Samstag, 04. Mai 2024

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Bergtour auf dem Cosmiques Grat
"Links und rechts, da darfst Du nicht schauen"

Wer den Cosmiques Grat beschreiten will, muss wirklich Bergsteigen können. Das mächtige Felsband im Mont-Blanc-Massiv bietet dem, der darauf läuft, Atemberaubendes: einen freien Blick auf die Alpen bei Chamonix, aber auch Abgründe von 850 Metern Tiefe.

Von Andreas Burman | 25.01.2015
    Nordspitze der Aiguille du Midi, rund 3.800 Meter hoch. Von der Terrasse aus sehen wir hinüber zum etwas höheren Südfels. Von dort zweigt ein mächtiges Felsband ab, wild zerklüftet, malerisch, wie der gewagte Wurf eines fantasievollen Künstlers. Es ist der Cosmiques Grat. Kai, unser Bergführer, beschreibt, was wir uns mit diesem Grat vorgenommen haben:
    "Wenn man da rechts runter schaut, zum Bossons Gletscher, da geht's gute 850 Meter runter. Links sind's 300 Meter. Ja, relativ luftig. Wir haben Kletterei bis zum vierten Grad, die zwingend geklettert werden muss. Also man kann das nicht entschärfen. Ja, es gibt zwar ein paar Bohrhaken, aber er ist und bleibt einfach eine alpine Tour. Und man muss schon Bergsteiger sein, um das Ding zu machen."
    Für Kai, der im Auftrag des Deutschen Alpenvereins zwischen Alaska, Himalaya und den Anden in der Vertikalen unterwegs ist, steht eher ein Routine-Trip an. Wir dagegen empfinden beim Respekt einflößenden Anblick neben der Vorfreude auch eine gewisse Anspannung.Die spüren wir schon einige Minuten später noch deutlicher: Am Ausgang der Eishöhle, von der aus wir auf Steigeisen den festen Schnee des schmalen Midi-Grats betreten. Kai zeigt in den klaren, blauen Himmel:
    "Die Verhältnisse heute, das ist schon fast eine Frechheit, das ist wirklich der Wahnsinn."
    Der Rheinländer Hans-Gerd dagegen blickt lieber vor sich:
    "Puls geht ein wenig hoch. Man muss sich erst mal einlaufen, wenn man aus 50 Metern Höhe kommt, aus dem Kölner Becken, und dann hier auf 3.840 Metern. Ist schon spannend. Da, da bubbert das Herz."
    "Und links und rechts?"
    "Ja, links und rechts, da darfst Du nicht schauen."
    Zwei Bergsteiger klettern an einem Felsen.
    Cosmiques Grat - ein Erlebnis der Extraklasse (Andreas Burman)
    Es geht immerhin fast 3.000 steile Meter ins Tal von Chamonix hinunter. Entsprechend konzentriert und ruhig steigen wir die rund 40 Grad fallende fußbreite Spur hinab. Kai führt uns am kurzen Seil. Damit bleibt ihm die Chance, auf einen Stolperer oder Sturz zu reagieren. 300 Meter tiefer, als die Spur flacher wird, wollen wir stehen bleiben, doch Kai deutet auf den Untergrund, auf dessen Form, und warnt:
    "Geht's ihr bitte noch ein paar Meter runter? Wir stehen hier mitten auf einer Spalte."
    Seinem geschulten Blick entgeht so etwas nicht. Ehe wir jetzt auf dem Gletscher zum Einstieg des Cosmiques Grats weiterlaufen, verlängern wir den Seilabstand. So lässt sich ein Spaltensturz besser abfangen. Kai macht uns aber auch auf die Hochgebirgs-Arena aufmerksam:
    "Hier unten haben wir jetzt schön das Vallée Blanche, diese bekannte Skiabfahrt von der Aiguille du Midi über 20Kilometer. Der hohe Berg, den wir da 'rausschauen sehen, das ist die Grandes Jorasses. Da drüben sehen wir den berühmten Rochefort Grat, und dieser Felsturm, der da 'raussteht, das ist der Dent du Géant, 4.013 Meter. Da drüben, wo die Seilbahn hochgeht, das ist der Pointe Heilbronner. Und da vorne, diese Wand, die man so hinten im Mittelgrund jetzt sieht, mit dieser kleinen Erhebung am Gipfel oben, das ist die Aiguille d'Entrève. Das ist auch eine tolle Gratüberschreitung, Klettereien bis zum fünften Grad, also sehr, sehr lohnend."
    Wir stapfen unterhalb der Aiguille du Midi entlang. In deren rund 250 Meter steil aufragenden Südwand erkennen wir etliche, zweifellos sehr gute Kletterer. Nach einer halben Stunde erreichen wir den Rücken des Cosmiques Grats, nahe der gleichnamigen Hütte. Philipp, Medizinstudent aus Freiburg, ist schon hier begeistert:
    "Eigentlich reicht's mir schon, hier oben zu stehen, diese Fernsicht zu haben, die ganzen namhaften Berge um einen herum ... Auch hier die Kletterer in den steilen Felsflanken, in atemberaubenden Schwierigkeitsgraden ... Ist schon, ist schon ein Erlebnis für sich."
    Freie Aussicht Richtung Genfer See
    Zwischen großen Felsbrocken, sogenanntem Blockwerk, und trittfestem Schnee steigen wir auf. Ohne Schwierigkeit erreichen wir die erste Höhe. Sie belohnt mit einer wunderbaren freien Aussicht Richtung Genfer-See-Gebiet, gerahmt von malerischem Granitgestein. Dann, an einem Felsabsatz, stehen wir vor der ersten Schwierigkeit.
    "Okay, jetzt sind wir hier an der ersten Abseilstelle, aber für uns ist es mehr eine Abkletterstelle, also wir haben eine super Trittspur drin, und dann wird's technisch ein bisschen interessanter."
    Die Abseilstelle
    Die Abseilstelle (Andreas Burman)
    Das mit der Trittspur stimmt, doch für die Hände will sich kein Supergriff finden lassen. Eine anstrengende Sache, auch wenn Kai problemlos sichert. Andererseits eine sehr gute Übung, die uns der DAV-Führer da ermöglicht. Einige Meter unterhalb und ein paar ebene Schritte weiter folgt eine zweite Abseilstelle. Die können wir nicht mehr abklettern. Beim schmalen Einstieg zwischen zwei Felsen verhakt sich Philipps am Rucksack befestigter Pickel.
    Etwa 15 Meter tiefer beginnen wir, den ersten der beiden markanten Felstürme des Cosmiques Grats ohne Schwierigkeiten zu umklettern. Über eine schmale Schneerinne zwischen Felsblöcken steigen wir wieder auf bis zur Grathöhe. Dort erreichen wir die Schlüsselstelle, eine etwa fünf Meter hohe Granitplatte. Halt bieten kleine mit Pickel geschlagene Löcher für die Steigeisenspitzen und ein schmaler Querriss für die Fingerspitzen. Beim Aufstieg hängen wir für Augenblicke ganz an dem Riss, um die Steigeisenzacken umzusetzen. Nach mir steht auch Philipp wieder bei Kai, der uns von oben am Seil gesichert hat:
    "Hier in Chamonix ist so ein schöner Granit, es greift sich so toll. Es macht einfach nur Spaß. Ich bin jetzt das erste Mal so unterwegs und bin total, total überwältigt. Merke jetzt allerdings schon so langsam die Höhe, und jetzt gleich so 'ne Tour."
    Im letzten Teil wechseln wir auf die nördliche Gratseite, klettern dort mit einem atemberaubenden Tiefblick auf die teils vereisten Felsplatten, Rampen und Risse, einmal mit einem luftigen großen Schritt zwischen zwei Blöcken. Durch einen kleinen Kamin erreichen wir schließlich die Grathöhe direkt an einer der Aussichtsterrassen der Aiguille du Midi. Noch einige Sprossen auf einer schmalen, etwas wackeligen Stahlleiter, dann stehen wir auf der Aussichtsterrasse des Südfelsens der Aiguille du Midi. Geschafft.
    "Was für ein Gefühl jetzt, diesen Grat gemacht zu haben. Ein Erlebnis der Extraklasse."
    "Ihr seid nach oben raus immer stärker geworden, die Kletterstellen – habt ihr gar nicht mehr drüber nachgedacht, ihr seid einfach drüber gerannt. Habt ihr echt perfekt gemacht."
    Dieses Lob von Kai obendrein nehmen wir natürlich als Sahnehäubchen sehr gerne mit – und fragen auch gar nicht groß, wie viel Höflichkeit da wohl mit drin steckt.