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"Welche wissenschaftliche Idee ist reif für den Ruhestand?"

In den 1960ern war er Aktionskünstler, heute ist er Literaturagent in New York, sein Spezialgebiet: Ideen renommierter Wissenschaftler unters Volk zu bringen. Dabei ist John Brockman schon 76 Jahre alt, alt genug eigentlich für ein wenig Ruhe. Doch die will er nicht. Lieber gibt er ein neues Buch heraus, und schreibt die Frage, die ihn umtreibt, gleich in den Titel: "Welche wissenschaftliche Idee ist reif für den Ruhestand?"

Von Katrin Zöfel | 17.02.2016
    Blaue Mülltonnen mit gelben Säcken
    Ist das Wissenschaft oder kann das weg? (deutschlandradio.de / Daniela Kurz)
    "Nur wenige wirklich neue Ideen werden entwickelt, ohne dass man zuerst ältere aufgibt. Mit anderen Worten, die Wissenschaft schreitet durch eine Reihe von Begräbnissen voran. [Doch] warum so lange warten? Welche etablierte wissenschaftliche Idee ist reif dafür, beiseitegeschoben zu werden, damit die Wissenschaft voranschreiten kann? "
    Mehr als 170 namhafte Wissenschaftler haben John Brockman diese Frage beantwortet. Die New Yorker Krebsforscherin Azra Raza plädiert zum Beispiel dafür, endlich auf Experimente mit Mäusen zu verzichten, denn die sagen, davon ist sie überzeugt, nichts über Krebs beim Menschen aus. Der Genetiker Eric Topol fordert, die Idee über Bord zu werfen, jede Zelle eines Organismus trüge die gleiche genetische Information. Der britische Astrophysiker Martin Rees erinnert daran, dass auch die unermüdlichste Wissenschaft nicht alle Rätsel wird klären können. Und der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger schlägt vor, das Konzept "kognitiver Täterschaft", wie er es nennt, endgültig in Rente zu schicken.
    "Denken ist nicht etwas, was man tut. Meistens widerfährt es einem. Aktuelle Forschungen zum Phänomen der abschweifenden Gedanken zeigen eindeutig, wie beinahe alle von uns während mehr als zwei Drittel unseres bewussten Lebens keine Kontrolle über unsere bewussten Denkprozesse haben."
    Jeder Wissenschaftler greift sich heraus, was ihm oder ihr unter den Nägeln brennt. Und gleich mehrere Forscher stellen infrage, was im täglichen Wissenschaftsbetrieb eigentlich als Goldstandard gilt: nämlich Experimente statistisch auszuwerten und zu beurteilen. In der ritualisierten Frage nach statistischer Signifikanz etwa erkennt Gerd Gigerenzer vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung schon wahnhafte Züge:
    "Die Zahl '5 Prozent' gilt als heilig und sagt uns angeblich etwas über den Unterschied zwischen einem wirklichen Effekt und zufälligem Rauschen. Bei fMRI-Untersuchungen [also Hirnscans] werden die Zahlen durch Farben ersetzt, und vom Gehirn wird behauptet, dass es aufleuchtet. Die Wahnvorstellungen sind frappierend."
    Der amerikanische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi schließlich macht es kurz:
    "Was in der Ruhestand geschickt werden muss, ist der Glaube, dass das, was Wissenschaftler sagen, objektive Wahrheiten sind, [...]."
    Zielgruppe
    Alle, die gerne querbeet durch sämtliche Wissensgebiete streifen.
    Erkenntnisgewinn
    Die Wissenschaft steckt voller Ideen und Konzepte, die sich abnutzen, überholt werden und manchmal einfach schrottreif sind.
    Spaßfaktor
    Brockman liefert einen Blick hinter die Kulissen. Der Leser darf Astrophysikern, Philosophen, Genetikern und Bildungsforschern beim Denken zuschauen. Das ist erhellend und ausgesprochen unterhaltsam.
    John Brockman (Hrsg.): "Welche wissenschaftliche Idee ist reif für den Ruhestand? Die führenden Köpfe unserer Zeit über die Ideen, die uns am Fortschritt hindern"
    637 Seiten, 13,99 Euro, Fischer Verlag