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Auschwitz-Birkenau
VW-Fortbildung am Ort des Grauens

Im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau sind über eine Millionen Menschen durch die Nazis ermordet worden. Seit über 20 Jahren bietet der deutsche Volkswagen-Konzern seinen Auszubildenden einen zweiwöchigen Arbeitseinsatz vor Ort an. Für die jungen Erwachsenen eine Beschäftigung mit der Geschichte des Lagers, die sich einprägt.

Von Sabine Adler | 01.10.2014
    Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau.
    Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. (picture alliance / dpa / CTK / Tesinsky David)
    Drei Mädchen strecken die Arme klagend empor, mühsam schleppen sie sich vorwärts, gebeugt unter einer scheinbar zentnerschweren Last von Trauer, Qual und Verzweiflung.
    Etwa 40 Jugendliche sehen dem Tanz zu, auf dem Betonboden sitzend vor dem Denkmal im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Sie erheben sich, nehmen Haltung an. Israelflaggen über den Schultern, um die Hüften.
    Simon Schönlebe und Johanna Zeisler verfolgen die Gedenkfeier der israelischen Schüler von Weitem. Sie stehen am Stacheldrahtzaun des Frauenlagers Auschwitz-Birkenau. Beide tragen graue Arbeitsanzüge, haben Kneifzangen in den Händen. Ein ganzes Bündel kurzer blanker Drähte steckt in den Brusttaschen ihrer Jacken. Beide, Anfang 20, gehören zu einer Gruppe Auszubildender, die 14 Tage lang in Auschwitz arbeiten, im Auftrag von Volkswagen.
    "Sie arbeiten vormittags und nachmittags machen sie mit mir als dem Vizepräsidenten des Internationalen Auschwitzkomitees ein Besichtigungs- und Begegnungsprogramm. Die gehen mit mir hier durchs Gelände, hören, was gewesen ist, verstehen die Logistik dieses Ortes. Das ist keine Mörderhöhle, sondern eine logisch aufgebaute Fabrik. Nur die produzierte nichts Wertbeständiges, sondern Leichen. Die Jugendlichen weinen hier zusammen, sind aufgeweckt in ihrer Empathie für die Geschichte der Menschen, die damals so alt waren wie sie und gleichzeitig sollen sie eine Leichtigkeit zu bewahren, das wollen die Überlebenden auch."
    Erklärt Christoph Heubner. Simon Schönlebe, der in Zwickau im dritten Ausbildungsjahr schon am Fließband den neuen Golf montiert, spannt seit Tagen kilometerweise Stacheldraht, knipst den alten, noch von den Nazis verlegten von den Betonpfeilern, zieht den glänzend neuen auf.
    Reparaturarbeiten in der Gedenkstätte
    "Als Erstes nehmen wir hier eine Kneifzange. Dann ein kleines Stück Draht. Das ist so ein Aluminiumdraht. Ich mache den hier einmal so rum. Dann macht man hier eine Wicklung, dann hier noch eine Wicklung, dann ist der Draht fest. Dann hält das wieder ordentlich, wie es eigentlich sein soll."
    Über 13 Kilometer Zaun sind zu reparieren, in je 20 Bahnen wurde der Stacheldraht zwischen die Pfeiler gespannt, 3000 Pflöcke insgesamt.
    Simon:
    "Wir haben es schon gemerkt: Wenn wir jetzt kräftig drücken würden, würde der Draht einfach durchbrechen. Einfach, um dem vorzubeugen, wird das neu gemacht. Denn es sollte auch den Menschen danach die Möglichkeit geben: So etwas sollte nie wieder sein, nie wieder passieren. Einfach, um das in die Köpfe zu rufen. Ich behaupte, dass jeder, der hier mal gewesen ist, von der ganzen Sache ein ganz anderes Denken hat und das auch wirklich begreift, jedenfalls ein Stück weit. Ganz begreifen lässt sich das nicht, bei der Grausamkeit, aber zumindest ein Stück weit."
    Johanna:
    "Ich hätte nie eingeschätzt, dass das so groß hier ist und es so viele Meter Zaun hier gibt, die erneuert werden müssen. Also es gibt immer etwas zu tun und deshalb ist das eine verdammt wichtige Sache, für die man sich gerne engagiert. Ich würde es schlimm finden, wenn man das hier verrotten lassen würde, da man sieht, wie viele Besucher hier anreisen und dass viele Blumen mitbringen. Uns wird immer gesagt, dass es für die Überlebenden das größte Geschenk ist, das es nicht vergessen wird. Das ist eigentlich das Schlimmste für die, die es überlebt haben."
    Jedes Detail ist schlimm genug
    Über 1500 Auszubildende haben schon in Auschwitz gearbeitet, eine Gruppe entdeckte die Bodenplatte der Baracke, in der Zwillinge untergebracht waren, an denen der berüchtigte Arzt Josef Mengele seine Experimente durchführte. Zwei Wochen hören die Azubis vom allgegenwärtigen Grauen, jedes einzelne Detail ist schlimm genug, sagt Johanna Zeisler.
    "Zu kauen hat man an jeder Geschichte, die uns erzählt wird. Wir arbeiten ja mit Geschichten von Überlebenden, die Herr Heubner getroffen hat. Am eindrucksvollsten ist es, dass man alles in echt sieht, nicht wie sonst nur auf Bildern. Wo ich die größte Gänsehaut hatte, war, als wir im Auschwitz-1-Lager in dem Todeshof waren. Wo wirklich alle Fenster zugemauert waren, die Leute dort umgebracht wurden und die Leute, die das gleiche Schicksal erwartet hat, da waren die Fenster offen und sie musste zugucken, was gleich auch mit ihnen passiert. So etwas Schlimmes hat man so hautnah noch nie erlebt."
    VW stellt sich seiner Zwangsarbeiter-Vergangenheit, organisiert seit 1965 den Jugendaustausch an allen Standorten, auch weil die Belegschaft anfangs meist aus Vertriebenen und Gastarbeitern bestand. Das Ausbildungsziel: Mobile und tolerante Beschäftigte, die international Verantwortung übernehmen, politisch sicher im Urteil sind. Anders als bei der Auto-Produktion kommt es in Auschwitz nicht auf das messbare Produkt, die Länge des neuverlegten Stacheldrahts an. Ausbilderin Andrea Vogelsang:
    "Jeder macht sich bei der Arbeit Gedanken. Wir sehen oftmals, dass die jungen Leute dort stehen – obwohl sie immer so cool wirken und das sind sie ja auch – dann in sich gehen, sinnieren. Da lassen wir sie in Ruhe. Wenn wir aber merken, dass sie mit etwas nicht zurechtkommen, sprechen wir darüber."