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Arthur-Schnitzler-Entdeckung
"Kein Sensationsfund"

Zwei Forscher haben in Cambridge die Novelle "Später Ruhm" von Arthur Schnitzler entdeckt. Die österreichische Literaturwissenschaftlerin Konstanze Fliedl hält das nicht für eine Sensation. Der Text sei schon zuvor erfasst gewesen. Die Novelle sei interessant, aber sie dürfe nicht als "Meisterwerk" verkauft werden, sagte Fliedl im DLF.

Konstanze Fliedl im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich | 10.05.2014
    Der 1931 verstorbene österreichische Schriftsteller und Arzt in einer zeitgenössischen Aufnahme.
    Der 1931 verstorbene österreichische Schriftsteller und Arzt in einer zeitgenössischen Aufnahme. (picture-alliance / dpa)
    Burkhard Müller-Ullrich: Ein europäischer Schriftsteller hat uns diese Woche überrascht, nämlich Arthur Schnitzler. Von ihm kündigt der Zsolnay Verlag eine literarische Sensation an: eine Novelle, "entstanden im Frühjahr 1894, im Nachlass vergessen, jetzt erstmals veröffentlicht: Arthur Schnitzlers frühes Meisterwerk". Nun ja, Meisterwerk ist in der Verlagswerbung alles, das versteht sich von selbst, aber Sie, Konstanze Fliedl, Präsidentin der Arthur Schnitzler Gesellschaft in Wien, Sie haben auch Bedenken in Bezug auf den Neuigkeitswert. Inwiefern ist das eine Mogelpackung?
    Konstanze Fliedl: Ja, dieser Text ist mit sehr vielen anderen noch unpublizierten Texten Schnitzlers, tausenden und abertausenden Seiten, 1938 nach Cambridge verbracht worden, um ihn vor den Nazis zu retten, und seit 1969 gibt es eine Aufnahme, eine Erfassung dieses Nachlasses, und da ist dieser Text selbstverständlich verzeichnet, und seit 1999 gibt es einen Online-Katalog des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, der diesen Text auch verzeichnet. Marbach hat die Bestände Schnitzlers in Cambridge auch erfasst. Das heißt, das ist ein bisschen was anderes, als wenn ich auf einem Dachboden irgendwo einen Koffer finde mit wirklich unbekannten Manuskripten. Von Sensationsfund wird man nicht sprechen können, wenn man es mit einem Text zu tun hat, der seit 45 Jahren bibliographisch erfasst ist und seit 15 Jahren über einen Online-Katalog abgerufen werden kann.
    Aber jetzt kommt noch ein Haken dazu. Wenn Sie in den Nachlassbericht schauen oder in den Online-Katalog des Deutschen Literaturarchivs, dann finden Sie diesen Text tatsächlich nicht unter diesem Titel, und das hat mit folgendem zu tun: Schnitzler hat zu diesem Stoff, dem Stoff von einem alten, vergessenen Dichter, der sich wiederentdeckt glaubt, drei Manuskripte geschrieben. Der eine Text ist sehr kurz und heißt tatsächlich "Später Ruhm". Dann gibt es noch einen weiteren kurzen fünfseitigen Text, ebenfalls nicht publiziert, und dann gibt es den dritten Text, der jetzt ediert worden ist, 209 Seiten, und der trägt allerdings den Titel "Geschichte vom greisen Dichter". Das heißt, auf der einen Seite kann man natürlich meinen, das es den Verlag jetzt unter Marktberücksichtigung dazu getrieben hat, einen Text, der "Geschichte vom greisen Dichter" heißt, unter dem Titel der Entwurfsskizze "Später Ruhm" zu publizieren. Wenn man es nicht so gut meint mit dem Verlag, dann muss man sagen, diese Titelwahl hat damit zu tun, dass man damit verschleiert, dass der Text unter dem richtigen Titel, "Geschichte vom greisen Dichter", jederzeit bibliographisch erfasst werden kann.
    Schnitzler und seine Selbstkritik
    Müller-Ullrich: Heißt das, was Sie gerade sagen, dass der Tagebucheintrag von Schnitzler aus dem Jahr 1894, wo er sagt, "las den späten Ruhm", er nimmt diesen Titel, "Späten Ruhm", "las den späten Ruhm durch, scheint nicht übel gelungen", sagt er da zu sich selbst, dass dieser Eintrag sich auf einen anderen Text als den jetzt gerade publizierten bezieht?
    Fliedl: Nein, das heißt es nicht. Das Problem ist hier, dass nicht alle Eintragungen von Schnitzler ins Tagebuch zu diesem Text aufgenommen oder in der Verlagswerbung berücksichtigt worden sind. Dieser Eintrag stammt vom Dezember 1894. Im Dezember schreibt Schnitzler, "las nachmittags für mich meine Novelle, 'Geschichte von einem alten Dichter', Eindruck hübsch, einige sehr gute Stellen, im ganzen etwas langweilig". Und im Jahr 1895 dann im Mai schreibt Schnitzler, "Meine Novelle, 'Geschichte von einem alten Dichter', zu Ende korrigiert, stellenweise erschrecklich geschrieben". Und im November 1895: "Verstimmt über den greisen Dichter, den ich durchlasse und der mir höflichst missfiel". Alle diese Stellen mussten natürlich unterbleiben, einerseits wegen Schnitzlers Selbstkritik, andererseits, weil hier immer dann der definitive Titel des Manuskriptes genannt worden ist. Schnitzler hat zu Lebzeiten darauf verzichtet, dann diesen Text zu publizieren.
    Interessant ist es, die unterschiedlichen Textstufen nachzuvollziehen
    Müller-Ullrich: Würden Sie sagen, dass dieser Text tatsächlich nicht publiziert werden sollte, weil er nicht gut ist?
    Fliedl: Nein! Nein, das würde ich keinesfalls sagen. Ich würde einerseits sagen, der Text ist in der Tat nicht gut. Andererseits würde ich sagen, das spricht überhaupt nicht dagegen, ihn zu publizieren, und zwar aus folgendem Grund: Es wird in den nächsten Tagen die historisch-kritische Ausgabe von Schnitzlers "Liebelei" erscheinen, herausgegeben von Peter Michael Braunwarth, und da kann man folgendes sehen: Die frühen Textstufen sind tatsächlich so etwas wie eine Art Aufnahme von unglaublich banalen Alltagsgesprächen. Und die nächsten Textstufen, das ist wirklich faszinierend zu beobachten, zeigen dann, wie Schnitzler dieses ganze Geschwätz, wie er überflüssige Motive hinausgeschmissen hat, wie er die Dialoge konzentriert hat, und da kann man sagen, darin besteht die Meisterschaft Schnitzlers. Die ersten Textstufen sind sozusagen Notate von ganz trivialen Alltagsgesprächen, die er aus seiner Umwelt mal aufgezeichnet hat, und was er dann daraus macht, sind ganz klare und psychologisch triftige und sozialkritisch sehr, sehr eingängige Texte. Man müsste sagen, dass die Geschichte vom greisen Dichter sozusagen auf der Stufe dieser ersten Aufzeichnung verharrt, und das zu sehen, ist interessant, aber man darf den Text nicht als Meisterwerk und auch nicht als Sensationsfund verkaufen.
    Müller-Ullrich: Konstanze Fliedl, Präsidentin der Arthur Schnitzler Gesellschaft, vielen Dank für diese kritischen Bemerkungen zum angeblichen Sensationsfund eines angeblich verschollenen Manuskripts.