Sonntag, 05. Mai 2024

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Knappes Rennen bei US-Wahl
"Lange Tradition, bei Meinungsumfragen nicht die Wahrheit zu sagen"

In den Umfragen vor der US-Wahl lag der demokratische Kandidat Joe Biden vorn - doch US-Präsident Donald Trump schneidet tatsächlich besser ab als erwartet. Viele Trump-Wähler würden sich in Meinungsumfragen nicht als solche zu erkennen geben, sagte der Politikwissenschaftler Markus Kaim im Dlf.

Markus Kaim im Gespräch mit Philipp May | 04.11.2020
Markus Kaim, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
Markus Kaim ist Politikwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (foto-swp)
Markus Kaim arbeitet als Politikwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik und war bis vor Kurzem als Stipendiat des German Marshall Fund zu Forschungszwecken in Washington DC.
Philipp May: Herr Kaim, was machen Sie mit den Ergebnissen der US-Präsidentschaftswahl soweit?
Markus Kaim: So richtig einen Reim kann man sich nicht darauf machen. Die Spaltung des Landes, die Polarisierung entlang der parteipolitischen Bruchlinien hat sich jetzt auch in dem Wahlergebnis manifestiert. Es gibt zwar einige ermutigende Signale aus demokratischer Sicht, aber man muss festhalten, dass zumindest keiner der Staaten, die Donald Trump 2016 gewonnen hat, bisher gefallen ist, wenn ich das so sagen darf, und dementsprechend gibt es, glaube ich, im Moment noch wenig Anlass zur Hoffnung.
Menschen füllen in den USA ihre Wahlzettel aus
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"Hoffnung der Demokraten liegt auf Südwesten"
May: Die Sunbelt-Staaten, Florida, vor allen Dingen auch Georgia und North Carolina, die waren ja Staaten, wo sich Joe Biden und wo sich die Demokraten per se grundsätzlich erhoffen, dass es da langsam einen Wandel hin von den Republikanern zu den Demokraten gibt. Ist das eigentlich nur eine Schimäre? Das hören wir jetzt schon so lange.
Kaim: Zumindest hat es nicht so funktioniert, wie sich das viele erhofft hatten. Gerade Georgia und auch North Carolina zu einem gewissen Grad waren genau die Staaten, wo man darauf gesetzt hatte, dass aufgrund nicht zuletzt ihres farbigen Bevölkerungsanteils sie tatsächlich sich jetzt Joe Biden zuwenden würden. Er galt in besonderer Art und Weise als Protagonist der demokratischen Stärke in den Südstaaten. Das hat sich einfach nicht bewahrheitet.
Was wir jetzt mal abwarten müssen – da setzen die Demokraten ja große Hoffnungen drauf: Dass sie im Südwesten der USA noch etwas erringen können. Sie denken an Arizona und Nevada, die traditionell oder zumindest seit 25 Jahren auch republikanisch gewählt haben, aber aufgrund des demografischen Wandels doch viele junge Familien, liberale Wähler angezogen haben. Da ist zumindest die begründete Erwartung da, vielleicht einen der beiden Bundesstaaten holen zu können.
Wählerinnen und Wähler am 30. Oktober 2020 in einer Schlange vor einem Wahllokal im kalifornischen Yorba Linda, USA
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May: Wobei Nevada ja fast ein Must-Win-Staat für Joe Biden ist, weil den hat Hillary Clinton ja 2016 mit Las Vegas als großer demokratischer Hochburg schon gewonnen. Da geht wahrscheinlich kein Weg dran vorbei.
Kaim: Da führt kein Weg dran vorbei. Das wird aber nicht reichen. Er muss tatsächlich einen zweiten noch holen und die Optionen, die er hat, werden, sollte sich das mit Georgia und North Carolina nicht bewahrheiten, immer weniger werden.
Das Bild zeigt die amerikanische Flagge, Dossier zur US-Wahl 2020 
Ein Überblick zur US-Wahl in unserem Dossier (picture alliance / Wolfram Steinberg)
"Auseinanderfallen von Meinungsumfragen und Wahlergebnis"
May: Eine Frage, die jetzt auch häufiger in den US-Medien diskutiert wird mit Blick auf die Meinungsumfragen, die ja sehr rosig für Joe Biden aussahen: Ob es den verstecken Trump-Wähler gibt, der sich nicht traut, das zuzugeben, aber dann am Ende doch in großer Zahl nicht für Joe Biden, sondern für den Präsidenten das Kreuz macht?
Kaim: Absolut! Ich glaube, die Erklärung ist völlig richtig. Das würde sich auch decken mit einer langen Tradition in der amerikanischen Politik, bei Meinungsumfragen nicht die Wahrheit zu sagen oder zumindest die Wahrheit nicht in der Deutlichkeit zu sagen. Dann erklärt man sich als unabhängig oder als unentschieden. Aber wir stellen fest, dass ein Wesen von populistischen Politikern ist, dass sie in der öffentlichen Meinung nicht beliebt sind, oder dass man sich nicht öffentlich zu ihnen bekennt. Ich gehe davon aus, dass hier genau wieder der Fall gewesen ist, dass bei Meinungsumfragen viele Wählerinnen und Wähler gesagt haben, ich möchte nicht mich öffentlich zu Donald Trump bekennen, das ist inopportun oder unangemessen, und dementsprechend mache ich mein Kreuzchen in der Wahlkabine. Dieses Auseinanderfallen von Meinungsumfragen und Wahlergebnis deutet sich jetzt wieder an.
"Keine Indizien für gemäßigteres Auftreten Trumps"
May: Wir spekulieren natürlich noch nur an diesem frühen Punkt. Viele Staaten sind noch völlig offen, die Auszählungen, die wahlentscheidend sind. Dennoch: Angenommen, Trump würde wiedergewählt, glauben Sie, er würde seine Politik an irgendeiner Stelle ändern? Was würde vier Jahre Donald Trump noch mal obendrauf bedeuten?
Kaim: Es gibt eine Reihe von Politikern oder Präsidenten, die in ihrer zweiten Amtszeit gemäßigter aufgetreten sind. Ich denke an Ronald Reagan, der in seiner zweiten Amtszeit das Ende des Ost-West-Konflikts verhandelt hat. Oder auch George W. Bush, der nach dem Irak-Krieg während seiner ersten Amtszeit in der zweiten Amtszeit gemäßigter oder in europäischer Lesart multilateraler aufgetreten ist. Dafür gibt es keine Indizien bei Donald Trump. Ich sehe auch keinen Anlass, das zu glauben. Dementsprechend im Bereich der Außenpolitik würde ich sagen: vier Jahre "more of the same", vier Jahre weiteres Misstrauen gegenüber internationalen Organisationen, internationalen Vertragswerken, traditionellen Partnern, und ein Betonen von bilateralen Beziehungen. Im Bereich der Innenpolitik gibt es eine ganze Reihe von Punkten, die noch nicht abgearbeitet sind aus dem Wahlkampf 2016. Ich denke zum Beispiel an den Bau der Mauer oder des Zauns an der Südgrenze zu Mexiko. Der ist noch nicht abgeschlossen. Und tatsächlich eine innere Reform oder Transformation der amerikanischen Gesellschaft hin in gemäßigt eher konservative Ordnungsvorstellungen, das würde sich wahrscheinlich alles weiter fortsetzen. Ich sehe keinen Anlass zu glauben, dass eine Art Pendelschlag zurückgehen würde.
Wahlveranstaltung mit US-Präsident Donald Trump am 30. Oktober 2020 in Rochester, Minnesota
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"Biden hätte erstmal innenpolitische Prioritäten"
May: Nur um das noch mal klarzustellen: Ein Sieg von Joe Biden ist an dieser Stelle der Wahlnacht zumindest genauso wahrscheinlich. Was würde es bedeuten, wenn Joe Biden das Weiße Haus übernehmen würde?
Kaim: Wir hätten zumindest einen Präsidenten, der sich auf die Fahnen geschrieben hat, das Land wieder zu einigen. Es gehört zum guten Ton, nach jeder Wahlnacht ruft der Sieger zur Einheit des Landes auf, betont, dass jetzt die Zeit sei, die Wunden zu heilen, die Gräben zuzuschütten, jetzt wieder Brücken zu bauen. Davon bleibt in der Regel wenig übrig. Zumindest von seiner Persönlichkeit, von seinem Auftreten als eines Mannes des Maßes oder der Mitte, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass Joe Biden eher mit dieser Agenda antreten würde, die Polarisierung oder Spaltung des Landes vielleicht nicht zu beseitigen, aber doch abzumildern. Im Bereich der Innenpolitik gibt es eine ganze Reihe von Baustellen, die oben aufliegen würden. Das wäre vor allen Dingen die Transformation der amerikanischen Gesellschaft nach der COVID-Krise. Stichworte wären hier die Reform des Gesundheitssystems, die Abfederung der ungleichen Einkommensverteilung, Einführung des Mindestlohns oder Erhöhung des Mindestlohns, muss man ja sagen, und eine Reihe von anderen Baustellen. Aber zumindest klar ist, dass auch ein Joe Biden, der von seiner Vita her in weiten Teilen Außenpolitiker gewesen ist, erst einmal innenpolitische Prioritäten hätte.
May: Ist dieser Graben überhaupt von irgendeinem Politiker noch zuzuschütten?
Kaim: Das ist die Frage aller Fragen. Mein Eindruck ist, dass die Polarisierung oder Spaltung des Landes ein solches Ausmaß angenommen hat, dass mir nicht einfällt, dass ein einzelner Politiker mit einem Federstrich diese Polarisierung, die sich über 20, 25 Jahre herausgebildet hat, beseitigen könnte. Das ist, glaube ich, ein Generationenprojekt und vor allen Dingen ist es ein Projekt nicht für einen Politiker oder eine Politikerin, sondern für die gesamte politische Klasse. Weil das ist ja deutlich geworden in den letzten vier Jahren: Nicht nur die politische Klasse ist polarisiert, sondern diese Polarisierung hat die ganze amerikanische Gesellschaft infiziert. Und diese Polarisierung drückt sich jetzt auch in diesen Wahlergebnissen aus in vielen Bundesstaaten, wo es Spitz auf Knopf steht, wo nicht nur der Bund, sondern auch einzelne Bundesstaaten nahezu in der Mitte geteilt sind.
"Wahlvorgang technisch gut abgelaufen"
May: Zu einer Polarisierung der politischen Klasse gehört auch, dass viele befürchten, dass diese Wahl am Ende gar nicht unbedingt von den Wählern entschieden wird, sondern vor Gerichten. Wie real wird dieses Szenario?
Kaim: Ich bin, muss ich sagen, bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt positiv überrascht – aus zwei Gründen. Erstens: Der Wahlvorgang im technischen Sinne scheint sehr gut abgelaufen zu sein. Und da waren wir nicht sicher, weil Wahlen unter Corona-Bedingungen mit der großen Zahl von Briefwahl-Stimmen hatten zumindest Anlass gegeben, Fragen zu stellen, ob die amerikanischen Countys und Bundesstaaten so gut organisiert sein würden, um das zu organisieren. Offensichtlich waren sie es!
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Zum zweiten, was mich positiv stimmt, ist, dass etwas unterblieben ist, was wir auch befürchtet haben: politische Gewalt im Kontext von der Wahlnacht. Dass Anhänger der einen oder anderen Partei, ich denke aber eher vor allen Dingen an die Republikaner, angestachelt und ermutigt vom Präsidenten, zu Gewalt greifen. Auch das scheint unterblieben zu sein. Das heißt, was ich damit sagen will: Das politische System ist vielleicht polarisiert, aber die Wählerinnen und Wähler sind doch reifer, als man gemeinhin glaubt.
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