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Besser Unbildung als Bildung

Dass die deutschen Universitäten in keinem guten Zustand sind, weiß jeder, der in seinem Studium mit überfüllten Hörsälen und durchschnittlichen Dozenten Bekanntschaft gemacht hat. Der Begriff Bildung hat sich gewandelt, und das nicht zum Besten. In seinem polemischen Buch bringt es der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann auf die folgende These: Je mehr das Wissen zum Fetisch der so genannten Wissensgesellschaft erhoben wird, desto mehr wächst die Unbildung.

Von Jochen Rack | 02.01.2007
    Hochschulen und Schulen kommen aus den Schlagzeilen nicht heraus, PISA-Studien schrecken die Nation, Politiker überschlagen sich im Reformeifer, und Quizsendungen im Fernsehen demonstrieren, dass Wissen zu einem Sammelsurium abseitiger Detailkenntnisse geworden ist, die kein Mensch mehr in jenen Zusammenhang bringen kann, der einmal mit dem Begriff "Bildung" gemeint war. Es könnte also sein, dass wir einer "Theorie der Unbildung" bedürfen, wie sie der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann soeben vorgelegt hat. Sein polemisches Buch lässt sich auf folgende These bringen: Je mehr das Wissen zum Fetisch der so genannten Wissensgesellschaft erhoben wird, desto mehr wächst die Unbildung. Um diese paradoxe Einsicht zu begründen, ruft Liessmann zunächst in Erinnerung, was Bildung überhaupt einmal war:

    "Ich grenze den Begriff der Unbildung nicht nur von dem der Bildung ab, sondern auch von dem der Halbbildung. Das bezieht sich auf zwei Texte, die für die Bildungsdiskussionen wichtig geworden sind. Einerseits auf Wilhelm von Humboldts Theorie der Bildung des Menschen und auf der anderen Seite Theodor W. Adornos Theorie der Halbbildung, der sich ja seinerseits schon kritisch auf Humboldt bezogen hat. Auf der einen Seite wurde Bildung immer verstanden, das steckt ja auch schon in dem Wort, das so schwer in andere Sprachen übersetzbar ist, drinnen, verstanden als eine Art Selbstbildung des Menschen, als eine Gestaltung des Menschen, dh. Ganz zentral war der Gedanke der Arbeit an sich selber, der Formung des Subjekts, der Entfaltung des Individuums, des Entfaltens von Fähigkeiten, von Talenten, und dann natürlich auch von Kenntnissen, von Wissensbeständen, die sich jemand aneignen kann und durch diese Aneignung von Wissen sollte gleichsam so etwas wie eine Person im besten Sinne des Wortes entstehen. Das andere ist natürlich diese Vorstellung, dass Bildung, wie es bei Humboldt heißt, im Wesentlichen zwei Ziele hat: Auf der einen Seite, dass der menschliche Geist sich selber verständlicher werden möchte; man könnte es salopp sagen, das ist das Prinzip der Erkenntnis als Selbsterkenntnis. Und auf der andern Seite ist: Alles zielt darauf ab, dass wir in unserem Handeln freier werden."

    Bildung ist demnach nicht mit Wissen gleichzusetzen, sondern auf Erkenntnis oder, wie Liessmann schriebt, "Wahrheit" bezogen, und dazu gehört Selbsterkenntnis im griechischen Sinn des gnothi seauton, erkenne dich selbst. Es ist das alte Humboldtsche Bildungsideal, dem entsprechend die Universität als Institution der freien Selbstbesinnung gedacht wird, nicht als Wissensfabrik, die bloß den Interessen der Wirtschaft zuarbeitet.

    Schulen sollen diesem Ideal gemäß Orte der Muße, der Konzentration und Kontemplation sein, und die Fächer, die diese Tugenden fördern, sind vornehmlich die Geisteswissenschaften und Künste: Sprachen, Philosophie, klassische Literatur, Musik usw. - Fächer, die nach Liessmanns Ansicht heute nicht mehr geschätzt werden, weil sie sich nicht den Nützlichkeitserwägungen der kapitalistischen Wirtschaft fügen. Aber wie kam es zur Zerstörung der Bildungsidee?

    "Meine These ist, dass wir einen Transformationsprozess beobachten können, dass sozusagen das, was man ursprünglich, also im Humboldtschen Sinne mit Bildung verstanden hat, einem ganz starken Wandel unterliegt. Eine der Ursachen dieses Wandels ist die Kapitalisierung und Ökonomisierung unserer Welt. Also etwa dass wir als Normvorgaben nicht mehr bestimmte Bildungsinhalte, auch nicht mehr bestimmte Bildungskanons haben, dass wir nicht mehr darüber diskutieren, was etwa in einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Gemeinschaft oder auch in Europa gleichsam unverzichtbarer Bestandteil einer allgemeinen Bildung sein könnte, sondern wir diskutieren darüber, welche ökonomisch behandelbaren, quantifizierbaren verwertbaren Vorgaben erfüllt werden müssen, damit wir das Gefühl haben, wir haben in Bildung investiert, und Bildung entwickelt sich weiter. Bildung muss in irgendeiner Art und Weise sich bezahlt machen, sie muss effizient sein, sie muss sich letztlich einem Effizienzkriterium unterordnen, nämlich dem der Ökonomie des Marktes. Dh im Grunde betreiben wir eine marktorientierte Ausbildungspolitik und keine Bildungspolitik mehr. "

    Liessmanns Diagnose klingt linkskonservativ und erinnert an die neomarxistische Gesellschaftskritik. Nicht zufällig zitiert der Autor Adornos Kritik der Halbbildung. In vieler Hinsicht liest sich Liessmanns Polemik gegen die Wissensgesellschaft wie eine Fortsetzung der Kulturindustrieanalyse in der "Dialektik der Aufklärung." Andere Kronzeugen des Buches sind Richard Sennett mit seiner Theorie des flexiblen Menschen und Günther Anders. Zugrunde liegt Liessmanns Kritik ein dialektisches Gesellschaftsmodell, das Bildung als angeblich zweckfreie Sphäre gegenüber der Imperativen der Wirtschaft und Politik in Stellung bringt. Ein Modell, das Habermas gefallen würde und sich dessen Konzept der Kolonisierung der Lebenswelt anschließen ließe.

    Die Rhetorik der Wissensgesellschaft ist dieser Kritik zufolge pure Ideologie: Wissen werde als bloßer Input kapitalistischer Verwertungszusammenhänge verstanden; insofern werde nicht die Industriegesellschaft durch die Wissensgesellschaft abgelöst, sondern bloß das Wissen industrialisiert. Und das heißt: Orientierung an externen Faktoren wie "Markt, Beschäftigungsfähigkeit, Standortqualität und technologischer Entwicklung" - und damit Zerstörung der Bildung.

    Das ist gewiss eine nicht ganz falsche Einsicht, aber doch ein wenig simplifizierend. Denn die Instrumentalisierung der Universitäten durch Bedürfnisse der Industrie und Wirtschaft ist weder neu, noch bloß einfach zu verwerfen. Dass vor allem die Naturwissenschaften den Verwertungsketten der Ökonomie zuarbeiten, kann heute nur noch Romantiker schrecken, und selbst die Geisteswissenschaften, die ja am ehesten auf Bildung zielen, bringen und brachten ihre Erkenntnisse auf einem Markt zur Geltung: Auch literarische oder philosophische Einsichten nehmen die Warenform des Buches an, und ästhetische Erzeugnisse wie Gemälde oder Sinfonien werden auf einem Kunstmarkt gehandelt. Außerdem ist die angebliche Abwertung der Geisteswissenschaften und Künste so eindeutig nicht, denn gerade eine postmoderne Gesellschaft, die immer mehr ästhetische und kulturelle Bedürfnisse schafft, braucht Musik, Kunst oder Philosophie als Produktivkräfte. Die Entgegensetzung von reiner Erkenntnis und idealer Bildung einerseits und Markt bzw. Kapitalismus andererseits ist eine theoretische Abstraktion.

    Dies zugestanden, muss man dennoch nicht gutheißen, was in den Bildungsinstitutionen passiert, Liessmann hat gute Gründe, die Bildungsreformen zu kritisieren. Freiheit der Lehre und Forschung sind ein hohes Gut, und sie lassen sich nicht an den Parametern bemessen, die in den Managementabteilungen der Konzerne ausgebrütet werden. Überzeugend ist Liessmanns Polemik dann, wenn er von seiner Großtheorie der Unbildung absieht und sich mit Details der Universitätsreform befasst, die er aus eigener Erfahrung als Philosophieprofessor kennt und hervorragend analysiert. Sehr erhellend ist etwa seine Frage nach der Rationalität der Bewertungskriterien, die heute an die Universitäten angelegt werden.

    "Die großen Universitätsreformen unserer Tage haben auf der einen Seite natürlich plausible Hintergründe. Einerseits diese Vorstellung, man muss oder sollte einen europäischen Bildungsraum schaffen, weshalb ihre Struktur nach und dem Aufbau des Studiums nach alle europäischen Universitäten einer einheitlichen Konzeption untergeordnet werden sollte. Das andere ist, dass sich jetzt mit dieser Strukturreform etwas einschleicht, was man das ökonomische oder ökonomistische Denken nennen könnte, dass auf der einen Seite Universitäten sehr viel stärker einem formellen Wettbewerbsdruck unterworfen werden. Auch hier natürlich auf der einen Seite Beobachtung, Bewertung, auch Kontrolle durchaus sinnvoll sein kann, nur was mich wirklich stört, ist diese Fetischisierung, die damit verbunden ist, also tatsächlich das Anbeten der Rangliste. Es ist jedes Mal eine große Katastrophe, wenn irgendwo ein Hochschulranking erscheint: Wo ist jetzt die Universität? Und dass hier bei diesem Ranking innerhalb eines Jahres Universitäten um 20. 30 Plätze von oben nach unten purzeln, das irritiert offensichtlich niemand. Universitäten sind träge Institutionen, da ändert sich in einem Jahr nicht so viel, weder nach oben noch nach unten, dass solche aberwitzigen Bewegungen gerechtfertigt wären, aber das macht nichts, wichtig ist nur, man hat hier, nach zum Teil auch völlig unausgegorenen oder auch undurchsichtigen Kriterien wieder mal eine Rangliste erstellt. "

    Dass das Universitätssystem durch den Evaluationswahn in eine Fehlentwicklung gerät, in der am Ende nicht mehr wissenschaftliche Leistung zählt, sondern bloß die Anpassung an nicht weiter hinterfragte Parameter der Evaluierungskommissionen, ist eine nachvollziehbare Gefahr.

    "Es mag schon sein, es ist natürlich relativ leicht, zusammenzuzählen, wie viel jemand publiziert hat, es ist relativ leicht, dann sogar den Seitendurchschnitt zu berechnen, was getan wurde. Ich frage mich wirklich, was das für ein Kriterium sein soll. Es ist dann relativ leicht, auch zu sagen, na ja, der reine Seitendurchschnitt ist natürlich nicht ausschlaggebend, sondern es kommt darauf an, wo das publiziert wurde. Das heißt man geht jetzt dazu über, zu bewerten Verlage, Zeitschriften, wie es in den Naturwissenschaften natürlich gang und gäbe ist. Das heißt wir übernehmen hier auch für alle Wissenschaftskulturen ein Modell. Das heißt also man berechnet bestimmte Faktoren, wie oft jemand in welcher Zeitschrift veröffentlicht hat, wie oft er dann zitiert worden ist, dann gibt dann eine wunderbare Ziffer unterm Strich, und ich kann damit eine Reihung vornehmen des einzelnen Wissenschaftlers und muss keine Zeile von ihm gelesen haben. Ein anderes Kriterium, das gegenwärtig ganz wichtig ist: Projektanträge. Es mag wirklich Wissenschaftskulturen und Situationen geben, wo man sagen kann, da ist es jetzt sinnvoll, ein Projekt zu konzipieren, weil ich dies oder jenes wissen will. Wir gehen ja umgekehrt vor: Wir fragen uns ja gar nicht: Habe ich hier ein Erkenntnisproblem, eine Frage, das mich interessiert und das ich unter Umständen in einem Projekt beantworten könnte, sondern wir stehen vor der Aufgabe: Wir müssen unsere Projektanträge steigern. Das ist die Vorgabe, egal ob das jetzt Sinn macht oder keinen Sinn macht, ob das zu einer Lösung führen könnte oder nicht führen, die Vorgabe ist, Projektanträge steigern. "

    Liessmann klopft den rhetorischen Schaumschlägern auf die Finger, die bloß den Jargon der Unternehmensberater nachbeten, und entlarvt das Wortgeklingel der schönen neuen Welt der Eliten und Exzellenz als blinde Anpassung an Interessen der Wirtschaft und Politik. Aus seiner Kritik folgt nicht die Ablehnung der Evaluierung schlechthin, aber die Forderung nach angemessenen Bewertungskriterien. Ob es sinnvoll ist, Dozenten danach zu bewerten, wie viel Drittmittel sie einwerben und wie viel sie publizieren, lässt sich im Fall der Geisteswissenschaft in der Tat bezweifeln; und ob man der Lehre etwas Gutes tut, wenn man die Professoren mit dem Erstellen von Projektanträgen beschäftigt, statt ihnen Zeit für die Forschung und die Betreuung der Studenten zu lassen, ist nicht weniger fraglich. Am Ende mögen, wie Liessmann folgert, in einem solchen System wirklich nur noch die Klüngel, Wissensmanager und Brotgelehrte regieren. - Kenntnisreich knöpft sich Liessmann den "Bolognaprozess" vor, der nach seiner Einsicht zu einer Nivellierung der Universitäten Europas führt und damit gerade zur Zerstörung jener Vielfalt, auf die Europa stolz ist. Wer die Transformation der Universitäten zu Fachhochschulen betreibt und die Einheit von Lehre und Forschung abschafft, muss durch die Hintertür Elite-Unis einführen, die Liessmanns Ideal der Aufklärung widersprechen.

    "Ich muss ehrlich sagen, ich kann auf den Begriff der Elite tatsächlich verzichten. Ich glaube, der Begriff "gute Universität" würde ausreichen. Eine wirklich gute Universität ist gut dann, wenn dort geforscht wird und wenn dort hervorragend gelehrt wird. Und zwar gelehrt wird nicht nur Doktoranden oder nicht nur vorher ausgesuchten Studenten, die schon im Masterprogramm sind, sondern wenn gelehrt wird wirklich, von allem Anfang an, wie man zu einer Wissenschaft hingeführt wird, wie man in eine Wissenschaft reinwächst, wie man mit dieser Neugeier, dieser wissenschaftlichen Neugier konfrontiert wird und wie man die entwickeln kann. "

    Zur Modularisierung der Universitäten und ihrer Nivellierung gehört nach Liessmann auch das unreflektierte Vordringen des Englischen als Wissenschaftssprache, das vor allem in den Geisteswissenschaften den Nuancenreichtum des Ausdrucks vernichtet. Eine unbezweifelbar richtige Einsicht. Liessmanns scharf analytischer und polemischer Text ist mit Sinn für pointenreiche Zuspitzungen geschrieben - ein Spitzenprodukt eben jener Bildung, deren Untergang der Autor beklagt. Vernachlässigt wird in dieser Polemik die selbstkritische Frage, ob denn die Professoren am Niedergang der Universitäten nicht auch selber eine Schuld tragen könnten, und ob es an den Reformen nicht auch irgendetwas Positives gibt. Wer von dieser anderen Sichtweise etwas erfahren will, sollte nach der Lektüre von Liessmanns "Theorie der Unbildung" zu Jochen Hörischs gleichzeitig erschienenen Essay "Die ungeliebte Universität" greifen.