für Tierfutter, weil man sagt, das braucht ein Mensch nicht in Hartz IV. Man hat wirklich Centbeträge herausgestrichen für die chemische Reinigung, weil man sagt, die brauchen doch überhaupt keinen Anzug, was wollen die mit einer chemischen Reinigung. Man ist hingegangen und hat die Kleinstbeträge, die dort arme Menschen ausgegeben haben, etwa wenn sie mal in eine Gaststätte gehen, wieder rausgerechnet und umgerechnet in das, was eine Kugel Eis an Materialwert hat und Ähnliches. Das ist wirklich schon lachhaft gewesen zum Teil. Und das, was übrig geblieben ist, das war der Bundesregierung noch immer zu hoch, und dann ist man hingegangen und hat ein paar statistische Tricks angewandt, Berechnungsgrundlagen verändert etc., so dass der Regelsatz so gering ist wie er jetzt ist. Und wir sagen, beispielsweise mit 2,70 Euro kann ich am Tag kein Kind ernähren, oder auch mit 30 Euro im Monat für Kleidung, Schuhwerk kann ich keinen Heranwachsenden über den Monat bringen. Diese Sätze reichen nicht hin!
    Büüsker: Herr Schneider, Sie haben jetzt das Beispiel Tierfutter angebracht. Da würde ich gerne einhaken und die Frage stellen: Warum soll denn die Allgemeinheit dafür bezahlen, dass jemand ein Haustier hat?
    Schneider: Das sind etwa 30 Cent gewesen, die da drin waren. Nicht alle haben ein Tier. Das heißt, der eine hat ein Tier, gibt 30 Cent dafür aus, der andere bringt seinen Anzug in die chemische Reinigung und gibt es dafür aus. Eigentlich müssten sich die einzelnen Ausgabenpositionen jeweils ergänzen, weil es nicht den idealtypischen Haushalt gibt. Wenn man jetzt aber so reingrätscht und sagt, da streiche ich mal das weg, das weg, das weg, dann ist auch nichts mehr zur wechselseitigen, wie man es nennt, Deckungsfähigkeit dieser Kleinstbeträge da. Dann habe ich beispielsweise das Problem, ich will noch ein Beispiel nennen, dass ich für 6,80 Euro für einen Säugling alles an Cremes, an Windeln im Monat kaufen soll, was ich brauche. Jeder weiß, der einen Säugling hat, damit komme ich nicht mal zwei Wochen weit, und das kommt dann da raus.
    Büüsker: Wenn Sie jetzt eine Erhöhung der Regelsätze fordern, was schwebt Ihnen da als konkrete Zahl vor?
    Schneider: Wir selber als Paritätischer Wohlfahrtsverband haben mal nachgerechnet und haben diese statistischen Nickeligkeiten wieder rausgenommen aus den Berechnungen und sind auf einen Betrag von 520 gekommen. Die Diakonie Deutschland hat die gleichen Berechnungen mal gemacht, ist sogar auf einen noch höheren Betrag gekommen, 560 Euro. Das ist etwa das, wo sich das Ganze abspielen müsste.
    "Hohe Einkommen stärker belasten als bisher"
    Büüsker: Und wie soll das finanziert werden?
    Schneider: Das wären etwa neun bis zehn Milliarden Euro zusätzlich. Und wir sagen, wir werden Armut nicht bekämpfen können in Deutschland, wenn wir nicht die starken Schultern, wirklich sehr hohe Einkommen, sehr hohe Vermögen stärker belasten als bisher, denn irgendjemand muss es ja finanzieren und wenn nicht der, der reich ist. Was wir im Moment erleben im Koalitionsvertrag mit der stufenweisen Abschaffung des Solidaritätsbeitrags ist genau das Gegenteil.
    Büüsker: Herr Schneider, wenn ich Ihnen so zuhöre, dann bekomme ich den Eindruck, dass Sie das Sozialsystem in Deutschland alles andere als überzeugend finden. Nun sagt der designierte Gesundheitsminister Jens Spahn, dass wir eines der besten Sozialsysteme der Welt haben. Sie widersprechen ihm?
    Schneider: Da muss man sich die einzelnen Sparten anschauen. Dieses Sozialsystem ist ein sehr komplexes Ding. Ich denke, wo wir ein sehr gutes Sozialsystem haben, ist in der Tat etwa – da hat Herr Spahn völlig recht – bei diesem letzten Fürsorgenetz, was wir haben, dass jeder in Deutschland erst mal, wenn auch nicht vollständig, aber Wohnungen finanziert bekommt, dass er was zu essen bekommt. Nur sagen wir, es ist nicht mehr hinreichend, denn diese Menschen sind wirklich in Existenznot mittlerweile, weil die Sätze so kleingerechnet wurden. Deswegen müssen wir da dringend nachbessern.
    Ich würde Herrn Spahn mal insofern recht geben und sagen: Wenn wir jetzt die Sozialleistungen bedarfsgerecht erhöhen, dann hat er recht.
    "In der SPD sind fast nur Unterstützer der Agenda 2010"
    Büüsker: Nun geht das Arbeits- und Sozialministerium in der neuen Großen Koalition an Hubertus Heil. Er ist ein bekennender Unterstützer der Agenda 2010. Wie optimistisch sind Sie denn, dass sich da etwas verändern wird?
    Schneider: Ich sage mal so: In der SPD sind fast nur bekennende Unterstützer der Agenda 2010 und von Hartz IV, sofern sie damals bereits in Ämtern waren. Das ist jetzt nichts Überraschendes. Wir gehen davon aus, dass Politiker und auch Parteien lernfähig sind. Die SPD hat vielerorts schon eingeräumt, mit der Agenda 2010 hat man übertrieben, man hat Fehler gemacht. Man geht so weit zu sagen, wir müssen diese Gesellschaft wieder zusammenführen. Aber man muss auch sehen: Die SPD ist in dieser Koalition deutlich in der Minderheit.
    Büüsker: Wenn sich nichts ändert mit Blick auf die Bekämpfung von Armut, was bedeutet das dann für den sozialen Frieden? Oder anders gefragt: Wieviel Sprengkraft hat die gesellschaftliche Spaltung?
    Schneider: Wir haben es ja schon bei den letzten Bundestagswahlen gesehen. Die Sprengkraft ist enorm! Insofern, als dass die Menschen tiefst verunsichert sind. Sie brauchen nicht bereits in Armut sein; sie haben Angst vor sozialem Abstieg, gerade mit Blick auf Renten, mit Blick auf Alterssicherung. Sie sorgen sich um ihre Kinder, was soll aus denen mal werden, wenn sie von Hartz IV leben müssen. Das sind zwei Millionen Minderjährige zurzeit, die über Jahre in diesem System sind. Und diese Angst führt dazu, dass sie auch zum Teil leichte Beute werden für Rechtsradikale und rechte Demagogen, und das ist das politische und soziale Problem, mit dem wir es heute in Deutschland zu tun haben.
    Büüsker: … sagt Ulrich Schneider, Präsident des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Herr Schneider, vielen Dank für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk.
    Schneider: Nichts zu danken.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.