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Brexit-Wahlverhalten
"Es ist eindeutig eine Klassenfrage"

Für die Mehrheit derjenigen Briten, die sich für "Leave" entschieden hätten, sei Brüssel einfach ein Symbol für Abgehobenheit, sagte der Politikwissenschaftler Klaus Stolz im DLF. Das Referendum habe die tiefen Risse, die sich durch die britische Gesellschaft ziehen, sichtbar gemacht, aber nicht ausgelöst, so Stolz.

26.06.2016
    Befürworter eines Austritts Großbritanniens aus der EU jubeln am 23.06.2016 in London auf der Wahlparty von Leave.eu. Die Briten stimmten an diesem Tag beim Referendum über den Austritt oder Verbleib Großbritanniens in der EU ab.
    Viele Befürworter eines Austritts Großbritanniens wollten die Kontrolle über ihr Land und ihr Leben zurückbekommen (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Michael Köhler: Ist der Brexit Folge eigentlich auch eine Folge gesellschaftlicher Spaltung im Königreich? Und wird sie sich vertiefen? Darüber habe ich mit Klaus Stolz gesprochen, er ist Politikwissenschaftler. Professor für Britische und amerikanische Länderstudien am Fachbereich Anglistik der Universität Chemnitz.
    Junge gegen Alte, Stadt gegen Land, Arbeitsplatzinhaber gegen Modernisierungsverlierer, soziale Abstiegsängste der Mittelschichten und Arbeiter gegen urbane, metropolitane Globalisierungsfreunde. Ist das der Riss, der durch die britische Gesellschaft geht?
    Klaus Stolz: Es ist auf jeden Fall ein Riss, der durch die Gesellschaft geht, aber es ist nicht ein Riss. Ich denke, es ist richtig zu sagen, dass Großbritannien hochgradig gespalten ist, aber in mehrfacher Hinsicht. Und dieser Riss ist offenbar geworden in diesem Referendum. Er ist nicht ausgelöst durch dieses Referendum, wird sich aber durch dieses Referendum in verschiedener Hinsicht verstärken.
    Köhler: Der britische Schriftsteller, Sachbuchautor und Journalist Robert Harris, knapp 60 Jahre, hat in einem Interview in der "Welt" gesagt: Viele der Menschen, die für den Brexit stimmen, protestieren eigentlich nicht gegen Brüssel, sondern gegen die moderne Welt?
    Stolz: Ja, würde ich sofort mit unterschreiben. Dieses Referendum war keine Abstimmung über zwei klar spezifizierte Optionen, wie Großbritannien sich mit anderen Ländern oder mit dem Kontinent auseinandersetzen soll. Das spielte eine untergeordnete Rolle, insbesondere aus der Perspektive der Brexitiers, also derjenigen, die Europa abgelehnt haben. Letztlich ist ganz klar, das ist die Stimme gegen die EU. Brüssel ist hier nur ein Symbol für das Establishment. Mindestens genauso gemeint ist London, die Metropole London, das internationale, multikulturelle London und das London der Banker und der Politiker.
    "Deutlicher Stadt-Land-Konflikt"
    Köhler: Sie haben zu Beginn unseres Gespräches gesagt, es sei ein mehrfacher Riss, ein mehrfacher Schnitt. In welcher Hinsicht? Ist es der deindustrialisierte Norden, wo Stahl und Kohle keine Rolle mehr spielen? Sind es die sozialen Abstiegsängste der unteren Mittelschichten und der Arbeiter? Klären Sie mich mal auf.
    Stolz: Ja es ist unterschiedlich und es ist an unterschiedlichen Stellen. Wir haben einen sozialen Riss, wir haben eine ökonomische Spaltung und wir haben eine territoriale, eine räumliche Spaltung dieses Landes, die ganz stark wird. Die räumliche Spaltung, die spiegelt sehr stark, nicht hundertprozentig, aber sehr stark auch die soziale und ökonomische Spaltung wieder. Das sehen wir da.
    Wenn wir jetzt aufs Soziale und Ökonomische gehen, dann haben wir natürlich den hoch industrialisierten, ehemals hoch industrialisierten Norden, aber der ganze Norden hat nicht einheitlich gestimmt. Wir haben die Metropolen im Norden, die nach wie vor pro EU gestimmt haben, Manchester, Newcastle, die großen Städte. Sheffield war, glaube ich, gerade knapp unentschieden. Leeds war aber auch deutlich Remain, also proeuropäisch. Das heißt, wir haben auch da im Norden wieder einen deutlichen Stadt-Land-Konflikt.
    Je ländlicher wir gehen, umso stärker haben wir Ablehnung der EU. In den Städten finden wir einfach modernere Menschen, auch viele jüngere Menschen. Auch das hatten Sie ja vorher schon angesprochen. Da ist ein ganz klarer Jung-Alt-Konflikt auch drin. Das sind diese verschiedenen Konflikte: Soziales, Ökonomisches. Aber insgesamt ist es schon ganz klar, muss man ganz klar erkennen: Es ist eine Klassenfrage. Es ist eindeutig eine Klassenfrage. Ein Großteil der Brexitiers, derjenigen, die Europa ablehnen, sind Leute aus den untersten sozialen Schichten, während Sie können wirklich mit dem Einkommen nach oben gehen. Je weiter oben Sie stehen, umso eindeutiger wird’s Remain.
    Köhler: Da sind doch EU-Millionen in marode Hafenanlagen geflossen. Gerade die Fischer hätten doch Grund zu sagen, wir haben hier sehbar, spürbar Entlastung erfahren. Aber gerade die sind auf der Polling Station, in Wahllokal hingegangen und haben gesagt, nix wie weg.
    Stolz: Migration in der britischen Innenpolitik totgeschwiegen
    Stolz: Ja. Das ist einfach eine Erwartung, die sie hier haben, ein sehr stark rationales Wählerverhalten. Das wird uns vielfach auch in der Politikwissenschaft verkauft, finden wir aber tatsächlich nicht immer so. Es ist tatsächlich die Frage, wie wurde die Frage debattiert, und zwar nicht nur in den letzten zwei Tagen, sondern in den letzten Wochen und Monaten. Und das ist recht einfach. Das ist so, wie Sie es gerade gesagt haben. Es ist sehr stark zugespitzt worden.
    Die für Verbleib stimmenden haben ihre Kampagne eindeutig mit den zu erwartenden ökonomischen Folgen gefahren. Das war nicht von vornherein notwendigerweise zum Scheitern verurteilt. Genauso haben die Unionisten das Unabhängigkeitsreferendum in Schottland gewonnen. Das hat funktioniert. Hier hat es offensichtlich nicht gezogen, weil eine größere Masse an Menschen dieses Migrationsthema hatte. Es war ganz entscheidend, es hat nicht so viel mit der EU zu tun, es hat gezogen. Es hat unter anderem deshalb gezogen, weil Migration in den letzten zehn Jahren mindestens in der britischen Innenpolitik totgeschwiegen wurde.
    Köhler: Die Schotten wollen ein zweites Referendum. Treibt das EU-Referendum der Briten einen weiteren Keil ins Königreich?
    Stolz: Ja! Auf jeden Fall. Der Keil ist da. Es ist kein neuer Keil, der hier getrieben wird. Aber die Gefahr wird eindeutig größer. Schottland hat sich vor zwei Jahren für den Erhalt der Union ausgesprochen, aber natürlich unter der Voraussetzung, hier Teil der EU zu sein. Die Unionisten haben damals argumentiert, ihr lieben Schotten, bleibt doch bitte da, wenn ihr rausgeht, dann seid ihr auch aus der EU raus. Bitte schön, dann müsst ihr euch dort wieder hinten anstellen. Das wollt ihr sicher nicht.
    Jetzt ist es aber so, dass das Drinbleiben im UK dazu führt, dass man insgesamt aus der EU austreten muss, von England gegen den eigenen Willen aus der EU rausgezogen wird. Da hat Nicola Sturgeon und die SNP schon lange im Vorfeld gesagt, wenn das der Fall sei, dann würde sie das als ein Mandat, als ein Mandat für ein zweites Referendum ansehen. Ob es zu diesem Referendum kommt, ist noch nicht hundertprozentig gesagt. Das hängt nicht nur an ihr. Es hängt aber auch an ihrer Einschätzung, ob sie es gewinnen wird, und die ist nicht so eindeutig. Und es hängt, das vielleicht noch ganz kurz, selbstverständlich auch an einer britischen Regierung. Wir dürfen nicht vergessen, dass das letzte Referendum abgesprochen war, abgeklärt war. Die Kompetenz für Verfassungspolitik liegt in Westminster, nicht in Schottland.
    Köhler: Als ich im Zeitungskiosk war, da stand die "Bild"-Zeitung mit der Titelzeile "Outsch!" - Out für Englisch raus - zufälligerweise neben dem Titelblatt der "Psychologie heute". Auf der stand drauf: "Mut zur Unsicherheit". Ist dieses Referendum in der britischen Gesellschaft vielleicht auch eine Abstimmung darüber, dass die Unsicherheitszumutungen einfach so groß geworden sind, dass einfach der Risikodruck so groß ist, dass man meint, wir als Inselvölkchen, wir separieren uns jetzt und dann ist die Sache einfach gut?
    "Ich will wieder mehr Kontrolle über mein Leben"
    Stolz: Ich würde einfach so sagen, dass viele - es ist schwierig, hier ganz pauschal Aussagen zu machen für alle, für die ganzen 52 Prozent, die hier für Brexit gestimmt haben. Aber ein Großteil derer sind die Leute, die in prekären Arbeitsverhältnissen sind, die eine schlechte Wohnung haben, die wohnungssuchend sind, die auf schlechten Stundenlöhnen arbeiten. Die sehen jetzt riesige Gefahren, neue, nicht so sehr auf sich zukommende wie die Frage, was kann uns noch passieren.
    Sie sagen, so kann es nicht weitergehen, ihr verarscht uns alle, ehrlich gesagt. Und wie gesagt: Brüssel ist da einfach ein Symbol. Es ist das Symbol für Abgehobenheit, für Entscheidungen, die irrational sind, die von ganz weit weg getroffen werden, und da war die Botschaft, die die Brexitiers hatten, sehr gut gewählt und war sehr erfolgreich.
    Das war: Taking back Control, Kontrolle wiedergewinnen. Das suggeriert auch, die Botschaft war, Großbritannien als Land, als Nation soll Kontrolle hauptsächlich über seine Grenzen wiedergewinnen. Aber selbstverständlich suggeriert das, wenn wir jetzt bei der Psychologie sind, für einzelne Wählergruppen: Ja, genau das ist es, was ich will, ich will wieder mehr Kontrolle über mein Leben zurückgewinnen, das mir weggenommen wurde von denen da oben. Jetzt ist EU eventuell nicht mehr Teil von denen da oben. Ob die Kontrolle bei denen ist, die jetzt für Brexit gestimmt haben, wage ich zu bezweifeln.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.