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Bilanz des Festival d'Avignon 2018
Kopftheater, Körpertheater

Vor zwei Jahren sorgte die belgische Theatermacherin Anne-Cécile Vandalem mit "Tristesses" in Avignon für eine Festivalüberraschung. Jetzt zeigte sie ihre neue Arbeit "Arctique" - die letzte große Premiere eines Festivalprogramms, das in weiten Teilen überzeugen konnte.

Von Eberhard Spreng |
    Eine Szene aus Anne-Cecile Vadalems "Arctique" beim Festival d'Avignon 2018
    Eine Szene aus Anne-Cecile Vadalems "Arctique" beim Festival d'Avignon 2018 (Festival d'Avignon / Christophe Raynaud de Lage / Hans Lucas)
    Das Jahr 2025. Die "Arctic Serenity" dümpelt im Nordmeer. Ein Schlepper hat das einst verunglückte Kreuzfahrtschiff noch einmal in Richtung Grönland gezogen. An Bord nur sechs Menschen, die einer Einladung in anonymen Briefen gefolgt sind. Jeder von ihnen hatte mit der Havarie des Schiffes vor zehn Jahren zu tun, mit der der Traum von der legendären Nordwestpassage erst einmal geplatzt war. Eine Ölplattform hatte die "Arctic Serenity" gerammt und eine obskure Terrororganisation war daran beteiligt: Der ging es um den Kampf gegen den Ausverkauf Grönlands an ein rohstoffsüchtiges Kartell. Für ihr Stück "Arctique" hat die belgische Autorin und Regisseurin Anne-Cécile Vandalem in Grönland recherchiert.
    "Kaum war ich angekommen, erfuhr ich, dass Grönland ein Terrain mit gewaltiger geopolitischer Bedeutung ist, in einer Situation, die seine Politik, Ökonomie und Gesellschaft völlig umkrempelt. Man macht sich gar nicht klar, wie sehr Grönland und die Arktis jetzt und in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren weltweit in die Schlagzeilen kommen werden, vor allem in Bezug auf ihre Rohstoffvorkommen."
    Umweltthriller statt Dokumentartheater
    Das Schöne an der neuen Arbeit der Regisseurin ist, dass sie ihre Recherche-Ergebnisse nicht in dokumentarisches Theater verwandelt hat, sondern in einen ziemlich ungeniert fabulierenden, mit urkomischen Momenten angereicherten Umweltthriller, der sich frei am Genrekino bedient: Da sind Horror- und Mystery-Elemente. Insbesondere Stanley Kubricks "Shining" steht Pate, wenn die Videokamera die Schauspieler in den Gängen begleitet, die die eigentliche Bühne flankieren: Ein Art-Deco-Salon, in dem sich zur Musik einer kleinen Band im Bühnenhintergrund die frierenden Passagiere versammeln.
    Die "Arctic Serenity" ist ein Narrenschiff. Die Beziehungen zwischen ihren Passieren werden zunehmend hysterisch-paranoid. Und der Alien ist hier ein ziemlich putziger Eisbär, und außerdem taucht auch noch der Geist des einstigen Havariekapitäns auf. Der Schlepper hat sich längst abgekoppelt und jetzt schlingert das Schiff ungesteuert ins ewige Eis, den kalten Tod. Die vom Menschen gemachte Umweltkatastrophe ereilt die von vorzüglichen Akteuren verkörperten Passagiere wie in einer dystopischen Arche Noah. Die "Arctic Serenity" ist Strafgericht für die Hoffart der Menschheit.
    Große ästhetische Bandbreite
    Mit diesem urkomischen Thriller, der letzten großen Gastspielpremiere, erlaubt sich das Festival in Avignon nach dem Blick in die sich verfinsternden Weltzustände ein befreiendes Lachen. Und es bestätigt das von Anfang an etablierte hohe Niveau des Programms. Es bietet mit seiner großen ästhetischen Bandbreite eine Palette von Strategien, mit denen das Theater Gewalt, Katastrophe, Terror und Diskriminierung fassen kann. Konventionelle Theaterstücke werden dabei allerdings zur Seltenheit. Nur Festivaldirektor Olivier Py werkelt wacker weiter an zeitgenössischer Dramatik mit weltumfassenden Themensetzungen.
    Die erfolgreichen Produktionen machen Anleihen entweder bei der Oper oder dem Kino. Senecas "Thyestes" war in Thomas Jollys Inszenierung ein grell bebildertes Sprechoratorium mit eingestreuten Songs; sowohl Julien Gosselins als auch Anne-Cécile Vandelems Gegenwartpanoramen sind in Bild- und Tondramaturgie Kinder des Kinos. Die alten Tugenden der Sprechbühne sind selten geworden: Etwa in Ahmad Al-Attars Konversationsstück "Mama" aus Ägypten.
    Gewalt als beherrschendes Thema des Festivals
    Wie berichten von Mord und Terror, von der Tragödie der Gewalt? Das beherrschende Thema des Festivals brachte das Theater an den Rand seiner Möglichkeiten. Eine finstere Gruppenpsychoanalyse ist dies in Ivo van Hoves Arbeit über ein Familiengeheimnis "De dingen die voorbijgaan". Der Alltag in Zeiten der Terroranschläge, in epischer Breite erzählt, ist es in Julien Gosselins DeLillo-Roman-Adaptionen. Ein furios herausgebrülltes Oratorium ist es, mit Thomas Jolly, in Senecas "Thyestes". Alles ziemlich schön und gut. Dass aber Milo Raus "La Reprise" über den Mord von vier Arbeitslosen an einem maghrebinischen Homosexuellen bei der internationalen Presse einen befreienden Jubel auslöste, mag damit zusammenhängen, dass er das Theater zeigt, wie es versucht, die Gewalttat zu erzählen, also den Mord und den Versuch des Theaters, seinem Grauen gerecht zu werden. Ein entspannterer Blick aus der zeitlichen Entfernung wird allerdings zeigen, dass auch dieses derzeit so gefeierte Metatheater die erwünschte Katharsis nur fordern, aber nicht erspielen kann. Kopftheater, Körpertheater, Dokumentartheater - aber auch Bekenntnistheater aus der queeren Community: Avignon öffnete den Blick weit in den Horizont heutiger Weltzustände.