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Bakterien, die auf die Nerven gehen

Mikrobiologie. - Staphylokokken sind gefürchtet im Krankenhaus. Denn sie können Hautgeschwüre und schlimme Wundinfektionen verursachen. Der Körper versucht natürlich, sich gegen die Erreger zu wehren. Aber die Bakterien halten dagegen. US-amerikanische Forscher haben jetzt entdeckt, dass die Bakterien Nervenzellen schädigen. Das tut weh – und verschafft den Bakterien einen Überlebensvorteil. Die heute im Fachblatt "Nature" veröffentlichte Studie stellt das herkömmliche Bild vom Ablauf einer bakteriellen Infektion vollkommen auf den Kopf.

Von Martin Winkelheide | 22.08.2013
    Wenn Bakterien im Körper an Stellen vordringen, an denen sie nichts zu suchen haben, dann wird das Immunsystem aktiv. Es löst als erstes eine Entzündung aus. Die Gefäße an der befallenen Stelle weiten sich, damit Immunzellen freie Fahrt haben. Es kommt zu einer Schwellung – und es tut weh. So steht es in den Lehrbüchern. Aber es ist falsch, sagt Isaac Chiu vom Kinderkrankenhaus der Harvard Universität Boston.

    "Auch für uns war es eine große Überraschung. Auch wir haben gedacht, es ist die Entzündung, die im Laufe der Infektion Schmerzen verursacht. Aber bei unseren Versuchen haben wir entdeckt: Es sind die Staphylococcus aureus-Bakterien selbst. Sie lösen die Schmerzen aus."

    Chiu hat bei seinen Versuchen mit Mäusen auch herausgefunden, wie die Bakterien den Schmerz an der Infektionsstelle – in diesem Fall der Haut - verursachen: Mit einem Gift schädigen sie die feinen Enden der sensorischen Nerven in der Haut.

    "Sie schütten einen ihrer Giftstoffe aus. Dieses Toxin bohrt Löcher in Membranen. In diesem Fall durchlöchert es die Membran der Nervenzelle. Es strömen Ionen in die Zelle ein. Die Nervenzelle wird dadurch aktiviert und feuert. Und das wird als Schmerzimpuls im Gehirn wahrgenommen."

    Je mehr Nervenzellen geschädigt werden, umso größer ist der Schmerzimpuls. Nun ist Schmerz an sich eine gute Sache. Er warnt den Körper frühzeitig vor Schäden. Wenn wir uns in den Finger schneiden, tut es weh – und wir achten auf die Wunde, säubern sie, kleben ein Pflaster drauf. Im Fall der Staphylokokken-Infektion müsste ein frühzeitiger Schmerz dem Körper doch auch eine frühe Antwort ermöglichen. Etwa mit Hilfe einer massiven Entzündungsreaktion. Genau die aber bleibt aus, hat Isaac Chiu zu seiner Überraschung entdeckt.

    "Schmerz soll den Körper vor Schaden bewahren. In diesem Fall führt der Schmerzimpuls dazu, dass die Immunantwort gedrosselt wird. Denn die Entzündung würde Schäden im Gewebe anrichten. Das ist also eine Art Schutzreflex. Die Staphylococcus aureus-Bakterien profitieren von diesem Schutzmechanismus – sie aktivieren ihn sogar gezielt. Und dank der Immun-Unterdrückung können sie sich schneller und leichter ausbreiten."

    Wenn der Schmerz das Immunsystem bremst, müsste ein Schmerzmedikament doch helfen, diese Bremse wieder zu lösen. Nein, sagt der Kinderarzt und Infektiologe Victor Nizet von der Universität von Kalifornien in San Diego. Denn das Schmerzmittel verändert nur die Wahrnehmung. Aber seiner Meinung nach darf der Schmerz gar nicht erst entstehen.

    "Wir müssen versuchen, die krank machenden Faktoren der Erreger zu blockieren - also hier in diesem Fall das Toxin der Staphylokokken. Das Ziel ist, die Bakterien zu entwaffnen, anstatt sie umzubringen. Solch eine Behandlung wäre auch viel gezielter als eine herkömmliche Antibiotika-Therapie."

    Das ist nur ein - ganz praktischer - Schluss, der sich aus der aktuellen Studie ziehen lässt. Es gibt aber noch viel weiter reichende: Bakterien oder ihre Stoffwechselprodukte wirken offenbar auf das gesamte sensorische System des Menschen. Auf die Nerven aber auch auf Geschmacksrezeptoren, wahrscheinlich auch auf den Hör- und Sehsinn, sagt Victor Nizet. Zuvor unerklärliche Fehlwahrnehmungen, lassen sich womöglich so erklären. Und wenn Bakterien über unsere Sinne das Immunsystem bremsen, dann müsste es auch möglich sein, es auf diesem Wege anzukurbeln.
    "Die Frage ist: Wie können wir über das Nervensystem unsere Immunzellen dazu bringen, zum Ort der Infektion zu wandern und die Erreger zu bekämpfen? Hier tut sich ein gewaltiges neues Forschungsfeld auf. Aber klar ist: Dazu müssen wir noch weiter auf molekularer Ebene das Wechselspiel zwischen Körper und Bakterien untersuchen."

    Der Lohn wären neue Behandlungsformen, die die herkömmliche Antibiotika-Therapie ergänzen könnten – oder eines Tages sogar ersetzen.