Dienstag, 14. Mai 2024

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Berliner Schaubühne
Rainald Grebes Geschichtsaufarbeitung mit "Westberlin"

Westberlin, das war ein Niemandsland. Eine Insel, die von der alten Bundesrepublik enorme Investitionszuschüsse bekam. Für den langjährigen Wahlberliner, Autor und Liedermacher Rainald Grebe war der Westen der Stadt lange Zeit so etwas wie Ausland. In seinem Stück "Westberlin" füllt er diese geografische Bildungslücke an der Berliner Schaubühne.

Von Eberhard Spreng | 03.10.2015
    Kabarettist Rainald Grebe
    Musiker und Kabarettist Rainald Grebe am 03.06.2015 in Berlin. (picture alliance / dpa / Foto: Stephanie Pilick)
    Vielleicht war es ja alles nur eine große Kneipe. Da wo man reden kann, dummes Zeug, hochfliegende Utopien, wo man sich betrinken kann, wo man tingeln kann und absacken – Westberlin, eingefangen in einer einzigen großen Bühnenbildmetapher: Jürgen Lier hat eine Kneipenlandschaft gebaut, mit Tresen und gegenüber liegender Kleinkunstbühne, mit Barhockern, Stühlen und Tischchen, und all das in einem realistischen Look, der an Anna Viebrocks Räume im Theater eines Christoph Marthaler erinnert. Neben einigen Zugängen hat dieser Raum aber auch eine versteckte Klappe an der Schmalseite des Tresens und aus der fährt hier und da ein schwarzer Sarg. In ihn steigt der erste Solist des bunten Abends nach einem atemlosen Solo über den Glanz und Untergang der Berliner Currywurst.
    "Wenn heute ein Tourist nach Berlin kommt, der fährt irgendwo hin, Curry-Soundso, Curry-Soundso, kriegt er eine Industriewurst, oder weiß nicht was für eine Wurst mit einer Ketchuppampe, da fährt er zurück und sagt: also weeste, die Currywurst, die schmeckt ja genauso wie bei uns in Rheinhausen auf der Kirmes."
    Michael Eckert, einstiger Currybudenbetreiber in Westberlin und einer der sieben Amateurdarsteller, die dem Abend den Charme des Authentischen verleihen sollen, den Zeitzeugentouch. Aber Dokumentartheater im Stile von Riminiprotokoll hat der Kabarettist, Autor und Liedermacher Rainald Grebe nicht im Sinn, eher eine Nummernfolge, ein Variété mit diversen Beispielen aus typisch Westberliner Biotopen, Szenen und Milieus. Da wäre der ehemalige Schöneberger Sängerknabe, der den Stimmbruch zu verheimlichen versucht, nur noch die Lippen bewegt und doch rausfliegt, bevor er viele Jahre später in der Berliner Schwulenszene im legendären Nachtklub Chez Romy Haag als Shirley Bassey auftritt. Oder die Aktivistin in der SEW - das war der Westberliner Ableger der SED - die von Genossen knallharten Vorwürfen ausgesetzt wird, weil sie an der Uni keine neuen Mitglieder angeworben hat. Oder die ehemalige Hausbesetzerin, die miterleben musste, wie ihre große Fabriketagen-WG verwahrlost und allmählich an Ratten scheitert.
    "Danach haben wir uns aufgelöst. Warum haben wir keinen Kammerjäger geholt? Weil wir wussten: Eine Fabriketage ohne Idee ist nichts wert, da kannste sie auch den Ratten geben."
    Neben den Laiendarstellern bebildern sieben Schauspieler aus dem Ensemble der Schaubühne Buntes und Verstreutes aus der Westberliner Geschichte. Die Demonstration gegen den Schah am 2. Juni 1967, die mit der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg endete und als Auslöser der 68er-Revolte gilt. Diese illustriert Tilla Kratochwil auf zusammengestellten Tischen mit Gabeln und Salzstangen. Eine Episode ohne dramaturgische Konsequenzen oder Fortsetzungen, denn es geht ja nur um Highlights, nicht um geschichtliche Strömungen und Entwicklungen. Mal schiebt sich eine PanAm-Gangway in die Bühne; eine amerikanische Stewardess berichtet von ihrem Leben im amerikanischen Reservat im Stadtteil Dahlem, mit US-Kino und US-Supermarkt. Dann wieder paradieren Stars der ersten Berlinalen über die Bühne, interviewt von einem permanent gestressten Reporter, den Sebastian Schwarz verkörpert.
    Der Kabarettist und Kiffer Wolfgang Neuss geistert durchs Geschehen, ein Westberliner Original neben vielen anderen. Besondere Freude aber scheint Spielleiter und Mitakteur Rainald Grebe an der Geschichte von Peter Steins legendärer Inszenierung der "Sommergäste" gehabt zu haben: Er erzählt von der Erinnerung der Zuschauer an den frischen Birkengeruch der 300 kleinen Bäumchen im Bühnenbild, und davon dass Zuschauer späterer Aufführungen ihn wahrgenommen zu haben behaupten, obwohl der da längst verflogen war. So ist denn die Erinnerung ein trügerisches Schauspiel und Grebes Zeitreise in die Westberliner Geschichte ein vor allem unterhaltendes Sammelsurium.
    "Ich bin ein Berliner ... Goldfinger ... Im Übrigen sind wir uns einig: Auf deutschem Boden darf kein Joint mehr ausgehen ... Auch Dresden ist schön, in München der Fön, doch es gibt eine Stadt, die heißt Berlin, Berlin."
    In einer flotten Schlusscollage wird noch einmal alles durcheinandergewirbelt, wobei die Maueröffnung klugerweise ausgespart bleibt. Aber am Ende fragt man sich: War da was? Ist die Berliner Westalgie von der jetzt die Rede ist, eine ernstzunehmende Sehnsucht, oder doch nur ein Modephänomen. Dieser Abend gibt darauf keine Antworten, auch weil er verzweifelt in allen Ereignissen immer nur das Lustige, Witzige, Schrille und Bunte sucht und so übrigens auch dramaturgisch auf einem einzigen Level bleibt. Bei allen netten Ideen, aber mit der Zeit kommt Langeweile auf.