Montag, 06. Mai 2024

Archiv

Buchkritik
Brasilien - Land des Fußballs

Rio de Janeiro, Maracana-Stadion am 16. Juli 1950, nachmittags um kurz nach halb fünf. Brasilien kassiert den Gegentreffer zum 1:2 gegen Uruguay. Der Gastgeber verspielt den Weltmeisterschafts-Titel vor rund 200.000 Zuschauern. Die nationale Katastrophe ist eingetreten.

Von Jonas Reese | 22.12.2013
    Uruguays Ghiggia erzielt im WM-Finale 1950 den 2:1-Siegtreffer gegen Brasilien.
    Die nationale Katastrophe: Uruguays Ghiggia erzielt den 2:1-Siegtreffer gegen Brasilien. (picture alliance / EFE)
    Wer Brasilien verstehen will, der kommt an diesem Tag nicht vorbei. Er ist quasi Brasiliens Negativ-Gegenstück zu Deutschlands "Wunder von Bern".
    "Während sich die Uruguayer über ihren zweiten WM-Titel freuten, waren die Brasilianer fassungslos. Nur ganz langsam verließen Zuschauer und Spieler das Stadion. Augenzeugenberichten zufolge kam die Stimmung in der Stadt der eines riesigen Begräbnisses gleich. Die Enttäuschung entlud sich jedoch nicht in Gewalt, sondern führte zu einer Art nationalen Lähmung."
    Als „Maracanazo“ geht dieser Tag in die Geschichte des Landes ein. Als größter anzunehmender Unfall. Denn noch vor dem entscheidenden Spiel kündigten die hiesigen Tageszeitungen überzeugt an: „Heute wird Brasilien Weltmeister!“
    Martin Curi nutzt dieses Ereignis, um in seinem Buch ein zentrales Merkmal der brasilianischen Mentalität zu beschreiben. Den „Straßenköterkomplex“. Ein ständiger Wechsel zwischen Überheblichkeit und Minderwertigkeitskomplex.
    "Der Straßenköterkomplex ist ein Begriff, der von dem Schriftsteller Nelson Rodrigues kreiert wurde. Bis heute ist er sehr angebracht. Die äußerst schwankende Selbstwahrnehmung der Brasilianer. Also wenn man eine WM verliert, man sagt ja hier, man hat eine WM verloren, anstatt nicht gewonnen, dann fühlt man sich wie ein Dritte-Welt-Land, bzw. wenn dann eine WM gewonnen wird, dann fühlt man sich wie die besten der Welt. Dann hat man endlich die Imperialisten besiegt."
    Von dem Zustand der Nationalmannschaft lässt sich eine direkte Verbindung zum Seelenzustand des Volkes ziehen. Das arbeitet Curi anhand von jeglichen WM-Turnieren der Vergangenheit präzise heraus.
    Und auch zentrale gesellschaftliche und politische Veränderungen lassen sich an der Selecao ablesen. Ebenfalls ist hier die Heim-WM 1950 bestes Beispiel.
    "Ganz eindrücklich war 1950. Das Thema der sogenannten Rassendemokratie stand auf der Tagesordnung. Dann wurde diese WM also verloren. Und von daher erst mal darauf zurückgeschlossen, dass die Idee der Rassendemokratie doch nicht so gut wäre."
    Die Nationalelf als gelebtes Beispiel dieser "Rassischen Demokratie" war gescheitert. Das Experiment der "bunten Nationalmannschaft", in der Dunkelhäutige und Weiße gleichberechtigt und ebenbürtig zusammenspielten, war nicht von Erfolg gekrönt.
    Dabei galt genau dieser Ansatz zwölf Jahre vorher noch als Erfolgsgarant für den Gewinn des ersten WM-Titels Brasiliens. Damals schrieb eine Tageszeitung, „dass die Brasilianer nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer ethnisch gemischten Mannschaft gewonnen hätten“. Und das, während in Europa die Nationalsozialisten auf dem Vormarsch waren.
    Allein durch die nüchterne aber keinesfalls langwierige Reise durch die vergangenen Fußball-Weltmeisterschaften arbeitet Curi im ersten Teil seines Buches eine Vielzahl interessanter Parallelen zwischen Fußball und gesellschaftlicher Entwicklung heraus.
    Im zweiten Teil ist der Autor dann in der Gegenwart unterwegs. Er untersucht jegliche Gesellschaftsbereiche, in die der Fußball heute in Brasilien vorgedrungen ist: Bildung, Wirtschaft, Politik, Emanzipation, Medien, Religion und ethnische Minderheiten.
    In verschiedenen Reise-Reportagen nimmt Curi dann den Leser mit etwa zu den Olympischen Spielen der Indianer in den Amazonas, in die Büros verschiedener Ex-Fußballer, die sich nun in der Politik verdingen oder in die Redaktion der größten Fußballzeitung des Landes.
    "Mein Buch ist auf der Idee aufgebaut, dass der Fußball das Nationalritual Brasiliens ist, auf dem jegliche gesellschaftlichen Bereiche diskutiert werden. Von daher bin ich dann eben auf die Suche gegangen, in welche gesellschaftlichen Bereiche der Fußball hineinreicht. Mehr oder weniger zufällig bin ich dann auf verschiedene Bereiche gestoßen. Diese Auswahl war dann mehr oder weniger zufällig und hat keinen Anspruch darauf komplett zu sein."
    Die eher zufällige Auswahl Curis ist einerseits Schwachpunkt und andererseits Stärke seines Buchs. Zum einen wirkt die Anreihung der Kapitel etwas willkürlich, ohne zentrale Fragestellung oder These. Andererseits sind die Reportagen, trotz mancher sprachlichen Schwäche, durchgehend eindrücklich und wirken über ihren unmittelbaren Schauplatz hinaus. So erhält der Leser schließlich einen, wenn nicht umfassenden, doch tief gehenden Einblick in die brasilianische Kultur und Gesellschaft.
    Erfrischend einfach bricht Curi das heutige Kommerzprodukt Fußball auf das herunter, was es ebenfalls ist: eine soziologisch und anthropologisch höchst interessante Massenbewegung.
    Damit ist Martin Curis "Brasilien - Land des Fußballs“ eine Lektüre, die sich nicht nur für Fußball-Fans lohnt.
    Für Besucher der kommenden Weltmeisterschaft, die sich nicht nur auf den Partymeilen herumtreiben wollen, sondern sich für das Gastgeber-Land näher interessieren, ist das Buch dagegen beinahe Pflichtlektüre. Nicht zuletzt wegen eines kleinen Servicekapitels im Anhang: bestehend aus Kurzinfos zu jeglichen WM-Spielstädten, Statistiken und einem deutsch-portugiesischen Fußball-Wörterbuch.