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Brexit
Halbe Wahrheiten und späte Einsichten

Im Juni stimmte die Mehrheit der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union. Warum die "Vote-Leave"-Kampagne so wirkungsvoll war und die "Remainer" sich nicht durchsetzen konnten, das versuchen jetzt zahlreiche neue Bücher zu erklären.

Von Sandra Pfister | 19.12.2016
    Befürworter eines Austritts Großbritanniens aus der EU jubeln am 23.06.2016 in London auf der Wahlparty von Leave.eu.
    Befürworter eines Austritts Großbritanniens aus der EU jubeln in London auf der Wahlparty von Leave.eu. (Michael Kappeler, dpa picture-alliance)
    "Insider packen aus": Wenn ein Buch so beworben wird, dann ist es meist reißerisch und enthält nur die halbe Wahrheit. Beides trifft auf Arron Banks' Buch zu, die einzige Brexit-Analyse in Buchform, die aus der Perspektive der Sieger verfasst ist.
    Banks, erfolgreicher Unternehmer und Sponsor der populistischen United Kingdom Independence Party UKIP, hat auch die inoffizielle "Leave"-Kampagne finanziert. Er ist ein rückhaltloser Bewunderer des ehemaligen UKIP-Chefs Nigel Farage - und von Donald Trump, wie er kürzlich im britischen Fernsehen erklärte: "Es gibt Ähnlichkeiten zwischen Donald Trump und Nigel Farage. In beiden Fällen ist es, als hätte das Volk einen Vorschlaghammer in die Hand bekommen, um das Establishment zu zertrümmern."
    In seinem Buch "The Bad Boys of Brexit" erzählt er die schmutzige Vorgeschichte des Brexit-Referendums: Wie Farage und UKIP gemeinsam mit der Boulevardpresse die Europäische Union und vor allem Zuwanderer als Sündenböcke für alles brandmarkten, was im eigenen Land schief läuft.
    Populisten kitzelten Instinkte
    Doch die ungenierte Art, mit der sich Banks darin sonnt, die unfähige "Elite" des Landes durch den Dreck gezogen zu haben, erklärt den Sieg der Brexiteers nur zum Teil.
    Gleiches gilt für den Insiderbericht der Gegenseite, vorgelegt von Sir Craig Oliver, dem ehemaligen Kommunikationschef des zurückgetretenen Ministerpräsidenten David Cameron. Oliver bei einem BBC-Auftritt:
    "Wir haben einige große Fehler gemacht. Wir haben komplett darauf gesetzt, dass das Argument des wirtschaftlichen Risikos durchdringt. Aber je näher das Abstimmungsdatum rückte, desto klarer wurde, dass Einwanderung als Thema viel stärker zog. Und darauf hatten wir keine Antwort."
    "Unleashing Demons" heißt das Buch folgerichtig, zu Deutsch etwa: "Entfesselte Dämonen". Der Hass auf Einwanderer, einmal von der Leine gelassen, lässt sich, auch das zeigt sich jetzt in Großbritannien, nur schwer wieder einfangen.
    Jeden Winkel des Dramas ausgeleuchtet
    Wer sich als Kontinentaleuropäer auf eine sachliche Spurensuche begeben will, ist mit drei etwas ausgewogeneren Darstellungen besser bedient. Der Huffington-Post-Reporter Owen Bennett, intimer UKIP-Kenner, prangert in "The Brexit Club" an, wie skrupellos die Populisten von UKIP Anti-Ausländer- und Anti-Establishment-Instinkte kitzelten. Gary Gibbon hingegen vom Fernsehsender Channel 4 News konzentriert sich in "Breaking Point" auf die himmelschreienden Fehleinschätzungen der Brexit-Gegner.
    Diese beiden kenntnisreichen Teilbetrachtungen werden allerdings deutlich übertroffen von der herausragenden Gesamtschau, die Tim Shipman geschrieben hat. Er leitet das Politikressort der Sunday Times und zeigt sich in seinem Buch "All Out War" als überzeugter "Remainer". Großbritannien werde nach dem Brexit zu einem selbstbezogenen Land, von der Welt abgewandt, so seine Prognose.
    Ob die stimmt, sei dahingestellt; ziemlich sicher aber stimmt Shipmans Diagnose; denn der Autor hat jeden Winkel dieses Dramas ausgeleuchtet und mit fast jedem relevanten politischen Entscheider gesprochen, der beim Brexit-Referendum seine Finger im Spiel hatte. Das ist leider zugleich der Pferdefuß seiner 630 Seiten dicken Darstellung: Wer nicht voll konzentriert liest, verliert sich im Anekdotischen.
    Die Fehler der "Remainer"
    Shipman kommt zu dem Schluss, dass das Referendum auch anders hätte ausgehen können - wenn die Pro-Europäer die Sache nur halb so ernst genommen hätten wie die Gegenseite:
    "Wenn nur 600.000 Leute anders abgestimmt hätten, hätten wir ein anderes Ergebnis gehabt. Und da gab es eine Menge, was David Cameron während dieser Kampagne falsch gemacht hat; einiges, womit er die 600.000 hätte überzeugen können."
    Doch auch die Labour-Partei unter Jeremy Corbyn trägt, das wird hier sehr klar, erhebliche Mitschuld am Ausgang der Brexit-Abstimmung. Corbyn, anders als die meisten Labour-Abgeordneten selbst ein Europa-Kritiker, ließ sich nur butterweiche Bekenntnisse zu Europa entlocken und blieb bestenfalls unengagiert - vor allem, weil er seinem Tory-Rivalen Cameron keinen Erfolg gönnte.
    "Bei einem Treffen der pro-europäischen Kabinettsmitglieder hat die Tory-Wirtschaftsministerin Anna Soubry, deren Wahlkreis in Nottinghamshire immer auf der Kippe zwischen Tories und Labour stand, warnend gesagt, sie sorge sich um die Labour-Wähler. Deren Unterstützung für die "Remain"-Kampagne sei sehr verhalten, und Labour tue überhaupt nichts dagegen."
    Die Wirkung von Unwahrheiten
    Shipman beschreibt in seinem Buch auch die Strippenzieher der "Leave"-Kampagne und ihre Strategie. Da ist zum Beispiel der intellektuelle "posh boy" und britische Europaabgeordnete Daniel Hannan, oder, hemdsärmeliger, Dominic Cummings. Er verpasste der "Vote-Leave"-Kampagne die Ruchlosigkeit, der das "Remain"-Lager am Ende so hilflos gegenüberstand.
    "Vote Leave" versprach den Wählern: Nach dem Brexit würden jede Woche 350 Millionen Pfund ins britische Gesundheitssystem fließen. Eine glatte Lüge, schnell entlarvt, aber Cummings hielt bis zum Schluss daran fest.
    "'Holt Euch die Kontrolle zurück' war ein brillanter Slogan. Von 350 Millionen Pfund zu sprechen war natürlich skandalös, es war einfach nicht wahr, aber das hielt sich hartnäckig, obwohl so viele kritisierten, dass es gelogen war. Bei der Zielgruppe kam das einfach gut an."
    Zugpferde für die Intellektuellen
    "Remain" blieb in der Defensive: Die Pro-Europäer hatten einer manipulativen Yellow-Press, die die Labour-Wählerschaft in ihren Vorurteilen gegen Ausländer und Eliten bestätigte, nichts entgegenzusetzen. Ebenso wenig kamen sie gegen Boris Johnson und Michael Gove an, die Zugpferde für die gebildeten Tories:
    "Johnson und Gove haben zwar nicht den Sieg eingefahren, aber sie haben ihn möglich gemacht, weil sie der Brexit-Sache Glamour, Öffentlichkeit und intellektuelles Gewicht verliehen haben."
    Die weltoffene britische Mitte, als Establishment beschimpft, hatte weder der alt-konservativen Sehnsucht nach früherer britischer Größe noch der platten, ausländerfeindlichen Schmutzkampagne etwas entgegenzusetzen.
    Versagen pro-europäischer Politiker
    Weder die gemäßigten Tories noch Labour hatten das Format, den Wählern reinen Wein einzuschenken: dass es nicht die EU-Regulierung oder die Zuwanderung waren, die ihre Situation verschlechtert hatten, sondern eine hausgemachte Politik, die die Bedürftigen im Lande jahrelang vernachlässigt hat.
    Und so kommt Tim Shipman in seiner brillant recherchierten und exzellent geschriebenen Gesamtschau zu dem Schluss, dass das Brexit-Votum vermeidbar gewesen wäre. Dass es doch so kam, erklärt er nicht nur mit der populistischen Eliten-, Europa- und Ausländerverhöhnung, sondern vor allem mit dem krassen Versagen vieler pro-europäischer Tory- und Labour-Politiker, die zu spät, zu zaghaft oder mit falschen Mitteln für einen Verbleib in der EU gekämpft hatten.
    Arron Banks: "The Bad Boys of Brexit. Tales of Mischief, Mayhem & Guerrilla Warfare in the EU Referendum Campaign"
    Biteback Publishing, 368 Seiten, ca. 24 Euro.
    Owen Bennett: "The Brexit Club. The Inside Story of the Leave Campaign's Shock Victory"
    Biteback Publishing, 352 Seiten, ca. 14 Euro.
    Gary Gibbon: "Breaking Point. The UK Referendum on the EU and its Aftermath"
    Haus Curiosities, 92 Seiten, ca. 5 Euro.
    Craig Oliver: "Unleashing Demons. The Inside Story of the EU Referendum"
    Hodder and Stoughton, 420 Seiten, ca. 15 Euro.
    Tim Shipman: "All Out War. The Full Story of How Brexit Sank Britain's Political Class"
    William Collins, 688 Seiten, ca. 12 Euro.