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Bildungsroman eines Diktators

Josef Breitbach beschreibt in seinem Roman "Bericht über Bruno" den unaufhaltsamen Aufstieg eines narzißtischen Jungen zum Diktator. Der Roman, 1962 erschienen, war damals eine kleine Sensation. Für heutige Leser ist er eine scharfsinnige und spannende literarische Studie zum Verhältnis von Macht, Erotik und Politik.

Vorgestellt von Antje Strubel | 18.07.2010
    "Anständige Menschen fragen sich, in welchem Maße sie sich in Situationen engagieren sollen, die nicht ganz anständig sind – und aus solchen besteht ein sehr groß Teil ihres Erdenlebens."

    Dieses Zitat könnte von einer Greenpeace-Veranstaltung stammen, von der attac-Bewegung oder einfach aus der Tageszeitung. Die Frage, inwieweit der Einzelne in der Lage ist, die Mißstände in der Welt zu ändern, ohne sich dabei selbst die Finger schmutzig zu machen, scheint zeitlos. Sie ist immer dort aktuell, wo es um ein ideales Gut geht, sei es Gerechtigkeit oder sozialer Wohlstand, das gegenüber der Schwerkraft menschlicher Neigung zu Gier, Neid, Herrschucht oder Hass verteidigt werden muss.

    Das Zitat stammt vom polnischen Philosphen Leszek Kolakowski. 1962 stellte Josef Breitbach es seinem Roman "Bericht über Bruno" voran. Das Buch, das der WallsteinVerlag jetzt neu aufgelegt hat, war damals eine Sensation. Es beschreibt den unaufhaltsamen Aufstieg eines narzißtischen Jungen zum Diktator. In einer Zeit, in der Hitler und Stalin den Menschen noch sehr lebendig vor Augen standen, wurde dieser Roman als gelungene Beschreibung dessen gelesen, wie der Aufstieg zur totalen Macht innerhalb eines gemäßigten Machtgefüges möglich war, vielleicht sogar von diesem begünstigt wurde. Für heutige Leser ist "Bericht über Bruno" auch eine großartige Studie über Politik als Austragungsort einer Homoerotik, die solche Machtansprüche überhaupt erst auslöst.

    Seine scharfsichtige Analyse situierte Breitbach in einem fiktiven Staat, in einer parlamentarischen Monarchie irgendwo in Europa. Sein Erzähler, durch dessen Perspektive man dem machiavellistischen Vorgehen seines Enkels Bruno folgt, ist Parlamentsabgeordneter und Unternehmer. Zu Beginn wohnt er einer Rede Brunos vor dem Parlament bei.

    "Sollte es meinem Enkel Bruno Collignon gelingen, die Kammer und die Massen so erfolgreich aufzuwiegeln, dass unser Königshaus zum Verzicht auf den Thron gezwungen und die Republik ausgerufen würde, dann fiele eine gewissen Mitschuld an dem unvermeidbaren Bürgerkrieg auf mich. Das ist mir, zu meiner Qual, in der letzten Sitzung des Parlaments von Bruno selber bestätigt worden. Als bei seiner zweiten Rede, jener scharfen gegen die monarchische Staatsform, sich die Blicke vieler Abgeordneter immer wieder von ihm fort und auf mich richteten, konnten diese taktlosen Menschen nicht wissen, dass sie in einem bestimmten Maße das Recht hatten, mir Brunos Entwicklung zum Demagogen und Revolutionär vorzuwerfen."

    In einem nüchteren inneren Monolog blickt der Großvater nun zurück. Er reflektiert über den Werdegang des Enkels vom zänkisch-anhänglichen, egomanen Jungen zum Spion für die Sowjets, gerissenen Journalisten und kaltblütigen Politiker, der den Großvater schließlich zur Auflösung des Parlaments und zum Rücktritt zwingen wird. Der Rückblick ist zugleich die Selbstanalyse eines aufklärerisch denkenden Politikers und sozial eingestellten Unternehmers. Als Generaldirektor der chemischen Werke richtet er seinen Arbeitern Feriendörfer ein und teilt die Jagdrechte aus dem zur Firma gehörenden Waldgebiet gerecht auf.

    Bruno wächst in diesem offenen, liberal gestimmten Haushalt des Großvaters auf. Außenminister und Königin Mutter gehen ein und aus. Brunos Eltern sind geschieden und der Drogen- und Alkoholsucht verfallen. Erste Verhaltensauffälligkeiten zeigt Bruno mit 14, als er seinen Hund quält, um den ihm mißliebigen Hauslehrer loszuwerden.

    Rysselgeert, ein sportlicher blonder Mann, der daraufhin eingestellt wird, entspricht dem Jungen mehr. Seine verständnisvolle, zugewandte Art hinterlässt bei Bruno einen solchen Eindruck, dass er beginnt, Rysselgeert vollständig zu vereinnahmen. Daraus entwickelt sich ein raffiniertes psychologisches Kammerstück aus Erpressung, Zurückweisung, aus hysterischer Liebesbekundung und Liebesentzug, aus Sehnsucht nach Anerkennung und Strategien zur Erfüllung dieser Sehnsucht, aus Vertrauen und Vertrauensmissbrauch bis hin zu Bespitzelung und Machtmissbrauch.

    "Umso mehr beeindruckte es mich, dass er, offenbar aus einem Bedürfnis nach Vertraulichkeit, so seltsam aufrichtig zu mir war. Sein Ehrgeiz, fragte ich, worauf der denn eigentlich ziele. Rysselgeert zum Beispiel werde Parlamentarier, um mithilfe einer politischen Karriere sein Ideal, sein Programm der staatsbürgerlichen Volkserziehung zu verwirklichen. Der Anteil Macht, den er dabei gewinne, sei aber nicht das Ziel, sondern nur ein Mittel, mit dem er seine Ideen durchzusetzen suche. ... Bei meinen ersten Worten schon war er aufgesprungen. Wenn der Ehrgeiz nach Macht, den er im Gegensatz zu den Heuchlern offen bekenne, etwas so Schlechtes sei im Vergleich mit den Idealen Rysselgeerts, rief er, was dann mich seinerzeit getrieben habe, bei den Parlamentswahlen zu kandidieren. Ob ich mir einen Heiligenschein habe verdienen wollen. 'Ersparen Sie mir das!', rief er. 'Ich springe Ihnen an die Kehle, wenn Sie mir mit dem Gerede vom Gemeinwohl und Staatsinteresse kommen'."

    Zwischen Großvater und Enkel entspinnt sich ein Netzwerk aus Intrigien, das mehr und mehr auf der Bühne der großen Politik ausgetragen wird. Breitbach greift hier einerseits die Tradition des höfischen Romans aus dem 18. Jahrhundert mit seinen Ränkespielen wieder auf, spricht andererseits aber auch vielen Politikern der Adenauerzeit aus der Seele. Das zeigen Briefe und Zitate im Anhang, der sich ausführlich mit der Wirkungsgeschichte beschäftigt. Eine Ursache dafür mag der zurückhaltende, abwägende Erzählstil sein, der den Antagonismus wiederspiegelt, nach außen hin nüchtern, beherrscht und vernunftbegründet aussehen zu lassen, was im Inneren hysterisch emotionale Ursachen hat.

    "Wenn ich heute zurückdenke, scheinen mir die Ereignisse sich von jenem Tag an überstürzt, ohne Folge in der Zeit abgespielt zu haben, ähnlich unseren sich immer überschneidenden Gedanken. Und doch hatten sich die Ereignisse, wie alles, was uns zustößt, hintereinander zugetragen und sind auf die chronologische, die um Höflichkeit bemühte Weise erzählbar, wie ein Bericht es verlangt.

    Für viele der politischen Protagonisten seines Romans hatte Breitbach Vorbilder; Persönlichkeiten vor allem des belgischen politischen Lebens. Den Großvater schuf Breitbach beispielsweise in Gedanken an den luxemburgischen Industriellen Emile Mayrisch, dessen Ehefrau er kannte und mit dessen Freund Andrè Gide Breitbach ebenfalls befreundet war. Dennoch spielen solche Informationen für den Roman nur eine untergeordnete Rolle. Er habe keinen Enthüllungsroman schreiben wollen, sagte Breitbach einmal. Vielmehr enthüllt der Roman bestimmte Mechanismen der Macht und fragt nach den Bedingungen ihres Missbrauchs.

    Breitbach stellt zwei komplett entgegengesetzte Charaktere vor: der anständige Großvater, der sich für eine aufgeklärtere Demokratie einsetzt und sich dabei ebenso im Netzwerk unlauterer Mittel verfängt wie sein Enkel Bruno, der gar nicht erst versucht, anständig zu sein. Aus verletzter Eitelkeit und rasender Eifersucht destiliert er eine amoralische Handlungsweise, deren einziges Kalkül Machtgewinn ist, mit dem Zweck, sich an jenen zu rächen, die ihn in seinem Narzißmus kränkten: Das erste Opfer ist der Geliebte seines ehemaligen Lehrers Rysselgeerts, Kabinettschef des Außenministers. Dann begeht Rysselgeert, mittlerweile sozialistischer Abgeordneter im Parlament, aus Angst vor Bloßstellung Selbstmord. Den Großvater treibt es schließlich in den moralischen Ruin.

    "Manchmal brachte Bruno mich arg in Verlegenheit, so zum Beispiel machte er sich immer über die Sozialisten lustig, die er nur die 'Radieschen' nannte. Der Ausdruck, irgendwo aufgelesen, hatte es ihm angetan, und ich erreichte es nicht, dass er wenigstens in Rysselgeerts Gegenwart darauf verzichtete, den Außenminister 'Großradieschen' zu nennen; Rysselgeert meinte, diese Abneigung richte sich allein gegen ihn, auch das hänge mit Brunos Eifersucht zusammen."

    Ist Breitbachs Staat auch die reine Fiktion, ist sie doch nicht im Orwellschen Sinne fantastisch. Seine politischen Diskurse sind anspielungsreich und sehr konkret in der Nachkriegszeit angesiedelt. In der Entfremdung des Jungen vom Großvater und seiner Denkweise spielen zwei Phänomene eine entscheidende Rolle: die überkommenen moralischen Vorstellungen einer konservativ-chauvinistischen Ära und die kommunistische Ideologie.

    Der Roman spielt zur Blütezeit des Kalten Krieges. Die Sowjets stellen eine akute Bedrohung dar. Dem aggressiven sowjetischen Botschafter wird auf Geheiß des Außenministers eine Jagd ausgerichtet, um die wirtschaftlichen Beziehungen zu Moskau nicht zu gefährden. Der Botschafter droht mit Handelsboykott, sollte die Presse im Land weiterhin antikommunistisch berichten. Umso schwerer fällt Brunos Abtrünnigkeit ins Gewicht, der sich nach Moskau absetzt, um sich zum Agenten ausbilden zu lassen.

    Breitbach selbst hat sich intensiv mit den Werken von Karl Marx auseinandergesetzt. In den Reflexionen des Großvaters über seinen sozialistisch eingestellten Freund, den Außenminister, erteilt Breitbach der totalitären kommunistischen Staatsform eine klare Absage.

    "Die Überzeugung, dass man nur die Lebensbedingungen, nicht aber den Charakter des Menschen ändern könne, hatte ich viel weniger schmerzlich erworben als mein Freund. Dieser war in dem Glauben aufgewachsen, dass der verwirklichte Sozialismus einen besseren Menschen hervorbringen müsse als jede andere Gesellschaftsordnung. Die Einsicht, dass auch der in einem marxistischen Staat geborene Mensch eher zum Bösen als zum Guten neigt, von der er in Rußland schließlich überwältigt worden war, hatte ihn noch mehr erschüttert als der Bankrott des marxistischen Ideals in der Außenpolitik Moskaus. Unter vier Augen forderte er mir immer wieder ab, dass bei uns sauber regiert werde."

    Mögen solche Überlegungen heute, nach dem Untergang von DDR und Sowjetunion, vielleicht etwas nachgeholt wirken, gibt es im "Bericht über Bruno" andere Diskurse, die an Brisanz nichts eingebüßt haben. So fragt sich der Erzähler einmal, ob Nachsicht gegenüber den jähzornigen Ausfällen Brunos nur dazu führe, seine Lust am Tyrannisieren zu steigern. Er vergleicht das Verhalten Brunos, der seinen Großvater herumkommandiert, ihm Eigennutz und Selbstherrlichkeit vorwirft, mit Ländern, die sich vom Joch des Kolonialismus befreit haben und statt freiheitliche Rechte einzuführen, in selbstherrliche Tyrannei verfallen sind.

    "Dass Bruno sich so viel herausnahm, erinnerte mich plötzlich an das unverfrorene Auftreten der Führer und Delegierten jüngst unabhängig gewordener Völker. War es nicht die gleiche Haltung? Auch diese Herren, die seit 1945 immer häufiger, den Fes auf dem Kopf oder goldbestickte Togen über der Schulter, die Hauptstädte Europas besuchten und finanzielle und wirtschaftliche Hilfe verlangten, von der ein großer Teil zunächst in ihre privaten Taschen verschwand oder zum Bau von Prunkpalästen und Luxuszügen für die neuen Machthaben verschwendet wurde, diese merkwürdigen Unterhändler ließen uns, während sie von unseren Regierungen Geschenke forderten, gleichzeitig im Rundfunk ihrer Länder pausenlos beschimpfen und traten auf internationalen Treffen vor Moral triefend als Richter unserer Vergangenheit gegen uns auf, obwohl sie selber den ganzen weiblichen und den mit den Händen arbeitenden männlichen Teil ihrer Völker, also die Mehrzahl ihrer Landsleute, schamloser verachteten und brutaler ausbeuteten, als der schlimmste weiße Kolonialherr es je getan hatte."

    Unwillkürlich drängt sich der Gedanke an den Karikaturenstreit auf oder an Diskussionen um den Bau von Moscheen. Hier stellt sich die Frage, wo in einer Demokratie die Grenze zwischen Toleranz gegenüber den religiösen Vorstellungen einer anderen Kultur und Selbstbeschneidung verläuft. Wann wird die Akzeptanz des Anderen zur eigenen Freiheitsberaubung? Bis zu welchem Grad ist eine Demokratie dehnbar hinsichtlich religiöser Vorstellungen anderer Nationalitäten, besonders solcher, in denen Menschenrechte missachtet werden, insbesondere die Rechte der Frauen?

    Der Tyrannei des Jungen begegnet der Großvater mit dem geduldigen Versuch, ihn über sein eigenes Handeln aufzuklären, ihm Konsequenzen und Alternativen aufzuzeigen. Dahinter steckt die Überzeugung des Autors, Menschen aufklären zu können. Ein Schriftsteller, der sein Volk liebe, so die überraschend patriarchale Auffassung, sei wie ein Vater, der seinen Kindern alles erkläre.

    Obwohl der Roman darauf zielt, durch Analyse und Beschreibung zur Entlarvung und damit zur Besserung der Verhältnisse beizutragen, wird der aufklärerischen Wirkung gleichzeitig ein Dämpfer erteilt. Bei Bruno jedenfalls führt es nur dazu, das Gelernte strategisch für seine Zwecke zu benutzen.

    Die überkommenen moralischen Vorstellungen beispielsweise, die in Breitbachs fiktivem Staat eine zentrale Rolle spielen, kommen ihm da gelegen. Mit ihrer Hilfe gelingt es ihm schließlich, die existierende Regierungsform ins Wanken zu bringen. Denn selbst der Großvater, der sich für eine Reform dieser überholten Moral einsetzt, hängt merkwürdigen Vorstellungen vom weiblichen Geschlecht an.

    "Mein Abscheu vor Kameradschaftlichkeit mit Frauen, der immer sehr lebhaft, mir aber unbewusst gewesen war, hatte es mir bis dahin unmöglich gemacht, die Sorgen und die Enttäuschungen, die ich mit Bruno gehabt, vor ihr auszubreiten. Sie hatte nur gewusst, dass ich an meinem Enkel hing, aber nicht wie sehr. Hinterher konnte ich meine Vertraulichkeit nur bereuen. Diese bis dahin so anziehend kokette Frau hatte sich unter meinen Augen in ein mütterliches Wesen verwandelt; das war mir unerträglich. Zu meiner Bestürzung bemerkte ich in der folgenden Zeit, dass ich Bruno, den ich bis dahin nie gehasst hatte, anfing zu hassen, weil meine Freundin, die nun nur noch ihn zum Gesprächsgegenstand unserer Gespräche machte, mir jedesmal, wenn ich ihr Mitgefühl spürte, weniger weiblich erschien. Schließlich bat ich sie, Bruno nicht mehr zu erwähnen und vor allem nie mehr die Wörter Freund und Freundin auf uns anzuwenden."

    Frauen existieren hier nur als Kokette oder Mutter, was in den 60er-Jahren wahrscheinlich sogar als normal empfunden wurde. Die einzige, die im "Bericht über Bruno" Persönlichkeit besitzen darf, ist die Königinmutter. Sie ist eine kapriziöse und eigensinne Vertreterin des Weiblichen, was ihr nur gestattet ist, weil sie als Repräsentantin der Monarchie gewissermaßen geschlechtsneutral agiert. Jedes differenziertere Gefühl, alle tieferen Beziehungen der Protagonisten gelten anderen Männern. In der freundschaftlichen Zuneigung des Großvaters zu Rysselgeert und der intensiven Förderung seiner politischer Laufbahn schwingt deutliche Homoerotik mit. Noch deutlicher werden die homerotischen Untertöne in der in blanke Eifersucht umschlagenden Liebe Brunos zu seinem Lehrer.

    Breitbach zeigt hier nicht nur eine männerbündnerische Welt, die durch unterdrücktes homoerotisches Begehren gesteuert wird. Da es sich bei seinen Protagonisten um die führenden Politiker eines Staates handelt, stellt Breitbach im Grunde die Gesellschaft als Produkt dieser homoerotisch gesteuerten Ordnung dar. Er verdeutlicht, wie ihre Funktionsweisen weniger von wirtschaftlichen, nationalen oder ideologischen Interessen abhängen, weitaus mehr dagegen von der erotischen Anziehung zwischen ihren Machthabern.

    Das ist das eigentlich Aufregende an diesem Buch. Es ist eine scharfsinnige Antwort auf die noch immer virulente Frage, warum es so schwierig zu sein scheint, Frauen in Schlüsselpositionen zuzulassen, und weitergedacht, warum sich Frauen, geraten sie doch in diese Positionen, dem männliche Auftreten scheinbar so leicht anverwandeln. Das muss für die 60er-Jahre eine geradezu spektakuläre Einsicht gewesen sein.

    Allerdings ist im Anhang der Herausgeber davon so gut wie nicht die Rede. Man beschränkte sich auf die Lesart vom Entwicklungsroman eines kalkulierenden Machtmenschen. Heute dürfte damit unbeschwerter umzugehen sein. Schon das ist ein Grund, den Roman erneut aufzulegen. Er zeigt auf faszinierende Weise, wie die emotionalen Unterströmungen zwischen vorgeblich heterosexuellen Männern politisches Handeln beeinflussen. Und er zeigt, warum sich bestimmte moralische Vorstellungen mit solcher Hartnäckigkeit in einer Gesellschaft halten:

    Ein Staat, der sich über moralische Verbote organisiert, macht sich durch die Erpressbarkeit seiner Regierenden angreifbar. Homosexualität oder Ehebruch können dann zu einfachen politischen Mitteln werden, um unliebsame Politiker zu Fall zu bringen. So geschieht es auch hier. Das einzige homosexuelle Verhältnis, das sich tatsächlich realisiert, wird den Beteiligten zum Verhängnis: die Bloßstellung der Liebe zwischen Rysselgeert und Max Jans, dem Kabinettschef des Außenministers, ist der Anfang vom Ende der Regierung. Die Mehrheit der Parlamentarier ist aus Angst gegen eine Reform der Sittengesetze wie Ehebrecherei, öffentliches Ärgernis und gleichgeschlechtlicher Sex. Sie sind selbst genau jener Taten überführbar, gegen deren Abschaffung als Strafbestand sie protestieren.

    Bedenkt man, dass der sogenannte Schwulen-Paragraph 175, dessen Reform Breitbachs Erzähler vergeblich anstrebt, in der Bundesrepublik erst im Zuge der Rechtsangleichung mit den neuen Bundesländern 1994 endgültig abgeschafft wurde, wird die Hellsichtigkeit Breitbachs eklatant. Der Paragraph 173, der Inzest strafrechtlich verfolgt, ist übrigens in Deutschland immer noch in Kraft. Damit gehört Deutschland zu jenen nachzüglerischen Ländern, die Moral zur Aufgabe des Strafrechts zählen.

    "Bericht über Bruno" hatte ursprünglich eine Jagdgeschichte werden sollen, der die Figuren davon gelaufen seien. In nur sechs Monaten entstand stattdessen eine scharfsinnige und spannende literarische Studie zum Verhältnis von Macht, Erotik und Politik.

    Joseph Breitbach: Bericht über Bruno
    Hg. Von Alexandra Plettenberg-Serban und Wolfgang Mettmann
    Wallstein Verlag. Mainzer Reihe
    463 Seiten, 22 Euro