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Begierde im Blick

Als der geistige Kopf der Surrealisten André Breton 1924 das erste Manifest des Surrealismus publizierte, da schlossen sich ihm Dichter an wie Aragon, Künstler wie Max Ernst. Und von Anfang an waren in dieser Gruppe auch Fotografen willkommen. Diese nutzten ihr Medium allerdings nicht zur Abbildung der Realität, sondern um sie zu verrätseln. In den großen Ausstellungen zum Surrealismus in den vergangenen Jahren in Paris und Düsseldorf spielte die Fotografie nur am Rande eine Rolle. Die Hamburger Kunsthalle widmet sich nun erstmals in Deutschland ganz diesem Thema in einer umfangreichen Ausstellung mit 300 Werken. "Begierde im Blick", so lautet der Titel.

Von Rainer Berthold Schossig |
    Sie war attraktiver, als Picasso sie gemalt hat, die surrealistische Künstlerin Dora Maar. Jetzt schaut ihr Gesicht von allen Hamburger Litfasssäulen, als begehrenswertes Motiv für die Ausstellung "Surrealistische Photographie", schön hingelagert wie ein Vamp, schläfrig wie ein Sphinx, zwei kleine weiße Porzellanhändchen streicheln ihr Kinn - eine berühmte Fotografie von Man Ray aus dem Jahr 1936, die überraschend modern wirkt. Mit diesem Plakat macht die Hamburger Kunsthalle zusätzlich Lust auf eine außergewöhnliche Ausstellung. Der Titel "Begierde im Blick" ist publikumswirksam, aber auch tiefsinnig und doppeldeutig. Es geht um den Blick, der aufgeladen ist durch ein Begehren; und die Surrealisten waren davon überzeugt, dass unsere Aufmerksamkeit immer durch ein Verlangen gesteuert wird. Das haben sie nicht erfunden sondern bei Freud gelernt.

    Die Hamburger Kunsthalle hat ein beeindruckend dichtes und vielmaschiges Netz von historischen Fotografien und Fotodokumenten der großen Ära der Surrealisten ausgebreitet, vor allem aus dem Paris der 30er Jahre. Zum Auftakt Nächtliches vom fotografierenden Flaneur Brassai: Arc de Triomphe oder Place de la Bastille in flirrendes künstliches Licht getaucht, daneben einfach nasses Pflaster oder Graffiti in Nahaufnahme. Rastlos wechseln Blickwinkel und Motive der surrealistischen Kamera. Die Versprechungen des Tingeltangel wechseln ab mit den Zumutungen der wuchernde Metropole. André Boiffard fotografiert das Abseitige der Flohmärkte, wirft tiefe Blicken in absurde Treppenhäuser und Hinterhöfe voller Sperrmüll. Eine "Écriture automatique" der Bildproduktion" verleiht den Dingen magisches Leben: Überraschende Begegnungen mit dem Unscheinbaren, Verlorenen oder Weggeworfenen macht der Emigrant Wols in Paris, Eli Lotar fotografiert die unappetitlichen Abfälle der Schlachthöfe – der Ekel liegt nahe am Begehren.

    Immer wieder aber - wie Motten das Licht - umkreist das Kamera-Auge den weiblichen Körper, schwärmerisch aus der Ferne, beängstigend sezierend aus der Nähe, mit dem träumerischem Weichzeichner Man Rays oder mit dem verstörenden Voyeurismus Hans Bellmers. Doch das Spiel der Blicke, die Erotik des Auges, die Metamorphosen des nackten Körpers waren nicht nur Männersache, auch einige Frauen unter den Surrealisten sind hier wieder zu entdecken; z. B. Claude Cahun, die immer wieder die Geschlechterrollen tauscht, sich selbst androgyn inszeniert und damit Cindy Sherman vorwegnimmt. Oder Dora Maar; sie war nicht nur Modell Man Rays, der sie fotografierte, selbstbewusst aus dem Bild blickend, zum Subjekt der Begierde werdend. Dass Dora Maar auch eine bedeutende Fotografin war, belegen eine Reihe von meisterlichen Bildern und Fotocollagen.

    Dennoch bleiben die Frauen vorwiegend Muse und Objekt männlicher Phantasie. Dies bewies vor allem die große Internationale Pariser Surrealismus-Ausstellung im Jahre 1938, Schluss-Schau des Luxus und der Moden aus dem Kosmos rund um die Sonne André Breton. Kurz danach zerstreute der 2. Weltkrieg das surrealistische Universum in alle Winde. 1938 lebten sich Phantasie und Herrenwitz, Hintersinn und Vordergründigkeit der surrealen Ästhetik ein letztes Mal anarchisch aus: Ein verwirrendes Event aus Bildern und Rauminstallationen, das in der Hamburger Kunsthalle ahnungsweise nachgestellt und anhand von Foto-Archivalien dokumentiert wird. Provokanter Mittelpunkt der Schau war ein schmaler Gang, in dem jeder der Surrealisten eine nackte Schaufensterpuppe auf seine Art drapiert, verschönert oder geschändet hatte, ein Panoptikum Freudscher Fehlleistungen und Jung’scher Archetypen. Die Besucher bekamen - damals der letzte technische Schrei - elektrische Taschenlampen in die Hand, um die nahezu ganz verdunkelte Ausstellung visuell erobern zu können. Eine Mischung aus erotischer Schießbude und skandalösem Abenteuerspielplatz für Erwachsene, Schönheit inszeniert als Anfang des Schrecklichen, den man damals gerade noch ertragen konnte.

    Doch von heute aus gesehen, wirkt die Surrealistische Photographie gerade deswegen so aktuell und zugleich historisch so weit entfernt, weil wir hier auf Schritt und Tritt Inkunabeln, Spuren, Anstöße und Anfänge dessen entdecken können, was uns in der Nachkriegskunst bis zur Neo-Avantgarde in so vielen ästhetischen Spielarten wieder begegnet. Eigentlich hatten die Surrealisten fast alles schon erfunden, was später - als angeblich neue Beiträge zur Verbindung von Kunst und Leben - aufgetischt wurde. Und diese Entdeckungsmöglichkeiten machen die Hamburger Ausstellung wirklich spannend.