Archiv


Aus dem Labor in das Rückenmark

Medizin. - Embryonale Stammzellen gelten als Heilsbringer, geht es um bislang unheilbare Leiden wie Parkinson, Alzheimer oder Querschnittlähmungen. Jetzt will ein US-Biotech-Unternehmen Stammzellen direkt an Patienten einsetzen.

Von Michael Lange |
    Embryonale Stammzellen des Menschen gelten als Hoffnungsträger Nummer eins für die Medizin der Zukunft. Wenn es um die Einsatzmöglichkeiten geht, ist immer wieder von der Parkinson-Krankheit, der Alzheimerschen Erkrankung und von Rückenmark-Verletzungen die Rede. Nun sollen die embryonalen Stammzellen erstmals am Menschen getestet werden, und zwar bei Rückenmarkverletzten. Das hat die US-amerikanische Firma Geron jetzt angekündigt. Dazu der Geschäftsführer des Unternehmens Thomas Okarma.

    "Bei unserem Produkt handelt es sich um lebende Zellen, die wir aus menschlichen embryonalen Stammzellen hergestellt haben. Es sind die gleichen Zellen, mit denen wir Rückenmarkverletzungen bei Tieren behandelt haben. Im nächsten Jahr werden wir sie zur Behandlung von querschnittgelähmten Patienten einsetzen."

    Ursprünglich war der erste klinische Einsatz der Zellen bereits für dieses Jahr geplant. Nun heißt es bei Geron: Im ersten Quartal 2008 geht es los. Das Risiko von Nebenwirkungen wie Tumoren oder Abstoßungsreaktionen durch das körpereigene Immunsystem seien gering, betont Thomas Okarma. Denn es würden nicht embryonale Stammzellen direkt in die Patienten gespritzt, sondern Zellen, die aus embryonalen Stammzellen hervor gegangen sind: So genannte Gliazellen. Sie umhüllen die Nervenzellen, schützen und ernähren sie. Und sie isolieren die Nervenfasern.

    "Bei Rückenmarkverletzungen sind die Nerven in der Regel nicht durchschnitten. Aber die Gliazellen sterben ab. Die Nerven verlieren ihre Isolierung und können die Nervensignale nicht mehr übertragen. Deshalb sind die Betroffenen von ihrer Verletzung abwärts gelähmt. Die Zellen, die wir herstellen, werden direkt in die Verletzungsstelle hineingespritzt. Dort leben sie weiter und stellen die zerstörte Isolierung der Nerven wieder her."

    Vielen Stammzellenforschern geht das zu schnell. Sie würden gerne weitere Laborexperimente abwarten, bevor der Schritt in die Praxis gewagt wird. Oliver Brüstle vom Institut für rekonstruktive Neurobiologie der Universität Bonn:

    "Ich halte das für früh, für zu riskant. Wenn hier auch nur in wenigen Fällen Schwierigkeiten auftreten, könnte das nachteilige Auswirkungen für die Patienten haben, gleichzeitig aber auch nachteilige Auswirkungen für das Forschungsfeld, wenn eine Technologie zu früh in die Anwendung gepresst wird, bevor alle Zwischenschritte systematisch durchlaufen worden sind."

    Dazu gehören Experimente an Affen, die eher mit dem Menschen vergleichbar sind als die bisher als Versuchstiere dienenden Ratten. Thomas Okarma betont hingegen: Alle Probleme seien gelöst. Die Tierversuche an Ratten hätten eindeutig gezeigt, dass die verwendeten Zellen keine embryonalen Tumore, so genannte Teratome, bilden. Auch Abstoßungsreaktionen des Immunsystems der Patienten gegen die fremden Zellen erwartet er nicht.

    "Im Tierversuch haben wir keine Immunreaktion gegen die menschlichen Gliazellen beobachtet. Die ursprüngliche Idee war ja, dass man für jeden Patienten individuelle Stammzellen herstellen muss: Durch Zellkerntransfer, das so genannte "Therapeutische Klonen". Diese Annahme hat sich als falsch erwiesen, wegen der besonderen Eigenschaften der embryonalen Stammzellen. Das gilt auch für alle Zellen, die aus ihnen hervorgegangen sind. Sie werden vom menschlichen Immunsystem nicht als fremd erkannt. Der Kerntransfer ist deshalb für diese Therapie völlig unnötig."

    Thomas Okarma ist sich sicher: alle Voraussetzungen für den Schritt zum Menschen sind gegeben. Das letzte Wort hat freilich nicht die Firma Geron, sondern die amerikanische Zulassungsbehörde, die Food and Drug Administration, FDA. Ende des Jahres wird sie über den Antrag von Geron entscheiden.