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Balsam für die europäische Kultur

Insbesondere in den Jahren nach den Verheerungen des Ersten Weltkriegs artikulierten zahlreiche Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle ihren Kulturpessimismus - und suchten zugleich nach Gegenentwürfen zu einer als materialistisch bewerteten Gesellschaft. Die chinesische Kulturtradition schien sich dabei als ideales Gegenbild zu westlich-industrialisierter Lebensart anzubieten.

Von Dagmar Lorenz |
    Auf den Schlachtfeldern Europas tobt noch der Erste Weltkrieg. Doch die gegnerischen Armeen haben einander längst in einem aussichtslosen Stellungskrieg zerfleischt. Am Ende dieses Krieges wird sich die Landkarte Europas verändert haben: Das russische Zarenreich wird nicht mehr existieren, auch nicht mehr das deutsche Kaiserreich – und mit der österreichisch-ungarischen Habsburgermonarchie, an deren Spitze ein vergreister Kaiser steht, wird nicht nur ein Staat zerbrechen, sondern vor allem die universalistische europäische Konzeption eines Vielvölker-Reiches.

    In dieser Endzeit des alten Europas, in diesem Sommer 1917, schreibt der österreichische Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal aus seinem Urlaubsort Aussee in der Steiermark an Rudolf Pannwitz. Pannwitz hatte ihm sein neues Buch geschickt, das unter dem Titel firmiert: Die Krisis der europäischen Kultur. Und Hofmannsthal reagiert darauf mit den Worten:

    "Wie sehr ich praedisponiert sein muss gerade für Ihre Auseinanderlegungen, wird Ihnen glaublich sein, wenn ich sage, dass ich in diesem Winter, in Scandinavien von den Studenten aufgefordert, etwas über diese gemeinsame Not zu sagen, mir nichts anderes wusste, als von dem Buch von Ku-hung-ling auszugehen; desgleichen, wenn Sie hören dass die wenigen Bücher, die ich hier zur Recreation mithabe, die folgenden umfassen: La Bruyère, die Briefe der Sévigné, Pascal, La Rochefoucauld, andererseits den Tao-te-king in der anständigen, wenn auch gewiss zu übertreffenden Transkription von Strauss."

    Dass Hofmannsthal seiner Auswahl von Literatur aus dem Frankreich des 17. Jahrhunderts einen chinesischen Klassiker beifügt, irritiert auf den ersten Blick. Das Daodejing oder, wie es in den deutschen Übersetzungen damals hieß, das Taoteking, ist sozusagen die Grundlagenfibel des Daoismus. Und ihre Rezeption spiegelte häufig die Wunsch- und Angstbilder wider, die Europa sich von der chinesischen Kultur machte.

    So wurde das chinesische Kaiserreich im religionskritischen Zeitalter der Aufklärung zur vernunftgeleiteten Utopie verklärt, im fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert hingegen als das Reich des ewigen Stillstands und technologischer Rückständigkeit verspottet. Chinesisches Dekor oder vielmehr das, was man dafür hielt, verzierte die Teehäuser englischer Landschaftsgärten ebenso, wie Tapisserien und Porzellantassen. Einen weiteren Schub erfuhren die exotischen Imaginationen Europas in den Jahren um 1900: in jener Epoche also, da das ehemals mächtige chinesische Kaiserreich von den technologisch überlegenen westlichen Großmächten zur demütigenden Aufgabe seiner Souveränität gezwungen wurde.

    Doch nicht nur die chinesischen Eliten von damals litten unter den Folgen kolonialer Überheblichkeit und einer westlichen Arroganz, welche die einstige führende Kulturmacht Ostasiens als "unzivilisiert" abqualifizierte. Paradoxerweise waren es ausgerechnet die Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller der westlichen Kolonialmächte, die über den Souveränitätsverlust des europäischen Individuums im Zeichen einer technologischen Moderne klagten. So etwa sprach Hugo von Hofmannsthal im Jahre 1907 in seiner Rede "vom dichterischen Dasein" über einen "Weltzustand", der den Menschen "im Sitz seiner seelischen Herrschaft über das Dasein" enteignet habe.

    "Es sitzt unter Ihnen der Beamte, an dem die Unabsehbarkeit unserer Betriebe nichts als den tabellarischen Verstand, nichts als die mechanische Fähigkeit übrig lässt, dass er darüber sich zur Maschine werden fühlt und krank werden möchte über sich selber; es sitzt unter Ihnen der Geschäftsmann, dessen ganze Kräfte dem Wirbel des schrankenlosen Geldwesens hingegeben, mitwirken, eine inkalkulable Welt auf kalkulable Werte zu reduzieren und würde ihr Kreislauf darüber zum Hirn-verzehrenden wesenlosen Larventanz; der Mann der Wissenschaft, dem in einer Welt, in der alle Begriffe sich in unendliche Realitäten auflösen, sein Hirn zu schwimmen beginnt und der mit gebanntem Blick auf ein armseliges Teilresultat starrt, es sitzt unter ihnen der Journalist von dem die Stunde verlangt, dass er wirke, indes in seinem Inneren jedes sichere Gefühl, auf dem Gesinnung ruhen könnte, aufgelöst ist, aufgelöst, wie die geistigen Welten unheimlich ineinanderstürzen, selbst das Gefühl seines Europäertums."

    Ob Adliger oder Arzt, reicher Mann oder der Dichter selbst: All die Rollentypen, die Hofmannsthal in dieser Rede wie in einem barocken Totentanz Revue passieren lässt, teilen miteinander den Verlust ehemals festgefügter Identitäten.

    Wie ganz anders mutet da Hofmannsthals poetische Schilderung jener Rollenexistenz an, die er im Kaiser von China verkörpert sieht! In seinem 1897 verfassten Gedicht Der Kaiser von China spricht heißt es:

    "In der Mitte aller Dinge
    Wohne Ich der Sohn des Himmels.
    Meine Frauen, meine Bäume,
    meine Tiere, meine Teiche
    Schließt die erste Mauer ein."


    Hier, in der tradierten Herrschaftsordnung des alten chinesischen Reiches, scheint das Zentrum noch intakt, das Ich-Gefühl des Souveräns noch unangetastet. Hofmannsthal, der sich zeit seines Lebens intensiv mit den chinesischen Geistestraditionen auseinandersetzte, zitiert in diesem frühen Gedicht die Ordnungsvorstellungen des alten China. Dazu zählt die konfuzianische Auffassung vom Himmelssohn, der als Mittler zwischen Himmel und Erde in der Mitte der Welt thront und durch die Befolgung zyklisch wiederkehrender Riten und Zeremonien dafür sorgt, dass alle Dinge ihren geordneten Verlauf nehmen.

    Auch die altchinesische Auffassung von imperialer Herrschaft wird im Gedicht Hofmannsthals zitiert: als eine Herrschaft, die sich nicht als nationalstaatlich, sondern als universalistisch begreift – und in konzentrischen Kreisen Nahes und Fernes gleichermaßen umschließt: angefangen vom Zentrum der Macht, bis hin zur Peripherie.

    "Aber zwischen äußern Mauern
    Wohnen Völker meine Krieger,
    Völker, meine Ackerbauern.
    Neue Mauern und dann wieder
    Jene unterworf'nen Völker,
    Völker immer dumpfern Blutes
    Bis ans Meer, die letzte Mauer,
    Die mein Reich und mich umgibt."


    Es scheint also, als ob hier die alte Ordnung des chinesischen Kaiserreiches als das radikal Andere gegen die Verunsicherungen der westlichen Moderne in Stellung gebracht werden soll. Die Rollenrede des chinesischen Kaisers, seine Beschreibung des chinesischen Universalismus, erinnert frappant an die Konzeption des Vielvölkerstaats der Habsburger Donaumonarchie. Denn thront Hofmannsthals Kaiser wirklich in Pekings Verbotener Stadt? Oder nicht doch eher als vorweggenommene Gestalt der Vergangenheit in der Kapuzinergruft zu Wien? Darauf deuten jedenfalls folgende Strophen hin:

    "Drunten liegen meine Ahnen:
    Aufgebahrt mit ihren Waffen,
    Ihre Kronen auf den Häuptern,
    Wie es einem jeden ziemt,
    Wohnen sie in den Gewölben."


    Wer verkleidet sich in Hofmannsthals Rollengedicht in wen? Das moderne Dichter-Ich in den chinesischen Kaiser? Der chinesische Kaiser in den Repräsentanten der Habsburgermonarchie? Oder sind beide nur Platzhalter in einem modernen kombinatorischen Verfahren, das fremde Geisteselemente an die Reflexion über den eigenen kulturellen Traditionsfundus anschließt?

    Wie auch immer man das Gedicht von 1897 lesen will: Zehn Jahre später existiert das chinesische Kaiserreich schon längst nicht mehr und das Habsburgerreich steht vor seinem endgültigen Untergang. Die Mauern, in denen sich Hofmannsthals chinesischer Kaiser eingeschlossen hatte, bieten längst keinen Schutz mehr vor den Zumutungen des modernen zerstörerischen Weltkriegs. Und – während sich in Russland eine kommunistische Revolution anbahnt – suchen die Intellektuellen Europas nach Gegenentwürfen, Lebensmodellen und Sinnhorizonten.

    Und wiederum blicken sie nach China. Nicht auf die jungen chinesischen Intellektuellen, die in diesen Jahren begierig westliche Literatur lesen, eine moderne chinesische Literatursprache entwickeln und die Schlagworte "Demokratie" und "Wissenschaft" zu politischen Programmen formulieren: Die europäischen Zeitgenossen suchen vielmehr nach Alternativen zur eigenen modernen Welt – und glauben sie in den kanonischen Schriften des 1911 untergegangenen chinesischen Kaiserreiches zu finden.

    Die aber werden vor allem durch die Übertragungen von Richard Wilhelm populär. Wilhelm war ursprünglich als protestantischer Missionar nach China gereist und betätigte sich bald als engagierter Vermittler alter chinesischer Philosophie. Im Gegensatz zu den älteren deutschen Übersetzungen der konfuzianischen und daoistischen Klassiker entsprachen die Wilhelmschen Übertragungen mit ihrer an der Innerlichkeit des protestantischen Pietismus geschulten Diktion dem damaligen Zeitgeist.

    Eine geschickte Marketingpolitik des Eugen Diederichs Verlags, der diese Übertragungen in seiner sogenannten "Gelben Reihe" herausgab, sorgte noch zusätzlich für ihre Bekanntheit in breiten Kreisen des deutschen Bildungsbürgertums.

    Die alten chinesischen Philosophen dienten nicht mehr nur als Argumente gegen die koloniale Arroganz, welche die ostasiatischen Kulturen als minderwertig einstufte. Sie mutieren nun zum Sinnersatz, ja zur Lebenshilfe – und zur Chiffre für ein ewiges China, das, sozusagen aller Geschichtlichkeit entzogen, als monolithisches, ganzheitliches, spirituelles und vor allem anti-modernes Gegenbild zu europäischer Rationalität und der Fragmentierung des modernen Lebens erscheint.

    Es wundert in diesem Zusammenhang nicht, dass sich vor allem der chinesische Daoismus gerade beim deutschen Publikum besonderer Beliebtheit erfreut: in kulturkonservativen Kreisen, wie etwa dem um Hermann Graf Keyserling, der 1920 in Darmstadt eine "Schule der Weisheit" gründet, ebenso, wie bei Bertolt Brecht, der eine Ballade vom Entstehen des Buches Taoteking verfasst. Die daoistische Lehre vom Nicht-Handeln, die Betonung des naturgegebenen Laufs der Dinge bei Lao Tse und Zhuangzi liefern die Gegenentwürfe zum Schreckbild einer hybriden Technisierung, denn, so schreibt Richard Wilhelm:

    "Der Mensch Europas hatte die Herrschaft über die Maschine aus der Hand verloren und war ihr zum Opfer gefallen. Die Menschen verarmten in primitiven Seelenstimmungen fruchtlosen Hasses. So blieben die Kulturmittel erhalten, während die Kulturseele eine tödliche Wunde bekam."

    Einen solch lebensphilosophisch inspirierten Kulturpessimismus vertrat natürlich nicht nur Richard Wilhelm. Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes reiht sich in diese Tradition ebenso ein, wie so manch technikkritische Topoi in den Negativutopien noch nach dem Zweiten Weltkrieg, wie beispielsweise bei Günther Anders nachzulesen ist. Bei Wilhelm und vielen seiner Zeitgenossen allerdings hebt sich von diesen Negativbildern umso strahlender die Essenz des Chinesischen ab. Die chinesische Lebensweisheit, schreibt Richard Wilhelm in seinem Buch "Die Seele Chinas", sei "Heilmittel und Rettung für das moderne Europa". Denn, so führt er aus,

    "Der Blick bleibt nicht hängen am eigenen kleinen Ich der zufälligen Persönlichkeit, sondern erweitert sich zu Menschheitstiefen. Man lebt schicksalshaft, und darum wird man den Oberflächenwellen gegenüber souverän. Ein chinesisches Sprichwort sagt: 'Ein großer Mann hat die Kraft, große Schwierigkeiten in Kleine zu verwandeln und kleine Schwierigkeiten zerschmelzen zu lassen, ehe er irgend etwas tut.' Für die Führerpersönlichkeiten kommt dazu noch die Geduld, dass sie nicht unmittelbar wirken wollen und äußeren Erfolg suchen, sondern, dass sie die Keime des Werdens beeinflussen und die Magie des Gestaltens auf lange Fristen ausüben. Das ist es, was wir brauchen und was Alt-China uns geben kann."

    Als Heil- oder doch zumindest Linderungsbalsam für die europäische Kultur scheint auch Hugo von Hofmannsthal das Chinesische gebrauchen zu wollen – darauf verweist indirekt sein bereits erwähnter Brief aus dem Jahre 1917 an Rudolf Pannwitz. Denn Hofmannsthal beruft sich darin vor allem auf einen chinesischen Zeitgenossen. Erinnern wir uns:

    "Wie sehr ich paedisponiert sein muss gerade für Ihre Auseinanderlegungen, wird Ihnen glaublich sein, wenn ich sage, dass ich in diesem Winter, in Scandinavien von den Studenten aufgefordert, etwas über diese gemeinsame Not zu sagen, mir nichts anderes wusste, als von dem Buch von Ku-hung-ling auszugehen."

    Das Buch, das Hofmannsthal offenbar zur Hilfe kam, als er während einer Vortragsreise nach Norwegen und Schweden im Winter 1916 vor Studenten auf den Krieg angesprochen wurde, trägt den Titel "Der Geist des chinesischen Volkes und der Ausweg aus dem Krieg". Verfasst wurde es von dem chinesischen Autor Gu Hongming, dessen Aufsätze bereits im Jahre 1911 unter dem Titel "Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen"in der Übersetzung von Richard Wilhelm erschienen waren.

    In seinen Büchern wendet Gu Hongming die Bilder, die sich der westliche Exotismus von China macht, als Argumente gegen den Westen selbst. Nicht vom Westen soll das angeblich rückständige China lernen, nein, ganz im Gegenteil: Westlicher Materialismus und Militarismus seien schließlich für Europas Katastrophe des ersten Weltkriegs verantwortlich – und als weiteres Übel komme dazu noch eine übertriebene Rücksichtnahme auf die Meinung des Volkes – Gu Hongming spricht von der "Pöbelverehrung" etwa der englischen Demokratie. Als Rezept gegen die Krise Europas empfiehlt er daher den chinesischen Konfuzianismus:

    "Wenn also die Völker der jetzt in Europa kriegsführenden Länder ihre Zivilisation, die Zivilisation der Welt retten und aus diesem Krieg herauskommen wollen, ist der einzige Weg, den sie dazu einschlagen können, ihre gegenwärtigen Magna Chartas der Freiheit und ihre Verfassungen zu zerreißen und eine neue Magna Charta, nicht der Freiheit, sondern der Treue zu errichten, so wie wir Chinesen sie in unsrer Religion des guten Bürgers haben."

    "Chinesische Werte" also gegen europäische Freiheitsrechte? Ähnlich wie Richard Wilhelm und andere westliche Autoren konstruiert auch Gu Hongming eine chinesische Geistestradition, die als das unveränderliche Andere vor allem im Hinblick auf die Moderne des Westens neu erschaffen wird. Ignoriert werden dabei die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der chinesischen Denkschulen ebenso, wie die unterschiedlichen Interpretationen, die beispielsweise das von Gu Hongming erwähnte konfuzianische Treue- oder Loyalitätsgebot im Verlaufe der chinesischen Geschichte erfahren hat.

    Ausgeblendet werden schließlich auch jene Werke und Denkweisen, die durch die letzte Kaiserdynastie nicht in den Kanon des offiziellen Beamtenschrifttums aufgenommen wurden. Und ignoriert werden all die unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Traditionsstränge innerhalb eines geografischen Raumes, der in zahlreichen Perioden chinesischer Geschichte mehrere Fürstentümer, Königreiche und Kulturzentren umfasste.

    Sehr viel wird also ausgelassen in dieser chinesischen Traditionskonstruktion. Sie wirkt allerdings nach bis auf den heutigen Tag – und sei es als Lifestyle-Spiritualität, wie sie hierzulande in fast jedem Volkshochschulkurs zur Stressbewältigung gepredigt wird. Auch die kulturalistische Konstruktion des Gegensatzpaares "chinesische" contra "westliche" Werte taucht gerade in aktuellen chinesisch-westlichen Diskursen immer wieder auf – und es ist sicher kein Zufall, dass die Schriften Gu Hongmings in der heutigen Volksrepublik China wieder häufig zustimmend gelesen werden.

    Dabei zeugen gerade diese Schriften noch nicht einmal von einer – wie auch immer definierten – fest umrissenen kulturellen Identität seines Verfassers. Gu Hongming zitiert zwar hin und wieder Konfuzius und andere kanonisierte chinesische Klassiker, beruft sich aber mindestens ebenso ausgiebig auf europäische Galionsfiguren: angefangen von Shakespeare über Goethe bis hin zu Bismarck.

    Und das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn der 1857 in der damaligen britischen Kolonie Penang bei Malaysia geborene Gu Hongming entsprach nun keineswegs der Vorstellung eines in der altchinesischen Kulturtradition verwurzelten Gelehrten. Seine Bildungsgrundlagen hatte er schon als Zehnjähriger in Großbritannien erworben, studierte als junger Mann in Edinburgh und Leipzig, hielt sich auch eine Zeit lang in Paris auf, bevor er nach Penang zurückkehrte, in der Kolonialverwaltung Singapurs arbeitete und schließlich nach China übersiedelte, wo er als Sekretär des Generalgouverneurs von Wuchang tätig war. Nach dem Sturz der letzten Kaiserdynastie lebte er als Universitätsdozent zeitweise in Japan, danach bis zu seinem Tode 1928 in Peking.

    Dass Gu, der mehrere europäische Sprachen beherrschte, und zudem Altgriechisch- und Lateinkenntnisse besaß, seine eigene kulturelle Identitätsfindung sicherlich nicht unbeeinflusst von den Krisendebatten im Europa jener Epoche vorantrieb, steht zu vermuten. Und das erklärt vermutlich auch, warum seine Thesen über die zerstörerischen Impulse des westlichen Materialismus einerseits und die abgeklärte Weisheit Chinas andererseits so passgenau auf jenes Untergangsszenario zugeschnitten sind, wie es etwa auch Rudolf Pannwitz in seinem von Hofmannsthal hochgeschätzten Buch über die "Krisis der europäischen Kultur" beschwört:

    "Kultur ist schlechthin etwas orientalisches, etwas außereuropäisches, etwas übereuropäisches. Subjektivismus und Experiment ist dagegen das Europäische. Wir Europäer sind heute an den Rand der Größe und des Abgrunds gelangt, wir müssen zunächst zurück, ob wir nun sicher stehen oder ob wir noch vorwärts dringen wollen."

    Und Hofmannsthal geht zurück: ins Barockzeitalter. An Rudolf Pannwitz schreibt er, dass er gerade "eine kleinere Arbeit im Kopf trage": Gemeint ist der Entwurf aus den Jahren 1916 und 1917 zu einem fiktiven Brief der Madame de Grignan an ihre Mutter, Madame de Sévigné: eine Anspielung auf die berühmten Briefe, die Madame de Sévigné im Frankreich des 17. Jahrhunderts an ihre Tochter richtete. Hofmannsthal lässt nun diese Tochter einen Brief an die Mutter schreiben, in dem sie ihre Begegnung mit einem Chinesen schildert. Ihr chinesischer Gast wirft dabei einen kritischen Blick auf das glanzvolle Zeitalter Ludwigs XIV.:

    "Ruhe des Chinesen gegenüber dem Überschätzen des Moments bei den Franzosen. Einem Volk von vollkommener Verfassung sind die Jahrhunderte wie Jahreszeiten."

    Und gegenüber Rudolf von Pannwitz erklärt Hofmannsthal:

    "Sie sehen, ich wollte an dem Schönsten, das uns noch relativ zeitlich nahe ist, und uns gehört, an dieser letzten Renaissance die Probe machen, sie an der höflichen, weisen Verurteilung dieses Orientalen messen."

    "Die Probe machen" – das von Pannwitz als "europäisch" apostrophierte Experiment wagen: In diesem Punkt unterscheidet sich die Hofmannsthalsche Perspektive von den exotistischen China-Diskursen seiner Zeit. Indem Hofmannsthal nämlich die ihm zur Verfügung stehenden Bilder des Chinesischen auf der einen Seite, und die alteuropäischen Traditionsbestände des Eigenen, auf der anderen Seite miteinander kombiniert, verwandelt er sozusagen beide Seiten in Materialien des Eigenkulturellen, die einander reflektieren und relativieren.

    Es ist bezeichnend, dass Hofmannsthal exotische Traditionsbruchstücke wie das Chinesische in derselben Weise und auf derselben argumentativen Ebene behandelt wie bestimmte kulturelle Phänomene im Zeitalter Ludwigs XIV. So beispielsweise, wenn er den chinesischen Gast der Madame de Grignan über den Sinn von Zeremonien kulturvergleichend reflektieren lässt:

    "Auf die Frage, ob er etwas ehrwürdigeres kenne als unsere Kirchen, unsere Feierlichkeiten, Revuen – die Einheit aller dieser Dinge, die pompöse Einheit, die im König culminiert, gab er eine ausweichende Antwort: Er erwiderte, dass die Vergänglichkeit, ja Flüchtigkeit dieser Dinge ihm nicht möglich mache, ihre Kostbarkeit zu sehr zu genießen: dass für ihn die Idee der Kostbarkeit nur mit der Dauer, ja der Ewigkeit verbunden sein könne. Es kam heraus, dass er ein Dorf mit dem Bangawenbaum, der uralten Reisgenossenschaft mit ihren Riten für ceremoniöser halte als diesen Hof; Begriff der Ceremonie: dass einer, etwas tuend, sich eingesetzt fühle in die unendliche Reihe derer, die vor ihm und nach ihm das gleiche taten und tun werden; in deren Namen er eigentlich handelt. Anknüpfung des Chinesen mit einem strengen Mönchsorden."

    Eine verblüffende Assoziationskette wird hier in Gang gesetzt: von der Prozession zu Ehren Ludwigs des Vierzehnten, über Rituale in unterschiedlichen Kulturgesellschaften bis hin zur Definition des Zeremoniösen und der überraschenden Volte am Schluss, in der die Haltung des Chinesen in einen Bezug zu einem christlichen Mönchsorden gesetzt wird. Als "Edelsteinsammler aller Literaturen" wurde Hofmannsthal einmal spöttisch von Karl Kraus bezeichnet.

    Auf diese Weise aber eröffnet der Schriftsteller Hofmannsthal – jenseits aller west-östlichen Gegensatzkonstruktionen – sozusagen einen dritten Raum literarischer Imagination. Hofmannsthal erweist sich damit – all seiner kulturkonservativen Bekenntnisse zum Trotz – als moderner Autor, der erkennt, dass für ihn und seine Generation längst nicht mehr möglich ist, sich der tradierten Verfahren zu bedienen, wenn es sich darum handelt, historische und kulturelle Bezüge zu stiften.

    Der fiktive Brief der Madame de Grignan aus den Jahren 1916/17 wird Skizze bleiben. Doch wiederum zehn Jahre später, als der Erste Weltkrieg längst vorbei, die Habsburger-Monarchie zerfallen ist, entschließt sich Hugo von Hofmannsthal, noch einmal ein chinesisches Thema aufzugreifen. Im Spätherbst 1927, nur zwei Jahre vor seinem Tod, gibt er bekannt:

    "Ich habe ein neues Trauerspiel zu schreiben angefangen und bin soweit gekommen, dass ich es vielleicht noch in diesem Winter zu Ende bringen kann. Es heißt 'Die Kinder des Hauses' und spielt in China, zu unserer Zeit, das heißt etwa vor 20 Jahren. Es kommt aber kein Europäer darin vor, sondern nur zwei Väter, ein lebender und ein Geist eines Toten und die sieben Kinder dieser beiden Väter."

    Auch dieses Trauerspiel wird ein Fragment bleiben. Doch immerhin lässt sich aus seinen über 120 Blättern entnehmen, dass seine Handlung in einer chinesischen Provinzstadt angesiedelt ist, wo ein Gouverneur mit seinen drei Kindern in einem Palast lebt. Es stellt sich allerdings bald heraus, dass er seine Stellung durch ein Gewaltverbrechen erzwungen hat. In dem Palast, den er nun bewohnt, war er einst Türsteher gewesen. Eines Tages hatte er sich ins Amt geputscht und seinen Vorgänger grausam foltern lassen, sodass der rechtmäßige Gouverneur Selbstmord beging. Dessen Kinder wurden aus dem Palast vertrieben und irren nun heimatlos umher. Von ihrem toten Vater, der ihnen als Geist erscheint, erhalten sie schließlich den Auftrag, in das Haus der Familie zurückzukehren. Dort – so legen es verschiedene Schlussvarianten nahe – ereilt den grausamen Usurpator schließlich die verdiente Bestrafung.

    "19. 9. 27: Chinesisches Trauerspiel.
    Die Rangordnung der Werte ist umgestürzt – Die Lehre des Vaters: Mut, Pietät, Selbstaufopferung ...

    Söhne des Gouverneurs werfen ihm vor, was er sie gelehrt habe: Verschlagenheit, Inconsequenz, Materialismus."


    In dieser chinesischen Geschichte, geht es längst nicht mehr um das Gegensatzpaar Europa - China. Auch handelt es sich nicht mehr darum, chinesische Tradition als Heilmittel für europäische Seinsvergessenheit bereitzustellen. Die Heillosigkeit der modernen Unordnung hat in diesem späten chinesischen Drama Hofmannsthals nun auch China erreicht, wobei es letztlich unklar bleibt, ob die Handlung in den letzten unruhigen Jahren der chinesischen Kaiserdynastie angesiedelt ist, oder ob sie sich in den ersten Jahrzehnten der chinesischen Republik zuträgt, als in vielen Teilen Chinas lokale Militärmachthaber, die sogenannten Warlords, herrschten.

    Zentral ist jedenfalls das Motiv unrechtmäßiger Usurpation unter den Bedingungen einer Moderne, die sozusagen die Umwertung aller tradierten Werte betreibt. Um dies zu illustrieren, bedient sich Hofmannsthal einer spiegelbildlich konstruierten Rollentypologie: Dem Geist des toten Gouverneurs und seinen Kindern werden die konservativen konfuzianischen Familien- und Traditionswerte wie Loyalität, Beachtung gesellschaftlicher Hierarchien, geschwisterliche Liebe zugeordnet. Konträr dazu repräsentiert der neue Gouverneur rücksichtsloses Despotentum, Korruption, die Herrschaft des Geldes.

    "Gouverneur: Die Abschaffung der Vergangenheit, damit der Pietät gegen die Toten wie gegen den Vater."

    Eine heillose Welt, eine umgekippte Ordnung trifft auf einen konfuzianischen Wertekosmos, der wie eine vertraute Tradition erscheint. Ja mehr noch: Hofmannsthals Anmerkungen lassen vermuten, dass er diesen chinesischen Konfuzianismus wie eine "neue orientalische Antike" , wie er schreibt, betrachtet. Was darunter zu verstehen ist? Statt einer Antwort zitiert er folgende Passage aus einem Buch des Literaturwissenschaftlers Ludwig von Pigenot über Hölderlin :

    "Er wollte dem abendländischen Geist dadurch, dass er ihn mit dem entgegengesetzten, aber doch irgendwie verwandten orientalischen durchtränkte, eine größere Möglichkeit seiner selbst geben."

    Verbürgt das Chinesische also das, was der europäische Hellenismus als eine für die Moderne geeignete Tradition nicht mehr leisten kann? Spätestens hier aber wäre der imaginäre Punkt erreicht, in dem die Kulturen in einem gemeinsamen Raum der Kunst miteinander verschmelzen. Hofmannsthal hat dies im Hinblick auf sein unabgeschlossenes Trauerspiel einmal so formuliert:

    "Es spielt in China und meint doch keine Chinesen, ist nicht von heute, nicht von gestern, nicht von hier und nicht von dort."