Freitag, 29. März 2024

Archiv

BGH-Urteil zu Fahrradfahrern
"Keine Helmpflicht durch die Hintertür"

Der verkehrspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag, Stephan Kühn, befürwortet das freiwillige Tragen eines Fahrradhelms. Im Deutschlandfunk sprach Kühn sich aber gegen eine Helmpflicht für Radfahrer aus. Diese führe dazu, dass weniger Menschen aufs Rad stiegen.

Stephan Kühn im Gespräch mit Martin Zagatta | 18.06.2014
    Ein Fahrradhelm hängt an einem Garderobenständer.
    Grünen-Politiker Kühn empfiehlt das - freiwillige - Tragen eines Fahrradhelms. (Deutschlandradio / Melanie Croyé)
    Der Bundesgerichtshof hat am Dienstag entschieden, dass Radfahrer ohne Schutzhelm bei einem Unfall nicht weniger Schadenersatz erhalten dürfen als mit Helm. Der verkehrspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag, Stephan Kühn, begrüßte das Urteil im Deutschlandfunk. Es schaffe Rechtssicherheit und verhindere die Einführung einer Helmpflicht durch die Hintertür.
    Zwar empfehle er jedem Fahrradfahrer das Tragen eines Helms, sagte Kühn. Verkehrspolitisch müsse man aber vor allem an der Infrastruktur für ungeschützte Verkehrsteilnehmer ansetzen, zu denen die Radfahrer gehörten. In der Unfallforschung habe man beispielsweise festgestellt, dass kombinierte Rad-Gehwege schlecht seien, weil hier die Radfahrer von den Autofahrern beim Abbiegen nicht gesehen würden. Auch die Frage der Geschwindigkeit der Autofahrer sei entscheidend.

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Helm auf auf dem Fahrrad – muss das sein, ja oder nein? Über diese Frage wird viel diskutiert in Deutschland. Zumindest rechtlich scheint diese Streitfrage aber seit gestern geklärt. Der Bundesgerichtshof hat entschieden: Ein Radfahrer bekommt bei einem Unfall auch dann den vollen Schadensersatz, wenn er oder sie keinen Helm getragen hat. Hätte das Gericht anders geurteilt, dann wäre das möglicherweise die Helmpflicht durch die Hintertür gewesen. – Mein Kollege Martin Zagatta hat über dieses Urteil gestern mit dem Grünen-Politiker Stephan Kühn gesprochen. Er ist ein erklärter Gegner der Helmpflicht für Radfahrer. Und er ist außerdem der verkehrspolitische Sprecher seiner Partei.
    Martin Zagatta: Herr Kühn, warum begrüßen Sie das Urteil, wenn damit ja jetzt auch die Weichen dafür gestellt werden, dass Fahrradfahrer auch in Zukunft schwere Schäden bei Unfällen davontragen, Schäden, Verletzungen, die eigentlich vermeidbar wären?
    Stephan Kühn: Ich begrüße das Urteil, weil es Rechtssicherheit schafft, nämlich dass es keine Helmpflicht durch die Hintertür gibt. Es ist auch sehr zweifelhaft, ob die Helmpflicht tatsächlich die Sicherheit entscheidend erhöht. In den Ländern, wo eine Helmpflicht eingeführt wurde, hat das nur dazu geführt, dass weniger Rad gefahren wurde.
    Was aus meiner Sicht entscheidend ist, dass wir verkehrspolitisch da ansetzen, nämlich dass Unfälle vermieden werden, bevor wir uns über die Unfallschwere auseinandersetzen.
    Zagatta: Wenn wir noch mal einen Moment beim Helm bleiben. Da sagen ja die Befürworter, dass so ein Fahrradfahrer-Helm das Risiko von Kopfverletzungen und Gehirnschäden um 80 Prozent mindern würde. Das ist doch ein starkes Argument?
    Kühn: Es ist ein starkes Argument, dass ich selber auch einen Helm trage und jedem auch empfehlen würde, einen Helm zu tragen. Nur wir haben es wie bei den Fußgängern auch mit ungeschützten Verkehrsteilnehmern zu tun, und ein vorgehender Minister hat auch schon mal vorgeschlagen, man könnte dann noch eine Schutzwestenpflicht einführen und dergleichen mehr.
    Zagatta: Trotzdem: Motorradfahrer müssen ja auch einen Helm tragen. Ist das kein Widerspruch?
    Kühn: Motorradfahrer fahren ganz andere Geschwindigkeiten als ein Fahrradfahrer. Noch mal: Ich bin sehr dafür, dass freiwillig Helm getragen wird. Die Erfahrung zeigt nur, dass dort, wo Helmpflicht eingeführt wurde, die Unfallzahlen nicht zurückgegangen sind, sondern nur zurückgegangen ist die Häufigkeit, die Fahrrad gefahren wurde. Und wir erleben ja in Deutschland, dass immer mehr Menschen Fahrrad fahren, und je mehr Fahrradfahrer das Straßenbild prägen, also keine Exoten auf den Straßen sind, desto stärker ist auch das Bewusstsein der anderen Verkehrsteilnehmer, dass der Paragraph eins gilt, gegenseitige Rücksichtnahme, und darauf kommt es im Straßenverkehr an.
    Unfälle vermeiden durch mehr Tempo 30
    Zagatta: Aber, Herr Kühn, ist das dann so ein gutes Argument? Die Anschnallpflicht im Auto, die hat ja auch nicht dazu geführt, trotz vieler Proteste, dass jetzt weniger Menschen Auto fahren. Legt man da nicht zweierlei Maßstäbe an?
    Kühn: Das eine ist die Frage, ob man da auch Äpfel mit Birnen vergleicht. Wir haben natürlich die Situation, dass die Fahrradfahrer niemanden töten oder schwer verletzen, sondern sie sind als ungeschützte Verkehrsteilnehmer eher die Opfer bei Verkehrsunfällen, und da ist es aus meiner Sicht verkehrspolitisch richtig, an dieser Stelle anzusetzen und zu sagen, wir müssen die Infrastruktur für die Verkehrsteilnehmer, die ungeschützt sind, verbessern, das heißt, die Fahrradfahrer sicher sich fortbewegen lassen. Beispielsweise hat man in der Unfallforschung festgestellt, dass die kombinierten Radgehwege schlecht sind, weil da Fahrradfahrer beim Abbiegen vom Autofahrer nicht gesehen werden. Das heißt, der Fahrradfahrer gehört auf die Straße. In den Städten ist es entscheidend, auch darüber nachzudenken, dass die Kommunen Handlungsspielraum haben, auf dem Hauptstraßennetz auch mal Tempo 30 anordnen zu können, weil das ist die Geschwindigkeit, mit der man sicher sich bewegen kann. Bei Tempo 30 ist es kaum der Fall, dass Unfälle mit Schwer- und Schwerstverletzten stattfinden. Also auch die Frage der Geschwindigkeit, des Geschwindigkeitsniveaus ist entscheidend, wie hoch die Sicherheit ungeschützter Verkehrsteilnehmer in den Städten ist, und in diese Richtung würde ich nachdenken, weil ich glaube, das sind wesentliche Punkte, die substanziell dazu beitragen, dass die Verkehrssicherheit für Fahrradfahrer, aber eben auch für Fußgänger sich deutlich erhöht.
    Zagatta: Letzte Frage: Was sagen Sie zu dem Vorschlag, eine Helmpflicht zumindest für Kinder einzuführen?
    Kühn: Da bin ich offen, darüber nachzudenken. Allerdings gilt da auch das gleiche Argument. Wenn es dazu führt, dass dann weniger Fahrrad gefahren wird, haben wir den gewünschten Effekt auch nicht erzielt. Was in dem Zusammenhang sehr wichtig ist, nicht einfach nur zu sagen, tragt jetzt einen Helm, sondern die Mobilitätserziehung, die wir von den Grundschulen kennen und die gut sind, in die weiterführenden Schulen zu tragen. Das würde meines Erachtens auch dazu beitragen, Unfälle vermeiden zu helfen.
    Armbrüster: Der Grünen-Politiker Stephan Kühn, ein erklärter Gegner der Helmpflicht für Fahrradfahrer, war das gestern Abend im Gespräch mit meinem Kollegen Martin Zagatta.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.