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ARTI TV
Exil-Sender mit ungewisser Zukunft

Türkische Oppositionelle haben in Köln vor einem Monat den Fernsehsender „Artı TV“ gegründet. Aus dem Exil berichten sie momentan sechs- bis acht Stunden unabhängig und kritisch über die Türkei; die Zukunft Journalisten in Deutschland ist allerdings noch unklar.

von Claudia Hennen |
    Eine Fernbedienung wird am 09.01.2012 in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) in Richtung eines Fernsehers gehalten.
    ARTI TV sendet aus Köln via Satellit in die Türkei (picture alliance / dpa / Caroline Seidel)
    Journalisten demonstrieren in der Istanbuler Innenstadt gegen die Inhaftierung ihres Kollegen Ahmed Şik – diese Bilder flimmern über die Fernseher in einem schmucklosen Regieraum in Köln-Dellbrück. Von hier sendet "Artı TV" via Satellit in die Türkei. "Artı TV" heißt so viel wie "Plus TV", will also journalistisch mehr bieten als die regierungstreuen türkischen Medien. Chefredakteur Celal Başlangıç und sein Assistent Tuncay Doğan wundern sich, dass der Gedenkmarsch nicht niedergeschlagen wurde: "erstaunlich, dass es friedlich geblieben ist."
    Celal Baslangic, Chefredakteur von Arti TV
    Celal Baslangic, Chefredakteur von Arti TV (Deutschlandradio/Claudia Hennen)
    Schwierige Arbeitsbedingungen für Journalisten nach dem Putschversuch
    Über Jahrzehnte war der 61-Jährige Celal Başlangıç ein angesehener Journalist in der Türkei, unter anderem war er Redaktionsleiter bei "Cumhuriyet". Doch nach dem Putschversuch im Sommer vor eineinhalb Jahren wurde es immer schwieriger für ihn dort zu arbeiten. Gegen ihn läuft ein Verfahren. Wie Deniz Yücel und viele andere Journalisten steht auch er unter Terrorverdacht, im Fall einer Verurteilung droht jahrelange Haft:
    "Die Pressefreiheit wird von Tag zu Tag mehr eingeschränkt. Nach dem Putschversuch und dem ausgerufenen Notstand war klar, dass wir keine Chance haben würden einen neuen Nachrichtensender aufzumachen. Und um einen neuen Sender nicht gleich wieder schließen zu müssen, haben wir uns dazu entschieden einen bequemeren Ort zu suchen."
    "Artı TV" sendet mit einem sechs bis achtstündigen Programm aus Köln
    In einem Industriegebiet im rechtsrheinischen Stadtteil Dellbrück mietete er sich mit seinem Team in den Räumen des alevitischen Senders TV10 ein, auch dieser ein Sender im Exil. Am 17. März startete "Artı TV" mit einem sechs- bis achtstündigen Programm, das neben Nachrichten vor allem lange Interviews und Debatten ausstrahlt. In der restlichen Zeit wird das Programm, das auch im Internet gestreamt wird, wiederholt. Bestimmendes Thema ist, kaum verwunderlich, das Referendum. Ein kritischer Spot läuft in Dauerschleife: Menschen halten Schilder in die Kamera, auf denen hayır – türkisch für Nein - steht. Celal Başlangıç ist optimistisch, dass Erdogan sein Präsidialsystem nicht durchsetzen wird:
    "Wenn die derzeitigen Prognosen stimmen, so werden die meisten gegen das Referendum stimmen. Etwa 17 Prozent der Bevölkerung sind unentschlossen. Und ich glaube, dass der größere Teil von ihnen sich einfach nicht traut in der Öffentlichkeit zuzugeben, dass sie dagegen sind. Mich würde daher nicht wundern, wenn die Mehrheit gegen das Referendum stimmen wird."
    Türkische Unternehmer unterstützen "Artı TV"
    Etwa zwanzig Journalisten arbeiten für "Artı TV" in Köln, überwiegend Türken, aber auch einige türkischstämmige Deutsche. Unterstützt werden sie von einem Dutzend freier Korrespondenten aus Ankara, Istanbul und Diyarbakir sowie regierungskritischen Akademikern und Abgeordneten, viele aus dem linkspolitischen und pro-kurdischen Milieu. Etwa 100 Tausend Euro Starthilfe hat der Exil-Sender von der niederländischen Stiftung Artı Media erhalten. Sie wird von türkischen Unternehmern finanziert, denen Medienvielfalt am Herzen liegt. Ob sie auch künftig den Sendebetrieb sichern, ist jedoch unklar.
    "Eine langfristige Finanzierung haben wir derzeit nicht. Jeder hier bringt große Opfer auf: wir arbeiten für wenig Geld, eine Person übernimmt die Arbeit von vier. Wir müssen langfristig Sponsoren und Partner finden. Geschäftsleute und Demokraten aus der Türkei wollen uns auch unterstützen, da sind wir dran."
    "Artı TV" unterscheidet sich von anderen türkischen Sendern
    Die 28-Jährige Neslihan Ketboga ist eine der wenigen Redaktionsmitglieder, die fließend Deutsch spricht und die einzige im Nachrichtenteam, die Kopftuch trägt. Die studierte Übersetzerin ist in Deutschland aufgewachsen. Was ist jetzt das Besondere daran, hier zu arbeiten?
    "Dass ich weiß, dass es einer der einzigen Sender ist, das zeigt, was man sonst in den türkischen Sendern nicht mitbekommt. Hier bekommen andere auch eine Stimme. Es freut mich, ein Teil davon zu sein", sagt Ketboga.
    Neslihan Ketboga vom Nachrichtenteam bei Arti TV in Köln
    Neslihan Ketboga vom Nachrichtenteam bei Arti TV in Köln (Deutschlandradio/Claudia Hennen)
    Wie viele Zuschauer "Artı TV" erreicht, kann Celal Başlangıç nicht sagen, nur, dass sein Sender via Satellit Hotbird weit in das türkische Hinterland und die kurdisch-sprachigen Gebiete ausstrahlt. Für das Referendum zählt jede Stimme. Die Stadt Köln hat den türkischen Journalisten von "Artı TV" großzügig eine sechsmonatige Arbeitserlaubnis erteilt. Aber danach? Başlangıç hofft, eines Tages wieder in seiner Heimat arbeiten zu können - anstatt nun notgedrungen aus einem Industriegebiet im Osten Kölns zu berichten.