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Brasilien vor der WM
"Die Proteste werden zunehmen"

Der Direktor der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro, Dawid Bartelt, glaubt nicht an eine Befriedung der brasilianischen Favelas bis zur Fußball-Weltmeisterschaft. Er macht auch die Militärpolizei für die Gewalt mitverantwortlich. "Die Bilder, die hier zu erwarten sind, sind doch eher die von Tränengas-Schwaden und prügelnden Polizisten."

Dawid Bartelt im Gespräch mit Dina Netz | 25.04.2014
    Im Sonnenuntergang hält ein Mann die Flagge von Brasilien.
    "Es muss sich auch die Wahrnehmung der Gesellschaft gegenüber den Favelas ändern," meint Bartelt. (picture alliance / dpa / Antonio Lacerda)
    Dina Netz: Sportliche Großereignisse sind eine zwiespältige Sache: Sie bringen Glanz mit für den, der das Ereignis ausrichtet, aber unter Umständen fällt der Blick der Weltöffentlichkeit auch viel stärker als sonst auf die Schatten am jeweiligen Ort. Die Olympischen Winterspiele in Sotschi sind dafür ein besonders gutes Beispiel, als die Diskussionen über Menschenrechtsverletzungen und kriminelle Geschäfte fast so viel Raum einnahmen wie die Sportberichterstattung. Und im Juni ist Fußball-WM in Brasilien. Schon seit Monaten gibt es immer wieder Demonstrationen gegen die Milliardenausgaben für die Sportstätten, während viele Brasilianer in Armut leben. Diese Woche gab es neue Straßenschlachten, ausgelöst durch den Tod eines 25-jährigen Tänzers, der wahrscheinlich von Polizisten erschossen wurde. - Dawid Bartelt ist Direktor der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro. Ich habe ihn gefragt: Der Tod des Tänzers ist ja nur der Auslöser - welcher Unmut genau bricht sich da dieser Tage in Brasilien Bahn?
    Dawid Bartelt: Das ist eine komplexe Gemengelage. Erst mal, glaube ich, ist es wichtig für die Hörerinnen und Hörer in Deutschland, zu sagen, dass dieser Tod des Tänzers jetzt ein Fall ist von denen, die wir hier wöchentlich erleben. Und zwar gerade auch in diesen sogenannten befriedeten Favelas, die wir ja hier in Rio jetzt seit 2009 haben, ein im Prinzip sehr gutes Konzept, weil es nämlich die Schießereien beendet hat zwischen Polizeien und Drogenbanden, die sonst zum Alltag der Bewohner gehörten und diese immer in Angst und Schrecken versetzten und viele von ihnen auch durch Querschläger getötet haben. Aber dieses Konzept stößt hier gerade an seine Grenzen jetzt. Wir haben hier eine Lage, wo mittlerweile auch durch Umfragen bestätigt immer noch viele Brasilianer sich auf die WM freuen, gar keine Frage, und auf den 6. Sieg ihrer Mannschaft hoffen, aber doch der Meinung sind, die WM müsste nicht unbedingt in Brasilien stattfinden.
    "Misere im öffentlichen Bildungs- und Gesundheitsbereich"
    Netz: Warum?
    Bartelt: Warum? - Einerseits, weil die Kosten sehr, sehr hoch sind, und andererseits, weil vieles von dem, was versprochen wurde und was auch die Regierung und auch Medien viel erzählen, was sich alles so verbessert haben soll in Brasilien, dann nicht ganz mit den Alltagserfahrungen der Menschen übereinstimmt. Das Verkehrschaos etwa hat weiter zugenommen und vor allen Dingen ist es die Misere im öffentlichen Bildungs- und im öffentlichen Gesundheitsbereich, und das ist etwas, was gerade die Menschen in den Favelas massiv betrifft. Wenn sie gezwungen sind, ihr Kind auf eine öffentliche Schule zu geben, dann heißt das für dieses Kind im Grunde, dass es von vornherein dazu verurteilt ist, ein Leben als schlecht bezahlter Hilfsarbeiter zu fristen. Diese Schulen haben überhaupt keine Ausbildungsqualität, das ist auch allgemein bekannt und wird auch von allen Politikern gesagt. Aber ändern tut sich nichts und es hat sich trotz der unbestreitbaren Zuwächse an Einkommen und sozialen Verbesserungen wenig verändert.
    Netz: Das wollte ich gerade fragen, Herr Bartelt. Brasilien galt ja in den letzten Jahren als ein vorbildliches Land, dessen Mittelschicht gewachsen ist, das Hunderttausende aus der Armut geholt hat. Stimmt dieses Bild also eigentlich nicht?
    Bartelt: Nein, das stimmt einerseits schon. Aber auf der anderen Seite erleben wir da auch einen Prozess, wo sich der Staat aus seiner Verantwortung gerade in diesen Bereichen zurückzieht. Er hat eine Definition aufgemacht und gesagt, ihr seid jetzt nicht mehr arm, ihr seid jetzt Mittelklasse, und als Mittelklasse könnt ihr und sollt ihr bitte auch euch Bildung und Gesundheitsversorgung auf dem Markt kaufen, sprich private Krankenversicherungen abschließen und eure Kinder in Privatschulen stecken. Nur ist das für ein Großteil dieser jetzt als Mittelklasse bezeichneten Schicht von 40, 50 Millionen gar nicht möglich, denn mit 500, 700 Euro Familieneinkommen im Monat ist so was nicht möglich.
    Netz: Sie haben vorhin schon gesagt, die Befriedungspolitik, die der Staat probiert, stößt jetzt so langsam an ihre Grenzen. Hat das vielleicht auch damit zu tun, dass Brasilien ja eine lange Tradition der Repression gerade im Umgang mit Armen hat?
    Bartelt: Das hat sicherlich damit zu tun. Diese Polizei ist eine Militärpolizei und auch militärisch organisiert und ist ausgebildet - gerade gegenüber armen Menschen - repressiv und, auch wenn es sein muss und auch wenn es nicht sein muss, mit tödlicher Gewalt vorzugehen. Das steht in der Tradition dieser Polizei, die entstand, als Ende des 19. Jahrhunderts die Sklaverei in Brasilien endlich abgeschafft wurde und man ein Instrument brauchte, um mit diesen, nun auf dem freien Markt sich befindenden, aber Menschen, um die sich keiner weiter kümmerte, irgendwie fertig zu werden.
    "Zunahme der Proteste"
    Netz: Herr Bartelt, was für Chancen sehen Sie, dass es jetzt noch zu einer wirklichen Befriedung kommt bis zur Weltmeisterschaft?
    Bartelt: Bis zur Weltmeisterschaft bin ich einigermaßen skeptisch. Ich will durchaus sagen, es gibt Menschen, die sagen, man muss bei diesem Konzept Geduld haben, und wenn man die historische Perspektive einnimmt - und man muss sie einnehmen hier in Brasilien -, dann würde ich dem zustimmen. So was braucht Zeit. Hier wird immer gesagt, die Armen müssen sich ändern, die Favelas sind sozusagen Orte des Bösen, die müssen wir umformen. Ich würde sagen, vor allen Dingen muss die Polizei sich ändern. Das muss eine Bürgerpolizei werden, die muss menschenrechtlich ausgebildet werden, das muss eine zivile Polizei sein, denn eine Polizei ist etwas ganz anderes als ein Militär, hat einen völlig anderen Auftrag. Und es muss sich auch die Wahrnehmung der Gesellschaft gegenüber den Favelas ändern. Für die Mittelklasse und auch für die Medien sind Favelas nach wie vor Orte der Kriminalität. Dabei sind 99 Prozent der Bewohner hart arbeitende Menschen, die meistens schlecht bezahlt werden, und eine ganz kleine Gruppe dort ist im Drogenhandel tätig und wirklich kriminell. Da muss sich auch eine Menge verändern, das ist eine Generationenfrage. Deswegen: Für die WM erwarte ich und erwarten eigentlich alle, die sich hier auskennen, eine Zunahme der Proteste. Die Regierung befürchtet meines Erachtens sehr zu Recht ganz ungute Bilder. Die Bilder, die hier zu erwarten sind, sind doch eher die von Tränengas-Schwaden und prügelnden Polizisten, und das ist sicherlich nicht das, was die Brasilianer wollen.
    Netz: Einschätzungen zur Lage in Brasilien von Dawid Bartelt, dem Direktor der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.