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Brasiliens profitabler Ideenklau

Brasilien ist nicht nur das größte Land Lateinamerikas, sondern gemäß neuesten Studien auch das korrupteste. Sie hat indessen auch die Universitäten und Hochschulen heimgesucht. Ein Großteil der Studenten fertigt akademische Arbeiten, sogar Dissertationen, nicht selbst an, sondern kauft sie skrupellos bei einer regelrechten Industrie, die sich auf dieses profitable Produkt spezialisiert hat.

Von Klaus Hart | 01.11.2006
    Das Problem ist sehr heikel und betrifft sogar Brasiliens größte und angesehenste Bundesuniversität in der Megacity Sao Paulo. Der zuständige Ethikrat lehnt gegenüber dem ausländischen Journalisten dazu Interviews ab. Professor Ruy Braga von der philosophischen Fakultät gibt indessen bereitwillig Auskunft:

    "Ein heißes Eisen, ohne Zweifel - und wir haben es in der Tat mit einer regelrechten Industrie zu tun, zu der Profis aller Fachgebiete gehören. Diese Industrie, dieser Markt boomt und ist Teil unserer ökonomischen, politischen und moralischen Krise. Die Branche bietet ihre Dienste im Internet an oder hängt sogar Werbeanzeigen direkt in den Universitäten aus."

    In Brasilien besuchen nur 30 Prozent der Studenten öffentliche Universitäten und Hochschulen, doch 70 Prozent studieren an privaten Hochschulen. Mehr als vier Millionen sind derzeit immatrikuliert. Es dominiert Massenbetrieb.

    "Der Anteil der Studenten, die betrügen, sich Arbeiten anfertigen lassen, ist erschreckend hoch - am höchsten an den Privatunis. Dort sind es mit Sicherheit über 50 Prozent aller Studierenden. Die Professoren müssten das verhindern. Doch damit machten sie sich unbeliebt, würden die Studenten deren Entlassung durchsetzen. Die Studenten haben ja bezahlt, wollen rasch ihre Abschlüsse. Und die Privatunis sind nur an Gewinn, nicht an Qualität interessiert. Alles sehr schlecht für die Qualifikation der brasilianischen Arbeitskräfte, für die akademische Ausbildung. Sie ist ein Gigant auf tönernen Füßen."

    Professor Braga und andere Dozenten der Bundesuniversität bekämpfen den Betrug: mehr schriftliche Prüfungen, begrenzte, vorgegebene Bibliographien, Verwarnung der Studenten. Werbeanzeigen der Betrugsindustrie werden systematisch entfernt.

    "An der philosophischen Fakultät ist das Problem jetzt viel geringer - wir Lehrkräfte haben inzwischen mehr Erfahrung, sehen eher Indizien. Andererseits haben wir viel mehr Studenten als früher. Das erschwert es, jeden Verdachtsfall minutiös zu prüfen."

    Danilo Frei und Eduardo Moreto studieren an der Bundesuniversität, wissen, wie es läuft.

    "Am meisten wird an den Fakultäten für Wirtschaft, Administration und Rechtswissenschaften betrogen. Viel weniger bei den Philosophen, denn die Profs dort merken es einfach. Einmal kam heraus, dass eine Dissertation nichts weiter als die Übersetzung einer Doktorarbeit aus Spanien war."

    An der Katholischen Uni von Sao Paulo zählt Professorin Anna Cintra zum Direktorium und wurde notgedrungen zur Detektivin.

    "Natürlich fahnde ich auch per Google im Internet, entdecke kopierte Abschnitte, kopierte Arbeiten. Noch unlängst kamen Sonderbusse mit Studenten von Hochschulen des Hinterlandes, die in unserer Bibliothek massenhaft Abschlussarbeiten ausliehen, sofort kopierten und dann unter eigenem Namen einreichten. Wir - und auch die Bundesuniversität - geben deshalb solche Arbeiten nicht mehr heraus."

    Auch Professorin Cintra sieht das Hauptproblem bei den gewinnorientierten Privatuniversitäten. Unqualifizierte Absolventen, die sich ihre Abschlüsse kauften, nennt sie gar eine "große Gefahr für die Entwicklung der Nation".