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Berliner Unterwelten

Die deutsche Hauptstadt ist auf Sand gebaut und liegt im feuchten Urstromtal, ein für unterirdische Labyrinthe wenig geeigneter Untergrund. Dennoch ziehen die unterirdischen Bunker und Tunnel Berlins immer mehr Touristen an.

Von Wolfgang Hamdorf |
    Im U-Bahnhof Eisenacher Straße im Berliner Stadtteil Schöneberg spielen zwei Straßenmusiker. Es ist schon acht Uhr abends, die Abstände zwischen den Zügen sind größer. Aber dann bietet sich den wartenden Fahrgästen ein bizarres Bild: Ein Geisterzug fährt im Schritttempo durch den Bahnhof. Fünf umgerüstete U-Bahn Bauwagen voller Fahrgäste mit gelben Schutzhelmen. Die Cabriotour der Berliner Verkehrsbetriebe ist eine besondere Attraktion.

    Ausgangspunkt der Tour ist ein Abstellgleis am Alexanderplatz. Die Touren sind fast immer ausverkauft, die Fahrt begeistert Touristen, aber auch viele Berliner.

    "Kleine Sicherheitshinweise! Während der Fahrt bitte immer sitzen bleiben, auch wenn wir unterwegs einmal anhalten. Zweitens: Lassen sie ihre Arme und Beine bitte innerhalb der Reling, dann können sie diese auch getrost wieder mit nach Hause nehmen. Nächster Punkt: Behalten Sie bitte während der ganzen Fahrt die gelben Schutzhelme auf. Also es ist keine Schikane, um ihnen eventuell die Frisur zu versauen, es ist auch nicht so, dass wir Angst haben, dass der Tunnel einstürzt, es ist einfach so, wir sind in einem Tunnel, die Kabelschächte sind offen, es könnte was runterfallen."

    Zwei Stunden lang dauert die Fahrt. Mit durchschnittlichen 35 Stundenkilometern geht es durch die Tunnel und U-Bahn Schächte, durch hohe Galerien und enge Passagen. Im Halbdunkel findet man einen improvisierten Traum – oder Albtraumlandschaft aus Beton, Schotter und Eisen, spärlich beleuchtet und mit einem eigenartigen Geruch nach verbranntem Bremsgummi und Feuchtigkeit. An manchen Stellen wird es unangenehm kalt: um die sieben Grad etwa, wenn die Gleise unter der Spree durchführen.

    Die Geschichten der U-Bahn, die eigenartige Atmosphäre des Streckennetzes und besonders die historischen Verknüpfungen von ehemaligen Bunkeranlagen bis zu den Geisterbahnhöfen des Kalten Krieges inspirierten den tschechischen Schriftsteller Jaroslav Rudiš vor acht Jahren zu seinem ersten Roman "Der Himmel unter Berlin" über zwei Straßenmusiker. Sein Roman endet in einem gespenstischen Finale am U-Bahnhof Alexanderplatz:

    "Atom peitscht den Rhythmus voran, Pancho Dirks Bassgitarre dröhnt, und meine Gitarre legt einfache melodische Akkordreihen darüber. Der Bahnsteig kommt in Schwung der ganze Bahnhof wirbelt um uns herum und mit ihm die gesamte Unterwelt, alles wird immer schneller, und am gegenüberliegenden Bahnsteig sehe ich die U5 nach Hönow anhalten, der lange gelbe Schlauch ist leer, keiner steigt ein, alle starren uns an, die U-BAHN-Band, die die U-Bahn aufwirbelt."

    Die U-Bahn wird in Rudis Roman zum skurrilen Zwischenreich der Lebenden und der Toten, Symbol einer Berliner Vergangenheit, die nicht vergeht, aber aus der für den jungen tschechischen Autor die Stadt ihre besondere Faszination erhält.

    "Also Berlin ist eine Stadt, die sich wahnsinnig entwickelt, auf der Oberfläche auch viel kaputt gemacht wurde, erst von den Nazis, dann von den Kommunisten, oder einfach getrennt, geteilt, aber trotzdem gab es dort auch etwas, das die Stadt immer noch zusammengehalten hat und das waren eben diese Schienen, das war diese U-Bahn-Züge, diese Züge, die auch Ost und West zusammengehalten haben und ich fand auch total spannend und plötzlich die Stadt ist jetzt mehr oder weniger saniert, aber in der U-Bahn kriegt man, wenn man wirklich gut hinguckt, dann sieht man immer noch so Orte, die kaum verändert worden sind und ich weiß, noch vor ein paar Jahren konnte man auf dem Alex noch so kaputte, vom Krieg kaputte Kacheln sehen und das fand ich fantastisch, großartig und ich dachte unter diesen Kacheln damals als ich das geschrieben habe stecken all diese Geschichten, hab ich versuch aufzusuchen und dann aufzuschreiben."

    Die Tunnel, Bunker und unterirdischen Trassen ziehen jährlich Millionen von Touristen an. Hinter dem Interesse der Berlinbesucher an dunklen Bunkern und unterirdischen Verbindungen steckt großes Interesse an einer vielschichtigen Zeitgeschichte manchmal auch einfach eine leicht morbide Sensationslust. 1000 Bunker entstanden im Zweiten Weltkrieg in Berlin. Seit Jahren sucht der Verein "Berliner Unterwelten e. V." im märkischen Sand der Hauptstadt nach Spuren der Geschichte. Die Touren etwa durch die Bunkeranlagen am S und U-Bahnhof Gesundbrunnen sind gut besucht, der Gründer der Initiative Dietmar Arnold führt durch ein Labyrinth unterirdischer Geschichte und Geschichten:

    "So, und weil wir jetzt hier unten schon im Untergrund sind, möchte ich Ihnen noch sagen, wo wir jetzt hier demnächst durchlaufen werden, durch diese Räumlichkeiten. Das sind nämlich alles Nebenräume der U-Bahn gewesen. 1927 bis 1930 ist hier in Gesundbrunnen, die U-Bahn-Linie 8 errichtet worden, damals als GM-Bahn um Ortsteile Gesundbrunnen und Neukölln zu Norden und im Süden miteinander zu verbinden und hier am Gesundbrunnen musste man für den U-Bahn-Tunnel sehr tief graben. Denn sie haben das vielleicht beim Überschreiten der Brücke gesehen, es gibt hier einen sogenannten S-Bahn und Fernbahngraben, der zehn Meter unter Geländeniveau liegt, da musste man mit dem U-Bahn-Tunnel unter durchgraben. Das führt dazu, dass wir hier einen der tiefsten U-Bahn Punkte Berlins haben und man hat dann bis zu drei unterirdischen Etagen auf den U-Bahn Tunnel draufgesetzt."

    Dabei erschließt der Verein nicht nur Bunkeranlagen des Zweiten Weltkriegs. Man widmet sich aber auch Anlagen ohne militärischen Hintergrund, beispielsweise der Kanalisation, der innerstädtischen Rohrpost, unterirdischen Brauereirelikten oder unvollendeten U-Bahnhöfen.

    "Sie haben dort irgendwo 80 nicht genutzte Tunnelteilstücke, gigantische Großbahnhöfe, Abfangbauwerke, Berliner Untergrund mit einer Gesamtlänge von ungefähr von etwa 6,5 Kilometern, wo noch nie ein Zug durchgefahren ist. Jede Epoche hat solche Spuren im Berliner Untergrund hinterlassen, ob es nun die Kaiserzeit war, die Weimarer Republik, ob es die NS-Zeit war, der Kalte Krieg oder die Zeit nach dem Fall der Mauer."

    Der Berliner Untergrund ist ein Querschnitt der jüngeren Zeitgeschichte, ein Fundort historischer Gesteins- und Trümmerschichten, Ablagerungen der Moderne.

    "Wir machen ja nun das, was für die klassische Archäologie zu modern ist, oder zu jung ist, also die interessieren sich jetzt nicht für irgendwelche Sachen, die aus dem Zweiten Weltkrieg ausgegraben werden, da interessieren wir uns aber speziell für und man findet eben auch in den begehbaren unterirdischen Räumlichkeiten immer noch Spuren Zweiter Weltkrieg oder Kalter Krieg. Das ist in dieser Stadt unter der Erde immer noch präsent, während oberirdisch von der Mauer ja kaum noch was da ist, aber im Untergrund haben sich ja einige Sachen erhalten und wir kämpfen dafür, dass das auch noch erhalten bleibt für die nachkommenden Generationen, dass Geschichte an solchen Bauwerken nach wie vor authentisch erfahrbar bleibt, das ist uns wichtig."