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Buch der Woche
Gewaltiges Epochenbild des Balkans

Miroslav Krleža gilt als wichtigster Autor Kroatiens. Nach 50 Jahren ist sein umfangreiches Hauptwerk "Die Fahnen" ins Deutsche übersetzt worden: ein zeitgeschichtliches Epos über die Vor- und Nachgeschichte des Ersten Weltkriegs, abseits der gewohnten Narrative einer westorientierten Geschichtsschreibung.

Von Wolfgang Schneider | 10.09.2017
    Buchcover: Miroslav Krleža: Die Fahnen
    Das umfangreiche Hauptwerk Miroslav Krležas umfasst mehr als 2.000 Seiten - seine Handlung erstreckt sich über ein Jahrzehnt (Wieser Verlag / imago/Pixsell)
    Miroslav Krleža wurde oft als "Goethe" Kroatiens bezeichnet, was seinen Rang und seine Vielseitigkeit kennzeichnen mag, aber ein unglücklicher Vergleich ist: Denn das hart erarbeitete "olympische" Temperament und die Selbstbeherrschung des Weimarer Klassikers sind diesem Autor gänzlich fremd, wie man beim Lesen von "Die Fahnen" rasch bemerkt: Solch ausdauernde literarische Wut ist ganz ungoethisch.
    Krleža klagt an: die korrupte Politik, die Unterdrückung im Vielvölkerstaat, die Riesenschweinerei des Krieges, Elend und Jammer des menschlichen Lebens im Allgemeinen.
    Politischer Familienkrieg
    Zur Grundstruktur des Romans gehört der Vater-Sohn-Konflikt der zwei Kamilos. Hauptfigur ist der 1891 geborene Kamilo de Emerički, ein brillanter junger Kopf und Rebell mit messerscharfem Moralismus, den der Autor mit eigenen Erfahrungen und Leidenschaften ausstattet. Der Vater des zornigen jungen Mannes heißt ebenfalls Kamilo de Emerički und gehört zu den Honoratioren des Landes, ein hoher Beamter, Leiter des Polizeiressorts in Kroatien. Während der junge Kamilo das "Völkergefängnis" der Donaumonarchie hasst und auch das spätere Königreich Jugoslawien wegen seiner einfach weiter amtierenden politischen Elite verachtet, ist der ältere Kamilo ein Musterbeispiel genau dieser wendigen Machtspieler, die sowohl unter dem Regime der Ungarn wie auch im serbisch dominierten Jugoslawismus ihren Posten finden und bereitwillig kollaborieren; nach 1918 wird er gar Minister.
    Schon der erste Band beginnt mit politischem Familienkrieg. Zum großen Verdruss des alten Emerički hat sein Sohn eine bissige Polemik über den Verrat der kroatischen Interessen veröffentlicht. Ein Text, der Anstoß erregt in Regierungskreisen. Nun reist der Vater - voller Scham und Wut - nach Budapest, um persönlich beim ungarischen Ministerpräsidenten zu antichambrieren und eine Entschuldigung vorzubringen. Zuvor führt er ein erregtes Gespräch mit dem Sohn, über den kroatischen Nationalismus, das Befreiungspathos und die "russischen" Methoden, vor denen manche dabei nicht zurückschrecken: Attentate und Anschläge. Aber insgeheim hat er doch einen gewissen Respekt und Vaterstolz.
    "Wir pfeifen auf eure Beamten und eure Demokratie! Wir sind die Generation, die der kultivierten Welt unser Kroatien als ein souveränes, freies Land vorstellen wird, gerade deshalb, weil wir Europa sind, und weil wir keine ungarische Kolonie bleiben wollen! Wir knien nicht vor dem ungarischen König wie ihr, wir denken mit unserem Kopf, und ihr Herrschaften werdet längst verweste Salonröcke sein, wenn die Geschichte von uns reden wird.
    So hörte Durchlaucht seinem Einzigen zu, wie er die Parolen eine nach der anderen nachplappert, und statt diesem demagogischen Quatsch entschieden zu widersprechen, kapituliert er widerstandslos vor Kamilos schwärmerischer Geschwätzigkeit, und alles zieht ihn zu diesem Jungen hin, der derart überzeugend suggestives Zeug von sich gibt, und man muss zugeben, der Esel ist helle und frech, und am Ende, vielleicht hat er auch gar nicht so unrecht."
    Erster Weltkrieg in der Literatur
    Die dramatische erste Krisenphase des 20. Jahrhunderts ist in vielen Großwerken der Literatur behandelt worden. Der "Paukenschlag" des Kriegsausbruchs von 1914 (so die Formel in Thomas Manns "Zauberberg") folgt dabei auf die Darstellung einer Vorkriegswelt, die geprägt ist von einem langen, schal gewordenen Frieden.
    Diesem Befund einer sehr zivilen, aber innerlich mürbe gewordenen Spätzeit, die unverhofft in den Krieg schlidderte, der anfangs von vielen eher als eine Art Abenteuer und historische Erfrischung begrüßt wurde - diesem Befund widerspricht Krležas Roman durch seine dezidiert südosteuropäische Perspektive. "Das blutige Jahrzehnt" wird dort bereits 1912 angesetzt, mit den Balkankriegen.
    Lanzenreiter der osmanischen Kalvalerie stehen 1912 zusammen. 
    Lanzenreiter der osmanischen Kalvalerie 1912 - die erste Kriegsphase des 20. Jahrhunderts fand Einzug in viele literarische Werke (Library of Congress / dpa)
    In deren Verlauf kam es zu ethnischen Säuberungen und Vertreibungen sowie zu grausamen Verteilungskämpfen, gewissermaßen um die Beute aus dem niedergehenden Osmanischen Reich. Griechenland, Bulgarien und Serbien waren die Hauptkontrahenten.
    Kroatische Gereiztheit und Magyarophobie
    In "Die Fahnen" ist vor allem der Zweite Balkankrieg von Bedeutung, der mit einem triumphalen Sieg der Serben über die Bulgaren in der Schlacht von Bregalnica endete. Er verschob das Gleichgewicht unter den späteren jugoslawischen Völkern und brachte die Serben in eine dominierende Position gegenüber den Kroaten und Slowenen; das hybride serbische Selbstbewusstsein war dann ja auch ein Zündmechanismus bei der Auslösung des Ersten Weltkriegs.
    Um die kroatische Gereiztheit und Magyarophobie vor 1914 zu verstehen, sind ein paar Hintergrundinformationen hilfreich. Lassen wir sie uns von Kamilo de Emerički junior selber geben.
    In einem seiner Artikel schreibt er: "Es ist bekannt, dass nach dem Vorbild des österreichisch-ungarischen 'Kompromisses' von 1867 ein Jahr später die Variante des kroatisch-ungarischen 'Kompromisses' unter besonderen politischen und strategischen Umständen unterzeichnet wurde: Nach der Blamage der österreichischen kaiserlichen Armee bei Königgrätz, unter den Donnerschlägen der preußischen Kanonen, in der wenig beneidenswerten Rolle der Schiffbrüchigen, blieb Habsburg nichts anderes übrig, als sich unter die ungarische quasirevolutionäre 'Souveränität' von 1848 zu retten. Um im letzten Moment die Garde der ungarischen Grafen zu erbitten, verzichtete Habsburg auf seine drei Königreiche Kroatien, Slawonien und Dalmatien, und stellte Kroatien vor das Fait accompli einer Kapitulation…"
    So kam Kroatien unter die Ungarn. Kamilos kroatischer Nationalismus lässt sich postkolonial verstehen, als Aufbegehren gegen den Imperialismus; an einer Stelle vergleicht Kamilo die Lage der Kroaten gar mit der Situation der unterdrückten Marokkaner. Die Herrschaft der Donaumonarchie hatte allerdings ihre plausiblen Hintergründe. Im siebzehnten Jahrhundert, als das Osmanische Reich und der Islam immer wieder Richtung Westen vorstießen, bedeutete Habsburg als Schutzmacht für Kroatien das kleinere Übel gegenüber der "türkischen Katastrophe", wie es im Roman einmal heißt.
    Kaskadenhafte, atemlose Beschreibungen
    Krležas wichtigstes Stilmittel ist der rhetorische Furor - kaskadenhafte, atemlose Beschreibungen, Dialoge und Streitgespräche, die über fünfzig Seiten oder mehr gehen und unaufhörlich die Reizthemen der damaligen mitteleuropäischen Politik umkreisen. Die üblichen Vergleiche mit Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" sind deshalb unangebracht. Krleža schreibt keine ironisch funkelnde, vielfältige Aspekte der Moderne reflektierende Prosa wie Musil; er verschmäht die leisen Töne. Auch der melancholische Schmelz, mit dem Joseph Roth im Rückblick die Donaumonarchie zeichnete, ist ihm völlig fremd.
    Der junge Kamilo hat allerdings nicht nur Leidenschaft für die Politik, sondern auch für eine schillernde Frau: die attraktive, aber deutlich ältere Lyrikerin Ana Borongay. Sie ist verheiratet mit Professor Ottokar Erdély, Herausgeber einer wichtigen Zeitschrift und seinerseits ein Förderer Kamilos. Dieser wiederum ist eigentlich mit einer jüngeren Frau aus bürgerlichem Haus verlobt - viele Gründe also für Eifersucht und Rivalitätsgefühle.
    Die Figur der genialischen "Poetessa" Ana wird von Krleža wie aus dem Lehrbuch der Jahrhundertwende-Dekadence inszeniert: Die "Diva der ungarischen Moderne" verachtet den "männlichen" Politikbetrieb, dem sie die Passionen, Erkenntnisreize und vermeintlichen Ewigkeitswerte von Kunst und Literatur entschieden vorzieht. Ihre Gesundheit ist seit langem unterhöhlt; die Lunge, versteht sich, ein Tuberkulose-Herd. Trotzdem frönt sie einem ausschweifenden Leben und vielen Genussmitteln. So wie der Roman bei der Darstellung der kroatischen Frage virtuose Satzkaskaden entwickelt, wird auch, wenn es um die Vergegenwärtigung von Anas Prächtigkeit geht, nicht mit Worten gespart.
    "Die warme Rundung von Anas Oberschenkel, ihre im Gegensatz zum wohlgenährten Fleisch unglaublich schlanke, mädchenhafte Taille, die Monumentalität ihrer vom Duft des feuchten Heus getränkten, marmornen Hüften. Das lyrische Oval der Schultern mit dem warmen, unter dicken, dichten Zöpfen vom Schweiß benetzten Hals, die wunderbare Offenbarung einer nackten Frau…"
    Nichts für Menschenfreunde
    Ein weiteres wichtiges Motiv des ersten Bandes ist der Tod von Kamilos Mutter. In drückender Hitze wohnt er der Gala-Beerdigung bei, in Schweiß zerfließend, bedrückt von dem schwarzen Pomp, völlig fremd zwischen den Frack- und Zylinderträgern. Nach seinen aufrührerischen politischen Artikeln fühlt er sich beobachtet, und das Trommelfeuer der Blicke gibt eine Ahnung von Krležas Einsatz rhetorischer Steigerungseffekte.
    "Inmitten der Masse neugieriger Augen bemerkt Kamilo fahle, haftende, kleine, welke, ausdruckslose, trübe, müde, blasse Beamtenblicke, die ihn mit ihrem glasigen Schimmer indiskret streifen, wässrige, dunkle, rätselhaft kalte, seltsame Augen, Vogelaugen, graue, gierige, hungrige, hinterhältige, dumme, tote Augen, eingefallen und verborgen unter niedrigen, buschigen Brauen, halb blinde Hühneraugen, schläfrige, stumpfe, schlaue und böse Augen (…), und inmitten des Regens dummer Augen krabbeln die fetten Larven der immer unflätigeren und hässlicheren Blicke, es ist kein einziges warmes, barmherziges, ehrliches Augenpaar da…"
    Seitenlang werden - aus der Perspektive des angewiderten Kamilo - die Trauergäste und ihr Kondolenzgemurmel am Grab beschrieben. Nichts für Menschenfreunde, im Gegenteil, bei solchen Passagen versteht man gut, warum Jean-Paul Sartre Krleža bewunderte und meinte, dass er selbst seinen grundlegenden Roman "Der Ekel" so wohl nicht geschrieben hätte, wenn ihm der sozialkritische Existentialismus des Kroaten früher bekannt gewesen wäre.
    Jean Paul Sartre 1979. Schwarz-Weiß-Aufnahme.
    Jean-Paul Sartre bewunderte Miroslav Krleža (AFP / Gabriel Duval)
    Reizvolles Beziehungsgeflecht
    Bei aller - streckenweise auch strapaziösen - Länge bekommen "Die Fahnen" eine solide Grundstruktur durch die Figurenkonstellation, die nie unüberschaubar wird, sondern ein reizvolles Beziehungsgeflecht repräsentativ angelegter Gestalten bietet. Neben der konfliktgeladenen Beziehung zum Vater sind für Kamilo vor allem zwei Jugendfreundschaften prägend. Da ist auf der einen Seite der schwärmerisch verehrte Joja, gewissermaßen die radikalere Version seiner selbst: ein junger Intellektueller, bei dem die politische Wut über die "ungarischen Barone" in Gewaltbereitschaft übergeht. Das beginnt mit dem Einwerfen der Fensterscheiben von in Kroatien lebenden Ungarn und setzt sich fort in kleineren Sprengstoffanschlägen. Schon als Schüler wird Joja nach einem missglückten Bombenanschlag verhaftet, später verbringt er viele Jahre in einem serbischen Gefängnis.
    Auf der anderen Seite steht der Schulfreund Amadeo Trupac, der über eine andere Art von Intelligenz verfügt: jene, die immer zum eigenen Vorteil arbeitet. In den Gesprächen mit ihm erweist sich Kamilo, ungeachtet seiner Liebe zu zynischen Pointen, als Idealist, der mit seinem an Nietzsche geschulten Wahrheitswillen zwar die Verlogenheit der Gesellschaft und die Prätentionen der Politiker und Intellektuellen durchschaut, aber letztlich selbst illusionären Hoffnungen anhängt, etwa wenn er die Befreiung Kroatiens als schönen Nebeneffekt der serbischen Siege für möglich hält. Amadeo Trupac wäscht ihm den Kopf.
    "Erst jetzt ist mir klar geworden, weshalb ihr jungen Herren für die Serben seid, natürlich wegen der serbischen Bataillone und Kanonen, sozusagen, ja, die Serben bringen uns die Kanonen, ja, die Serben bringen uns die Befreiung schön verpackt, wie Hochzeitsgäste, Streitkräfte, Zoll, Polizei, Dekrete, Staat, capisco signore, tutto in ordine, va bene, aber ihr irrt euch, meine Herren, und pass gut auf, noch nie hat man gehört, dass sich eine fremde Staatsmaschine an eine fremde Deichsel hat spannen lassen, um einen fremden Wagen zu ziehen, das ist Staatslogik an sich, nach der Natur der Dinge, und wenn ihr glaubt, ihr könntet die serbischen Bajonette für eine imaginäre ‚Befreiung‘ nutzen, dann seid ihr dümmer als jene dummen Vögel mit dem Kopf im Sand."
    Die Frustrationen des Ehelebens
    In den späteren Partien des Werkes wird Amadeo zum Kriegsgewinnler; nach 1918 führt er als erfolgreicher Geschäftsmann ein feudales Leben. Seine Diskussionen mit Kamilo gehören zu den starken Passagen des Romans, gerade weil es in ihnen nicht nur um Politik geht, sondern - zum Beispiel - auch um die Frustrationen des Ehelebens. Amadeo und Kamilo heiraten Schwestern; und unter Schwagern erzählt man sich vieles.
    Im Gegensatz zu Amadeo erleidet Kamilo die Verhältnisse, überall und jederzeit. Vor allem den Militärdienst für die verhasste Doppelmonarchie empfindet er als tief demütigend. Mit satirischem Blick nimmt Krleža den Zwangsapparat ins Visier, etwa in Gestalt des Generals der Kavallerie Ritter Martinenghi, der sich leutselig und kameradschaftlich gibt. Im Gespräch mit Kamilo holt er Kognak und Knackwürste aus seinem Maria-Theresia-Sekretär. Und setzt an zu einer Suada wie eine Figur aus einer Thomas-Bernhard-Komödie.
    "Schauen Sie, hier habe ich Knackwürste auf Soldatenart, aus dem Papier, als ob wir biwakieren, wissen Sie, wir Soldaten, wir lieben es, mit unserer spartanischen Lebensweise zu kokettieren, ich zum Beispiel liebe Knackwürste über alles, das ist mein Lieblingsfleisch, und zwar direkt aus dem Papier, mit dem Taschenmesser, mit Kommissbrot, denn unser österreichisches Kommissbrot ist das beste der Welt, eine wirkliche Delikatesse, und was noch wichtig ist, es wirkt wie Morphium, es beruhigt einfach unsere Nerven, wenn unsere Armada schnarcht, dann nur wegen dieses Kommissbrots."
    Soldatenleben nichts als Menschenquälerei
    Furios schildert der Roman die Militär- und Kriegserfahrungen. Kamilo wird mehrfach schwer verwundet, bei der Explosion eines Munitionslagers verliert er beinahe seine Beine. Bereits 1922 hatte Miroslav Krleža mit "Der kroatische Gott Mars" einen bedeutenden Novellenzyklus über das Schlachthaus des Ersten Weltkriegs vorgelegt, gewissermaßen eine Gegendarstellung zu Ernst Jüngers Stahlgewitter-Euphorie, wo der vom Zivilleben angeödete Bürgersohn zum Krieger mutiert, auf der Suche nach Ausnahmezuständen. Für Krleža dagegen ist das Soldatenleben nichts als Menschenquälerei, Demütigung, Dreck, Schlamm und Gestank. Und Verblödung.
    Österreichische Soldaten erschießen während des ersten Weltkriegs in Serbien jugoslawischen Patrioten nahe der österreichischen Linien. 
    Österreichische Soldaten erschießen während des ersten Weltkriegs in Serbien jugoslawischen Patrioten ( National Archives and Records Administration / dpa)
    Aber sein Roman bietet zu diesem Thema nicht nur Elendsnaturalismus, sondern immer wieder auch Kabinettstücke parodistisch-satirischer Prosa, etwa wenn auf eineinhalb Seiten die Qualitäten des österreichisch-ungarischen Repetiergewehrs vorgeführt werden. Oder wenn das Kapitel "Tedeum für den Sieg bei Przsemysl" mit höhnischer Akribie und Aufzählungslust die pompösen patriotischen Siegesparaden im Jahr 1915 schildert, die sich im Rückblick, vor dem Hintergrund der totalen Niederlage von 1918, wie eine Farce ausnehmen.
    In der Anarchie des Kriegsendes gibt es auch auf kroatischem Gebiet Aufstände und Plünderungen. Kamilos Vater bekommt es auf seinem Gut mit einer, wie es heißt, "aufgebrachten Bauernmeute" zu tun, die radikale Parolen brüllt und - inspiriert von der Russischen Revolution - mit der Enteignung sogleich beginnen will. Knapp wird Lynchjustiz verhindert.
    Schlüsselszene mit kafkaesker Rede
    Der alte Kamilo de Emerički kann die Serben, die gerade rechtzeitig zur Hilfe kommen, nicht genug loben.
    "Ich kann Ihnen nicht genau sagen, von welcher Seite der erste Schuss fiel, wir im Haus hatten nicht viele Waffen, einige Jagdgewehre und zwei, drei Militärkarabiner, das war alles, jedenfalls wurde das Feuer eröffnet, und ich habe mit fünf meiner Leute den Eingang mehr als zwei volle Stunden verteidigt, die Meute war plötzlich unschlüssig geworden, aber als uns die Munition ausging, kam es zum Sturmangriff, da rettete uns aus der vollkommen aussichtslosen Situation, als sie schon mit Äxten das Haupttor eingeschlagen hatten, eine serbische Kavallerieschwadron unter dem Kommando eines sympathischen Rittmeisters, nie in meinem Leben werde ich vergessen, wie triumphal, ja geradezu erzengelhaft triumphal die silberhelle, Gott segne sie, Fanfare der Kavallerietrompete erscholl inmitten der besoffenen Leibeigenenmeute…"
    Diese Schlüsselszene zeigt, wie die Serben, von denen sich Kamilo die Befreiung erhofft hat, die Herrschenden und Privilegierten stützen, so dass Honoratioren wie der alte Emerički mit fliegenden Fahnen von der Ungarndominanz des Kaiserreichs zur Serbendominanz Jugoslawiens hinüberwechseln. Mit dieser Szene beginnt auch das finale Zerwürfnis zwischen den beiden Kamilos. In einer kafkaesken Rede verwirft der alte Emerički am Ende den eigenen Sohn.
    Abseits der gewohnten Narrative
    2100 Seiten - "Die Fahnen" sind ein Lesemarathon, bei dem es auch schon mal zu Erschöpfungszuständen und Seitenstechen kommt. Dieser Roman ist vor allem eins: Rede. Mit geradezu überwirklicher Eloquenz debattieren die Figuren über die politischen Fragen, die die kroatische Intelligenz vor hundert Jahren umtrieben. Viel gerühmt wurden die Sprachmacht und die Polyphonie des Werkes. Erstere vermittelt sich auch in der hervorragenden deutschen Übersetzung von Gero Fischer und Silvija Hinzmann, während die Vielfalt der Sprachschichten und Dialekte allenfalls zu erahnen ist.
    Irritieren kann das Ausmaß, mit dem Krleža das verletzte Nationalgefühl als geschichtsbildende Kraft thematisiert. Zumal "Die Fahnen" eben nicht von einem rechten Autor, sondern von einem überzeugten Sozialisten und Tito-Anhänger geschrieben wurde. Dieses große Werk der kroatischen Literatur ist Lesern zu empfehlen, die sich für die Vor- und Nachgeschichte des Ersten Weltkriegs interessieren, abseits der Großmachtdiplomatie und der gewohnten Narrative einer westorientierten Geschichtsschreibung.
    Miroslav Krleža: "Die Fahnen"
    Aus dem Kroatischen von Silvija Hinzmann und Gero Fischer
    Wieser Verlag, Klagenfurt 2016, 2.170 Seiten, 75 Euro.