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Berliner Poesiefestival
Gelesen, gesungen, geschrien, gestöhnt

Berlin ist zurzeit die Welthauptstadt der Poesie. 149 Dichter aus 21 Ländern sind angereist, um am Poesiefestival teilzunehmen. Gestern eröffnete es mit einer "Weltklang-Nacht der Poesie".

Von Oliver Kranz | 06.06.2014
    Gezi-Proteste ist Istanbul: Politische Bewegungen spielen auf dem Poesiefestival Berlin eine bedeutende Rolle
    Jahrestag der Gezi-Proteste ist Istanbul: Politische Bewegungen spielen auf dem Poesiefestival Berlin eine bedeutende Rolle (dpa / yann Renoult/Wostok Press)
    In der Weltklang-Nacht wurden Gedichte nicht nur gelesen, sondern auch gesungen, geschrien und gestöhnt. Lyrik ist mehr als geschriebener Text. Wie sie wirkt, hängt sehr stark vom Klang der Worte und von der Vortragsweise ab. Der Koreaner Ko Un, der seit Jahren als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, bebt mit dem ganzen Körper...
    "Blüten des Augenblicks" nennt Ko Un seine Kurzgedichte, die in jeweils drei oder vier Zeilen alltägliche Situationen beschreiben. Menschen, die über Geld reden, Wassertropfen, die an einem Ast hängen, Tonschalen, die in einem Ofen gebrannt werden. Die Zuschauer verstehen jedes Wort, denn sie haben am Einlass ein Büchlein bekommen, in dem sie die Übersetzung mitlesen können.
    "Ich bin sehr überzeugt – von da her kommt die Dichtung auch – dass die musikalische Ebene, das heißt, das Instrument für Dichtung, also die menschliche Stimme ganz entscheidend ist, einen Zugang zu finden zur Dichtung", sagt Thomas Wohlfahrt, der Leiter der Berliner Literaturwerkstatt, die das Poesiefestival organisiert. Die Weltklang-Nacht ist ein echter Publikumsrenner. Auch gestern Abend war der große Saal der Akademie der Künste gut gefüllt. Auf der Bühne standen Stars der internationalen Szene – Les Murray aus Australien, Alice Notley aus den USA, Phillippa Yaa de Villiers aus Südafrika.
    Keine Regenbogennation
    Phillippa Yaa de Villiers klagt im Gedicht "Footsteps of Oppressors" die südafrikanische Justiz an. Die Ermordung des schwarzen Bürgerrechtlers Andries Tatane durch Polizisten vor drei Jahren wurde gefilmt und im Fernsehen übertragen. Trotzdem wurden die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen.
    "Das ist für mich ein Verrat an allem, wofür wir in Südafrika gekämpft haben. Immer wieder wird das Bild von der Regenbogennation beschworen. Wir bekommen Anerkennung dafür, dass wir nach dem Ende der Apartheid die Weißen nicht einfach ins Meer getrieben haben. Aber jetzt bringen wir uns gegenseitig um. Darüber muss ich berichten."
    Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt Berlin
    Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt Berlin (Privat)
    Dabei betrachtet sich Philippa Yaa de Villiers nicht als politische Autorin. Sie ist in der Zeit der Apartheid als Adoptivkind in einer weißen Familie aufgewachsen. Ihr Vater stammt aus Ghana, die Mutter aus Australien. Die Fragen, die sie in ihren Gedichten stellt, haben viel mit Herkunft und persönlicher Identität zu tun.

    Auch deshalb ist sie zum Poesiefestival eingeladen worden. Das Programm setzt sich in diesem Jahr schwerpunktmäßig mit dem Thema "Brüche" auseinander. Gemeint sind politische Umbruchssituationen. Viele Veranstaltungen beschäftigen sich mit der Ukraine und der Situation in der Türkei. Der Gezi-Park ist, wie Thomas Wohlfahrt erklärt, zu einer Chiffre in der türkischen Dichtung geworden.
    "Man muss sich vorstellen. Hochgerüstete Polizei marschiert auf so in Formation und es steht auf: Ein junger Student – gar nicht geplant – und schlägt ein Buch auf und stellt sich davor und fängt an zu lesen. Und es werden zwei, es werden drei, es werden hunderte. Und da ist eine Form entstanden."
    "Unmittelbare Ansprache"
    Das Poesiefestival wird in einer Podiumsdiskussion untersuchen, wie Lyrik als Form des zivilen Ungehorsams wirken kann. Aber auch Texte, die direkt zum Protest auffordern, sind beim Festival zu hören.
    "Einer muss dafür bezahlen" rappt der Brasilianer Criolo in einem Sprachgedicht. Er trat bei der gestrigen Weltklang-Nacht vor einer Videoprojektion auf, die Proteste im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft zeigte.
    Schlagen, schlagen, schlagen – heißt es im Refrain, und damit sind nicht nur die prügelnden Polizisten gemeint. Criolo ist mit Hip-Hop-Songs schon in Fußballstadien aufgetreten. Beim Poesiefestival vertritt er die Spoken Word-Szene.
    Thomas Wohlfahrt: "Das ist nicht immer Kunst, aber es ist eine unmittelbare Ansprache an die Leute: Ihr habt Körper, ihr habt Atem, ihr habt Stimme. Macht was damit.
    Das Poesiefestival ist in diesem Jahr nicht nur passiver Kunstgenuss, sondern auch eine Aufforderung zum Selbstmachen. Lyrik und Dichtkunst sind weit weniger elitär, als weithin angenommen wird.