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Asse, der Krebs und die Statistik

Das Umweltministerium in Niedersachsen hat bestätigt, dass es im Umfeld des maroden Atomlagers Asse bei Wolfenbüttel mehr Fälle von Leukämie als anderswo gibt. Man müsse sehr genau hinschauen, was überhaupt passiert sei und die Statistik genau betrachten, sagt Wissenschaftsjournalistin Dagmar Röhrlich.

Dagmar Röhrlich im Gespräch mit Dirk Müller | 26.11.2010
    Dirk Müller: Die Kernkraftgegner fühlen sich bestätigt, die Befürworter schütteln ungläubig mit dem Kopf. Nach Recherchen des NDR gibt es im Umfeld des maroden Atomlagers Asse bei Wolfenbüttel mehr Fälle von Leukämie als anderswo. Dies hat das Umweltministerium in Niedersachsen bestätigt. Die Ursache für die höhere Zahl der Krebserkrankungen ist aber noch nicht geklärt. Bei mir im Studio ist nun die Wissenschaftsjournalistin Dagmar Röhrlich. Wie stichhaltig ist das alles?

    Dagmar Röhrlich: Man kann das im Grunde genommen noch nicht sagen. Ich habe eben noch mit Experten der Strahlenschutzkommission telefoniert und die meinen, wir müssten uns diese Statistik erst einmal ansehen. Mit der Epidemiologie dieser Medizinstatistik ist das immer so eine Sache. Je nachdem wie ich Landkreise, die ich betrachte, oder in dem Fall ist ja noch kleiner runtergebrochen worden auf eine Samtgemeinde, auf 10.000 Menschen, je nachdem wie ich da die Statistik drüberlege, kann ich alles Mögliche herausbekommen. Das macht die Sache so schwierig, jetzt schon zu sagen, es ist das los oder jenes los.

    Müller: Dennoch sind die meisten ja jetzt beunruhigt. Zurecht?

    Röhrlich: Ich wäre auch beunruhigt, wenn ich jetzt da wohnen würde. Man muss jetzt sehr genau hinschauen, was ist überhaupt passiert. Man weiß nicht, waren es Mitarbeiter der Asse, die jetzt beispielsweise bei den Männern in die Statistik reinschlagen. Es ging 2009 durch die Presse, dass mehrere Mitarbeiter der Asse an Krebs erkrankt sind. Fallen die jetzt darunter? Wann sind sie an Krebs erkrankt? Was sind das für Krebse? Das muss man dann alles einmal genau anschauen. Auf der anderen Seite ist es so, wenn man sich jetzt den Jahresbericht anschaut von 2002, 2005 oder jetzt den jüngsten, 2006, 2007, dann stellt man plötzlich fest, dass andere Landkreise durchaus auch bei diesen Leukämien oder Schilddrüsenkrebsen im früheren Zeitraum höhere Fälle haben, höhere Neuerkrankungen haben als Wolfenbüttel beziehungsweise dieser gesamte Landkreis in dieser Gegend. Es ist also sehr schwierig zu sagen, was ist da wirklich los.

    Müller: Umgekehrt könnte man sagen, kann auch alles Zufall sein?

    Röhrlich: Es kann Zufall sein. Die Erkrankungen sind ja da, aber es kann ein statistischer Effekt sein – das ist immer möglich bei der einen Sache – und es kann sein, dass Leute zugezogen sind. Man weiß nicht, waren es starke Raucher, wie sind die Lebensumstände. Das sind alles Sachen, die geklärt werden müssen, um so eine Medizinstatistik wirklich sauber zu führen. Das ist sehr aufwendig und man muss viele verschiedene Risiken betrachten. Man weiß beispielsweise, dass in der Nähe von Weihnachtsbaumzuchtanlagen die Leukämie und die Lymphome erhöht sind. Das heißt, es gibt erhöhte Krebszahlen dort in der Umgebung von solchen großen Plantagen, weil da sehr viel diverse Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden. Das sind alles Sachen, die müssen betrachtet werden. Eine Krebsstatistik ist etwas ungeheuer kompliziertes und deshalb meinten ja auch dann die Journalisten beziehungsweise die Pressereferenten auf der Pressekonferenz heute, dass man da jetzt noch Monate brauchen wird, ehe man das wirklich herausbekommen hat.

    Müller: Wir haben in den vergangenen Jahren, Dagmar Röhrlich, ja schon häufiger über Strahlenschädigungen beziehungsweise über die Risiken von Strahlen gesprochen. Kinderkrebsstudien hat es auch gegeben, gleich mehrere in den letzten zehn Jahren. Da gab es auch immer den Vorwurf, Kinder, die in der Nähe von Atomkraftwerken beispielsweise leben, haben ein höheres Risiko, Krebs zu bekommen. Was ist daraus eigentlich geworden?

    Röhrlich: Man weiß, bei Krümmel gibt es eine unerklärliche Häufung von Leukämiefällen bei Kindern – unerklärlich insofern, als dass die Experten sagen, wir haben das Kernkraftwerk Krümmel genau untersucht, wir haben die in der Nähe gelegene Forschungsanlage GSF Geesthacht genau untersucht und haben bei beiden nie etwas gefunden, dass so viel herausgekommen wäre an Strahlung, dass diese Krankheiten hervorgerufen werden könnten. Das wird auch jetzt im Moment für Wolfenbüttel gesagt. Aber das heißt natürlich nicht, dass diese Krankheiten vom Himmel gefallen sind. Irgendetwas muss sie ausgelöst haben. Nur man kann keinen statistischen Zusammenhang herstellen, es können auch ganz andere Faktoren sein, die eine Rolle spielen. Es hat eine Kinderkrebsstudie gegeben vergangenes Jahr, die untersucht hat, wie sind die Leukämiefälle verteilt um Atomkraftwerke, und man hat dann festgestellt, dass in einem Umkreis von fünf Kilometern um ein Kernkraftwerk herum bei Kleinkindern verstärkt Leukämie auftritt. Wenn man jetzt einen Umkreis von zehn Kilometern betrachtet, war der Effekt schon wieder weg. Man kann es sich nicht erklären, man sieht es, aber wie die Zusammenhänge sind, weiß niemand.

    Müller: Bei uns im Studio Wissenschaftsjournalistin Dagmar Röhrlich. Vielen Dank.