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Bahr mahnt Westbindung Russlands an

Der frühere SPD-Spitzenpolitiker Bahr hat die Bedeutung der Anbindung Russlands an westliche Werte hervorgehoben. Bundeskanzler Schröder wisse, dass Präsident Putin nur noch drei Jahre an dieser Stelle stehe, sagte Bahr. Es sei zu hoffen, dass bis dahin die Weichen so gestellt seien, dass der Zug nicht mehr aus den Gleisen laufen könne.

Von Peter Lange | 09.05.2005
    Peter Lange: 60. Jahrestag der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945. Gestern ist in Berlin an das Kriegsende erinnert worden. Heute am 9. Mai begeht Russland den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland. Mehr als 50 Staats- und Regierungschefs sind deshalb auf Einladung des russischen Präsidenten Putin nach Moskau gereist, unter ihnen auch Bundeskanzler Schröder und zu dessen Delegation gehören erstmals auch Veteranen und junge Leute, die sich mit russischen Altersgenossen treffen werden, womit das Gedenken eine etwas andere Qualität bekommen wird. – Am Telefon begrüße ich nun Egon Bahr, einst Spitzenpolitiker der SPD und in den 60er und 70er Jahren Wegbereiter der Verständigung mit der Sowjetunion. Guten Morgen Herr Bahr.

    Egon Bahr: Guten Morgen Herr Lange!

    Lange: Herr Bahr, Sie sind Jahrgang 1922 und haben das Kriegsende als junger Erwachsener selbst erlebt. Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass ein deutscher Regierungschef 60 Jahre danach an so einer Siegesfeier teilnehmen wird?

    Bahr: Ganz klare Antwort: nein, nicht im Geringsten!

    Lange: Wie haben Sie denn das Kriegsende in Erinnerung?

    Bahr: Als Erleichterung, dass der Krieg zu Ende war. Ich habe es nicht als Befreiung empfunden und schon gar nicht zur Demokratie, aber es war unsicher und man war froh, es überlebt zu haben mit gesunden Knochen und hat sich darum gekümmert, dass man etwas zu Essen bekam, Scheiben in die Fenster, ein Dach über dem Kopf und vielleicht etwas zum Heizen und sonst eigentlich nichts.

    Lange: Die Erfahrung des Krieges hat Ihre Generation geprägt und natürlich auch die russischen und sowjetischen Politiker, mit denen Sie es zu Ihrer aktiven Zeit zu tun hatten. Wie sehr haben solche persönlichen Erinnerungen und Erlebnisse in Ihre Verhandlungspolitik reingespielt?

    Bahr: Zunächst einmal muss man sehen, dass die Beziehungen zu Russland älter sind als etwa die Nazi-Zeit oder die Nachkriegszeit. Das war eine Mischung zwischen Angst und ein bisschen Verachtung gegenüber dem Riesenreich. Dann kam das Erlebnis der Bedrohung und der Eroberung mit allem, was damit zu tun hatte. Und dann kam das Gefühl, dass sich eigentlich vererbt hat, einer fortdauernden Bedrohung. Wir wären nicht ungeschoren geblieben, wenn die Amerikaner nicht gesagt hätten, wir garantieren euch, und die Erkenntnis, dass die Deutschen selbst etwas tun müssen, sich bewegen müssen, und denen gegenüber, von denen sie etwas wollen, entgegenkommen müssen, war der Ausgangspunkt zu einer Verbindung zunächst einmal zur Regelung von Beziehungen. Adenauer hat die diplomatischen Beziehungen aufgenommen, aber die Russen haben natürlich nicht vergessen oder übersehen, dass der sowjetische Botschafter fast verächtlich in Bonn behandelt worden ist. Brandt hat dann den großen Schritt getan, den Beziehungen zum Westen oder der Verankerung im Westen die Öffnung nach Osten folgen zu lassen. Es kommt dazu: die Anbindung Russlands an westliche Werte ist eine historische Aufgabe, von der ich meine, sie ist größer als die Frage, ob die Türkei Mitglied der EU wird.

    Lange: Vor zehn Jahren hatte auch Helmut Kohl an den Gedenkfeiern in Moskau teilgenommen, allerdings nicht an der Siegesparade. Was hat sich in den zehn Jahren seither verändert in den deutsch-russischen Beziehungen?

    Bahr: Zunächst einmal sterben immer mehr weg, die noch persönliche Erinnerungen an schreckliche Verbrechen haben. Das heißt die Betrachtung objektiviert sich. Aus der persönlichen Erfahrung wird Geschichte. Man übergibt die Erfahrungen den Historikern. Mal sehen, was die damit machen. - Das andere ist: man kann jetzt unbefangener die Interessen sehen und dafür sorgen, dass auch Russland einbezogen wird in die Situation, dass nie wieder Krieg ist.

    Lange: In diesen zehn Jahren, Herr Bahr, ist es ja zum ersten Mal passiert, dass eine Bundesregierung sich im sagen wir operativen Geschäft mit Russland zusammentat, um die eigenen Interessen gegen die USA zu verteidigen. Ich meine die Zeit im Vorfeld des Irak-Krieges. Haben die deutsch-russischen Beziehungen seither eine andere Qualität?

    Bahr: Sie haben eine andere Qualität deshalb bekommen, weil nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Amerika nicht mehr notwendig ist, um unsere Sicherheit zu garantieren. Insofern war es kein Zufall, dass Bundeskanzler Schröder zum ersten Mal in einer solch wichtigen Frage nicht an die Seite von Washington, sondern an die Seite von Paris trat. Als Chirac das gemerkt hat, war er dabei, und als Putin gesehen hat, dass Schröder und Chirac stehen, war er auch dabei. Das heißt die europäische Dimension ist stärker geworden, kann stärker werden und auch bleiben.

    Lange: Es sind ja oft persönliche Beziehungen, die das Verhältnis zwischen beiden Ländern prägten beziehungsweise prägen. Helmut Kohl war mit Boris Jelzin befreundet, Gerhard Schröder nun mit Wladimir Putin. Die beiden Nachfolger gehören schon einer anderen Generation an, die diesen Krieg nicht mehr aus unmittelbarem Erleben kennen. Welchen Einfluss hat das?

    Bahr: Ich glaube es hat einen bedeutenden Einfluss, weil unabhängig davon, dass die Interessen der jeweiligen Länder dominieren, wird es leichter, Schwierigkeiten zu überwinden oder Komplexe zu regeln, wenn man sich persönlich vertraut. Außerdem haben wir natürlich das Glück, dass Putin deutsch sprechen kann. Die beiden brauchen keine Dolmetscher. Außerdem hoffe ich – das hoffe ich nicht, das weiß ich -, dass Schröder sich dessen bewusst ist, dass Putin wahrscheinlich nur noch drei Jahre an dieser Stelle steht, und es ist sehr wichtig, dass wir in diesen drei Jahren die Weichen so stellen, dass sie in die richtige Richtung laufen und die Züge nicht mehr entgleisen können, die darauf fahren.

    Lange: Andererseits hat Putin gerade den Zerfall der Sowjetunion als schlimmste Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet, den Zerfall, den sein Vorgänger Jelzin maßgeblich mitbetrieben hat. Das gibt zudem wieder eine gewisse Konjunktur für Stalin. Michail Gorbatschow hat gerade davor gewarnt. Wird es sich noch rächen, dass Russland die Klärung der eigenen Vergangenheit nach 1945 nicht stark genug betrieben hat?

    Bahr: Aus russischer Sicht kann ich den Ausspruch von Putin verstehen. Aus deutscher Sicht kann ich nur sagen, das große Unglück des 20. Jahrhunderts war der Erste Weltkrieg. Vielleicht dann noch der 30. Januar 1933. Aber unabhängig davon: ich glaube die Geschichte hat bewiesen, dass das System Sowjetunion, das gesellschaftliche, politische, ideologische System nicht reformfähig gewesen ist. Im Grunde ist Russland daran kaputt gegangen. Die Hoffnung von Gorbatschow, wenn man das System von den Verbrechen Stalins befreit, wird die alte Idee neu aufleben und neue Attraktivität entfalten, die hat sich nun als wirklich falsch erwiesen. Das alte System war nicht reformierbar.

    Lange: Wie sehr die Geschichte in die Gegenwart reicht, das erleben wir ja gerade im Verhältnis zwischen Russland und den baltischen Republiken, immerhin inzwischen Mitglieder der EU und der NATO. Kann Deutschland völlig unbelastete Beziehungen wie zum Beispiel zu Frankreich erreichen und pflegen, solange dieser Teil der Geschichte nicht vernünftig aufgearbeitet worden ist?

    Bahr: Ich glaube ja, und zwar aus dem einfachen Grunde: Ich kann mich natürlich jetzt und auch künftig darüber aufregen, dass Molotow, Ribbentrop, Hitler und Stalin die Vereinbarungen getroffen haben, durch die die drei baltischen Staaten Teile der Sowjetunion geworden sind. Aber ich kann doch nicht im Ernst vergessen oder übersehen, dass weder in Jalta noch in Teheran die drei Westmächte irgendeine Anstrengung unternommen haben, diese drei baltischen Staaten den Russen wieder wegzunehmen. Die haben doch ja gesagt dazu, dass diese drei baltischen Staaten im Verband der Sowjetunion blieben.

    Lange: Wie sollte sich Deutschland verhalten im Verhältnis einmal zu Moskau und dann zu den baltischen Republiken?

    Bahr: Die baltischen Republiken sind Teile der Europäischen Union, sind Teile der NATO und als solche zu behandeln. Das darf und kann gar nicht in Gegensatz geraten zu der Partnerschaft mit Russland, und Russland setzt nicht etwa voraus für die Weiterentwicklung unserer Freundschaft – davon kann man ja auch sprechen, nachdem Kohl den Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion geschlossen hat -, setzt gar nicht in Gegensatz dazu etwa die Frage, wir haben Ansprüche auf die drei baltischen Staaten. Das ist ja gar nicht der Fall.

    Lange: Wenn Sie zum Schluss eine Prognose wagen sollten, Herr Bahr, wo werden die deutsch-russischen Beziehungen sagen wir in 15 Jahren stehen, also 75 Jahre nach Kriegsende?

    Bahr: Das ist wahnsinnig schwer zu beantworten. Da zögere ich, und zwar deshalb, weil ich nicht weiß, wie sich Russland nach Putin weiterentwickeln wird. Das müssen wir abwarten. Hoffentlich ist bis dahin alles so in trockenen Tüchern, dass das nicht mehr ins Schlechte abdriften kann. Schlecht wäre im Übrigen auch ein Zerfall Russlands.

    Lange: In den "Informationen am Morgen" war das Egon Bahr, der frühere Spitzenpolitiker der SPD und langjährige Wegbereiter der Verständigung mit der Sowjetunion. Danke schön Herr Bahr für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Bahr: Gern! Wiederhören!