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Bundestagswahl
Behinderte außen vor?

Fast 85.000 Menschen dürfen nicht an der Bundestagswahl teilnehmen - etwa weil sie psychisch erkrankt oder geistig behindert sind und eine "Betreuung für alle Angelegenheiten" haben. Eine Wahlrechtsreform, die das geändert hätte, war zuletzt gescheitert. Und selbst für Menschen mit Behinderungen, die wählen dürfen, gibt es viele Barrieren.

Von Claudia van Laak | 30.08.2017
    Ein blauer Kugelschreiber liegt auf einem Wahlzettel für die Bundestagswahl 2017
    Viele Behinderte dürfen bei der Wahl kein Kreuzchen machen. (dpa/picture alliance/Gregor Fischer)
    85.000. So hoch ist etwa die Zahl derjenigen Deutschen, die bei der Bundestagswahl am 24. September nicht abstimmen dürfen. Der kleinere Teil, weil er eine Straftat begangen hat, schuldunfähig ist und deshalb in der Psychiatrie untergebracht ist. Der größere Teil, weil er geistig behindert ist und deshalb einen gesetzlichen Betreuer hat – und zwar für alle Bereiche des Lebens. Dies betrifft etwa 80.000 Menschen. Die Behindertenbeauftragte des Bundes, Verena Bentele, erläutert.
    "Betreuung in allen Angelegenheiten heißt tatsächlich, dass in allen lebenswichtigen Entscheidungen die Person einen gesetzlichen Betreuer zur Seite gestellt bekommen hat, und mit dieser Betreuungsperson werden eben alle relevanten Entscheidungen getroffen wie Entscheidungen über den Wohnort, die Arbeitsform, den Arbeitsort, die Lebensform. Es ist umfassend."
    Die Große Koalition konnte sich nicht auf einen Entwurf einigen
    Das Bundeswahlgesetz regelt in Paragraf 13, dass diese so betreuten Personen grundsätzlich von der Wahl ausgeschlossen sind. Entschieden wird also nicht im Einzelfall, sondern pauschal. Eine Tatsache, die der UN-Behindertenrechtskonvention widerspreche, ist die Behindertenbeauftragte Verena Bentele überzeugt.
    "Ich hätte gerne, dass alle Menschen per se wählen dürfen. Pauschal hätte ich gerne, dass alle Menschen ein Recht haben und die Möglichkeit haben, sich für die Interessenvertreter zu entscheiden, die ihre Interessen am besten auf Bundes,- Europa- und Landesebene vertreten."
    Verena Bentele setzt sich gemeinsam mit Sozial- und Behindertenverbänden seit Jahren für eine entsprechende Reform des Bundeswahlgesetzes ein. In der zu Ende gegangenen Legislaturperiode sollte eigentlich eine große Wahlrechtsnovelle beschlossen werden. Doch die Große Koalition konnte sich nicht auf einen Entwurf einigen. Das lag weniger an der Frage des Wahlrechtsausschlusses, sondern vor allem an dem Vorhaben, über dieselbe Gesetzesreform die Zahl der Abgeordneten in Zukunft zu deckeln. Der behindertenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Uwe Schummer von der CDU, übt Selbstkritik:
    "Wir haben zu lange das Gesamtpaket verfolgt. Also wir kamen dann im Grunde mit der Herausoperation des Themas Wahlrechtsausschluss aus dem Gesamtpaket der Wahlrechtsreform zu spät, weil das ganze Verfahren zur Bundestagswahl schon gestartet hatte. Und von daher müssen wir daraus lernen und sagen, das wird als einzelnes Thema zu Beginn der nächsten Legislaturperiode aufgerufen."
    Mayer (CSU): "Habe Zweifel, ob Wahlrecht erteilt werden sollte"
    Allerdings spricht die CDU/CSU-Fraktion in dieser Frage nicht mit einer Stimme. Während die Sozialpolitiker ein "Wahlrecht für alle" befürworten, sind die Innenpolitiker weiterhin skeptisch. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion Stephan Mayer, teilt mit:
    "Ich habe gewisse Zweifel, ob dieser Personengruppe das Wahlrecht erteilt werden sollte, denn es ist kaum zu begründen, weshalb diese Menschen einerseits Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens nicht selbst tätigen dürfen, andererseits ausgerechnet beim Wahlakt über den Umstand der Vollbetreuung hinweggesehen werden soll."
    Stephan Mayer (CSU) äußert sich am 16.01.2017 vor der Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) im Deutschen Bundestag in Berlin. Er steht vor einem Mikrofon.
    Stephan Mayer (CSU) ist nicht überzeugt von einem Wahlrecht für alle. (dpa / picture alliance / Bernd von Jutrczenka)
    Hier schwingen also Zweifel mit – snd diese Personen überhaupt in der Lage, zu wählen? Verena Bentele, die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, wehrt sich dagegen, Menschen für nicht wahlfähig zu erklären. Und sie weist auf Widersprüche hin – so dürften zum Beispiel demente Altenheimbewohner wählen gehen. An deren Wahlfähigkeit könnte man ebenfalls zweifeln, sie seien aber im Gegensatz zu Menschen mit geistigen Behinderungen nicht von der Wahl ausgeschlossen.
    "In meinen Augen ist Wählen ein demokratisches Grundrecht und jede Person sollte selber entscheiden können und dürfen, ob sie das Recht zu wählen wahrnehmen und annehmen möchte."
    Genau mit dieser Frage wird sich demnächst das Bundesverfassungsgericht beschäftigen. Acht Betroffene beziehungsweise ihre Betreuer haben Beschwerde beim höchsten deutschen Gericht eingelegt, unterstützt werden sie dabei von der Caritas und der Lebenshilfe, eine Entscheidung soll es noch in diesem Jahr geben.
    In den Ländern ist die Lage teils schon anders
    Einige Bundesländer haben in der letzten Zeit ihre Landeswahlgesetze geändert und den pauschalen Wahlrechtsausschluss gestrichen. Die Folge ist: Betreute zum Beispiel in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen dürfen bei Kommunal- und Landtagswahlen ihre Stimme abgeben, bei Bundestags- und Europawahlen nicht. Die Behindertenbeauftragte des Bundes, Verena Bentele:
    "Das Absurde ist tatsächlich, dass im Mai in NRW jemand mit einer rechtlichen Betreuung in allen Angelegenheiten wählen durfte, aber jetzt im September darf die gleiche Person an der Bundestagswahl und auch an der nächsten Europawahl eben nicht teilnehmen."
    Der Fall Julian Peters
    Einer dieser Betroffenen ist Julian Peters aus Nettetal. Der 29-Jährige arbeitet im Niederrheinischen Freilichtmuseum in Viersen, hilft dort im Café.
    "Kuchen backen. Marmorkuchen, kalter Hund. Wenn Du reinguckst, siehst Du noch mehr Kuchen drin. Kaffeemaschine, Herd."
    "Ihr seid gut ausgerüstet!"
    "Ja. Jetzt mache ich Apfelkuchen."
    Julian Peters ist mit dem Downsyndrom zur Welt gekommen. Er hat gemeinsam mit anderen die Gesamtschule in Nettetal besucht, trägt am liebsten die schwarz-gelben Fan-Shirts seines Fußballvereins Borussia Dortmund und kennt die Titel des BVB auswendig.
    "2011, 2012, da waren wir deutscher Meister. Zweimal."
    "Pokal und deutsche Meisterschaft."
    "Ja. DFB-Pokal und die Meisterschale. Zwei Mal!"
    "Interessierst Du Dich auch für Politik?"
    "Auch! CDU, SPD, Die Linke, CSU."
    Julian Peters arbeitet im Hofladen.
    Julian Peters durfte bei der Landtagswahl in NRW wählen - am 24. September aber nicht. (Deutschlandradio / Moritz Küpper)
    Das Amtsgericht hat Julian Peters Eltern und seinen Bruder zu offiziellen gesetzlichen Betreuern erklärt. Sie regeln alles – verwalten sein Geld, öffnen die Post, erledigen Behördengänge, entscheiden über medizinische Behandlungen. Seine Entscheidung bei der Landtagswahl am 14. Mai durften sie aber nicht beeinflussen – Vater Ludger Peters erzählt.
    "Er hat dann sehr stolz und mit großer Zielstrebigkeit den Wahlvorgang vorgenommen. Ich habe eigentlich an der Wahlkabine nur hinter ihm gestanden. Ich weiß, was er gewählt hat, aber er ist da sehr zielstrebig mit umgegangen, und er war auch hinterher sehr stolz darauf, dass er hat wählen dürfen."
    Julian Peters: "Hmmm. Jetzt nicht mehr, sagt mein Vater zu mir."
    Dass sein Sohn bei der NRW-Landtagswahl eine Stimme abgeben durfte, von der Bundestagswahl am 24.September aber ausgeschlossen ist, sei widersinnig, meint Ludger Peters. Er sieht es genau wie die Behindertenbeauftragte des Bundes: Wählen zu dürfen sei ein Grundrecht, das niemandem abgesprochen werden dürfe.
    "Bei unserem Sohn Julian erlebe ich das immer wieder, wenn wir uns unterhalten, dass er eine dezidierte politische Meinung hat, dass er bestimmte Dinge auch politisch durchdringt, um was es geht für ihn. Und ich finde, dass er durchaus das Recht habe sollte, sich dann an einem Wahltag über den Wahlzettel zu beugen und an einer bestimmten Stelle sein Kreuz zu machen."
    Barrieren für Sehbehinderte
    Ludger Peters kennt auch die Gegenargumente. Eines lautet: Wenn Menschen mit geistigen Behinderungen grundsätzlich wählen dürften, dann seien Manipulationen Tür und Tor geöffnet - Betreuer, die Briefwahlunterlagen ausfüllen würden, Heimleiter, die ihre Bewohner auffordern könnten, das Kreuz an einer bestimmten Stelle zu machen. Manipulationen könne es auch woanders geben, zum Beispiel in Familien, entgegnet Ludger Peters. Der Vater eines Kindes mit Down-Syndrom wirbt darum, im "Wahlrecht für Alle" etwas Positives zu sehen:
    "Also in dem Moment, in dem ich den Menschen das Wahlrecht gebe, ist das ja nicht nur ein Zeichen dafür, dass sie an der Gesellschaft teilnehmen können, sondern ich akzeptiere sie ja auch in ihrer Verschiedenheit und sehe sie dann eben nicht als Belastung, sondern ich profitiere davon, dass sie selber ihren politischen Willen äußern, das ist doch eigentlich nachvollziehbar."
    Auf einer Pressekonferenz zum Vorbereitungsstand der Bundestagswahl im Land Brandenburg wird am 02.09.2013 in der Staatskanzlei in Potsdam (Brandenburg) eine Lochschablone für Sehebehinderte und ein Stimmzettel für die Wahl gezeigt. Der Landeswahlleiter Küpper rief auf der Pressekonferenz die Bürger auf, am 22. September von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen.
    Für Sehbehinderte gibt es bei Bundestagswahlen Wahlzettel mit Lochschablone. (picture alliance / dpa / Patrick Pleul)
    Genauso sieht es auch Verena Bentele. Sie ist die erste Behindertenbeauftragte des Bundes, die selber eine Beeinträchtigung hat. Die zwölffache Paralympics-Siegerin ist blind und wie der Großteil der Menschen mit Behinderungen nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen. Aber sie weiß um die Barrieren, die sie und andere beim Wahlvorgang behindern.
    "Für Blinde wie mich gibt es Schablonen, da kann ich den Wahlschein reinlegen, und kann dann selbständig eben erkennen, wo ich mein Kreuz mache. Also ich fühle mich ganz gut versorgt, was für Menschen die sehbehindert sind, also die besser sehen als ich, aber nicht voll, für diese Menschen ist oft noch das Problem, dass die Wahlzettel sehr unterschiedlich aussehen und Schriftgröße und Kontraste nicht so gut sind."
    Anstrengungen der Parteien
    Das hält manche Menschen davon ab, überhaupt wählen zu gehen. Verena Bentele kennt noch anderes, was Menschen bei der Wahl "behindert": Fehlende Rampen für Rollstuhlfahrer an den Wahllokalen etwa. Aber auch indirekte Barrieren gebe es: Weil Wahlberechtigte zum Beispiel Analphabeten seien, Lernschwierigkeiten hätten oder ihre Muttersprache nicht Deutsch sei.
    "Also da könnte noch deutlich mehr passieren, beim Thema Erklärungen in leichter Sprache, Informationen über Bilder, über Videos mit Gebärdensprache, in Brailleschrift. Also für die Wählerinnen und Wähler mit Behinderungen könnten die Parteien noch wirklich mehr tun."
    Immerhin haben fast alle Parteien in diesem Bundestagswahlkampf Anstrengungen in dieser Richtung unternommen. Die Formate sind vielfältig wie nie. Das CDU-Programm ist auch auf Englisch erhältlich, die Liberalen haben ihre politischen Pläne gleich in sieben Sprachen übersetzt – unter anderem auf Russisch, Arabisch, Türkisch und Hebräisch. Kaum eine Partei, die ihr Wahlprogramm nicht in leichter Sprache veröffentlicht hätte. Alle haben Videos gedreht, bieten für Taube Versionen in Gebärdensprache, für Blinde Versionen zum Hören – wie die Grünen.
    "Liebe Bürgerinnen und Bürger, am 24.September ist Bundestagswahl. Bevor wir Ihnen sagen, was wir vorhaben, haben wir eine Bitte an Sie: Diskutieren Sie mit, mischen Sie sich ein. Gehen Sie wählen."
    BpB: "Wir setzen auf inklusive politische Bildung"
    Neben den Parteien bietet auch die Bundeszentrale für politische Bildung leicht verständliche Materialien zur Bundestagswahl. Dazu gehören Videos, ein Plakat, Broschüren und der Wahl-o-mat - ein Internetangebot, das Wählerinnen und Wählern dabei helfen soll, die für sie richtige Entscheidung zu treffen. "Wir setzen auf inklusive politische Bildung", sagt Wolfram Hilpert von der Bundeszentrale:
    "Inklusion ist ja das Bemühen, in einem ständigen Prozess, die Barrieren für Menschen, die ausgeschlossen sind aus der Gesellschaft, zu überwinden. Dazu gehören zum Beispiel Menschen mit Behinderungen, aber eben nicht nur. Dazu gehören auch sozial Benachteiligte oder Menschen, die Leseschwierigkeiten haben, Menschen, die aufgrund ihres Migrationshintergrunds nicht die volle Teilhabe ermöglichen können. Und eine inklusive politische Bildung versucht, diese Barrieren abzubauen und alle Menschen an Politik teilhaben zu lassen."
    Für die Informationen zur Bundestagswahl bedeutet das: Die Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht keine Materialien für eng definierte Zielgruppen, sondern macht leicht verständliche Angebote für alle.
    "Wir haben aus sehr vielen Bereichen Rückmeldungen, in Schulen werden die Hefte sehr gerne genommen. Das geht von Sonderschulen bis hin zu Gymnasien. Es wird in Werkstätten und Wohnheimen von Behinderten – da gibt es eine große Nachfrage nach den Produkten, in VHS-Kursen, Integrationskursen, aber auch in der Vereinsarbeit, das heißt, es ist ein breiter Bereich von Menschen, die diese Hefte nutzen."
    Die Broschüre zur Bundestagswahl in einfacher Sprache ist ein 40 Seiten starkes Heft. Die Texte haben Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam erarbeitet – am Institut für Sonderpädagogik an der Universität Hannover. Seit fünf Jahren leitet Dorothee Meyer dort inklusive Seminare mit Studierenden und geistig Behinderten.
    "Wir kommen gemeinsam ins Gespräch über die Vor- und Nachteile, wählen zu gehen, über die Möglichkeiten und Auswirkungen, die die eigene Stimme hat. So hoffe ich, dass das Seminar dazu beitragen kann, dass Leute ihr demokratisches Recht auch in Anspruch nehmen und auch informiert werden und auch wissen, wie geht das eigentlich mit der Wahlbenachrichtigung, wo finde ich denn mein zuständiges Wahllokal, was ist eigentlich, wenn ich den Stimmzettel nicht lesen kann, wen kann ich da mitnehmen, wen kann ich um Hilfe bitten?"
    "Wenn ich nicht wählen gehe, dann habe ich die Arschkarte"
    Dorothee Meyer blickt auf die Uhr, etwas besorgt. Seit einer halben Stunde wartet sie auf Uwe Reinicke. Plötzlich geht die Tür auf, Reinicke fährt mit seinem Elektrorollstuhl hinein.
    "Ich bin so froh, dass Du da bist. Herzlich willkommen! Willst Du Dich auf den Stuhl setzen?"
    Uwe Reinicke drückt sich aus dem Rollstuhl hoch, lässt sich auf den Bürostuhl fallen, greift zur Kaffeetasse. Seine Bahn hatte Verspätung und der Aufzug funktionierte wieder einmal nicht.
    "Dachte, fährst heute mal mit der Bahn, wagst es mal…"
    Uwe Reinicke
    Uwe Reinicke darf am 24. September wählen. (Deutschlandradio/Claudia van Laak)
    Uwe Reinicke arbeitet vormittags in einer Werkstatt für geistig Behinderte. Er lebt alleine und darf wählen – weil er zwar einen Betreuer für Behörden- und Bankangelegenheiten hat, sich aber um seine Arztbesuche, seine Wohnung und seine Post selber kümmert. Das heißt, er wird nicht in "allen Angelegenheiten betreut". Das Wahlrecht ist Uwe Reinicke ganz wichtig.
    "Ja, Demokratie, was ist wichtig? Dass man überhaupt wählen darf. Dass man die Wahl hat. Und dass ich meine Meinung abgebe, und dass diese Meinung dann eventuell, wenn es klappt, vielleicht durchkommt. Aber wenn ich nicht wählen gehe, dann habe ich garantiert die Arschkarte."
    Fachbegriffe für alle in einfacher Sprache erläutern
    Geradeheraus und direkt, manchmal drastisch, so redet Uwe Reinicke, der sich selber als Mensch mit Lernschwierigkeiten bezeichnet. Vor dem 48-Jährigen auf dem Tisch liegt das gemeinsam erarbeitete Heft zur Bundestagswahl. Dort werden auch komplizierte Dinge wie Überhangmandate erklärt. Allerdings gelingt es auch den Akademikern am Tisch nicht, das Phänomen der Überhang- und Ausgleichsmandate auf Anhieb zu erklären. Daran könne man sehen, wie wichtig es sei, politische Fachbegriffe für alle in einfacher Sprache zu erläutern, sagt Uni-Dozentin Dorothee Meyer.
    "Gerade das Thema mit den Überhang- und Ausgleichsmandaten… Im aktuellen Heft war auch eines, über das wir ganz lange gesprochen haben, ob wir es rauslassen oder ob wir es reinnehmen. Wir haben dann entschieden, es reinzunehmen und jedem selbst zu überlassen, ob er es liest oder nicht."
    Um jedes Kapitel, um jede Formulierung haben sie in ihrem inklusiven Seminar lange gerungen. Leicht verständlich sollen die Texte sein, aber nicht sinnentstellend vereinfacht. Uwe Reinicke sagt es so:
    "Dass Du jeden Doofmann davor setzen kannst, und wenn der das erfassen will, kann der das auch erfassen."
    "Wenn Sie wählen, stärken Sie die Parteien, Kandidaten und Ideen, die Sie gut finden. Wenn Sie keine Partei oder keine Person gut finden, können Sie auch die Parteien oder die Kandidaten wählen, die Sie am wenigsten schlecht finden. Sie können mit Ihrer Wahl zeigen, was Sie wollen. Sie wissen selber am besten, was gut für Sie ist. Wenn Sie nicht wählen, lassen Sie andere entscheiden."
    So klingt das Kapitel: "Warum Sie Ihr Wahlrecht nutzen sollten". Uwe Reinicke findet, dass das jeder versteht. Und er wünscht sich, dass sich alle Politikerinnen und Politiker so ausdrücken.
    "Ich meine, ich rede doch verständlich, oder? Also ich kann das. Warum eigentlich die Politiker nicht? Oder ist das zu schwer?"
    Sich nicht hinter Fachbegriffen verstecken, das versuchen inzwischen auch Behörden, Institutionen, Medien – auch der Deutschlandfunk mit seinem Angebot "Nachrichten leicht". Dass Berufspolitiker mitunter Mühe haben mit einer klaren, einfachen Sprache, das zeigt sich an diesem Nachmittag im Mehrgenerationen-Haus des Berliner Bezirks Lichtenberg.
    Viele scheitern schon an der Wahlbenachrichtigung
    Eine Kita, eine Wohnmöglichkeit für minderjährige, alleinerziehende Mütter, ein Wohnheim für geistig Behinderte. Im Café arbeiten ebenfalls Menschen mit Behinderungen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Pätzold ist zu Gast.
    "Wir haben, glaube ich, in dieser Legislaturperiode einiges für Menschen mit Behinderungen gemacht…"
    Kurz nach den ersten Begrüßungsworten von Martin Pätzold steigen die ersten Zuhörerinnen und Zuhörer schon aus. "Legislaturperiode" – ein Begriff, den die meisten hier nicht verstehen. Und der auch unnötig ist, erklären die Betreuer dem CDU-Bundestagsabgeordneten.
    "Haben Sie recht. Kann ich sagen, vier Jahre jetzt. Haben Sie Recht. Ja natürlich."
    Martin Pätzold zeigt sich lernfähig. Auch, als die Betreuer darauf hinweisen, dass die meisten ihrer Klienten nicht erst im Wahllokal scheitern, sondern bereits an der für sie unverständlichen Wahlbenachrichtigung. Diese müsse viel einfacher sein. Wie hoch die Wahlbeteiligung unter Menschen mit Behinderungen ist, kann niemand genau sagen. Die Betreuer hier schätzen sie als sehr niedrig ein. Vielleicht zehn Prozent.
    Frau: "Ich wüsste gar nicht, wen ich wählen sollte, ich war noch nie wählen."
    Frau: "Bringt mir denn das was?"
    Mann: "Wenn Du nicht wählen gehst, wer kriegt dann Deine Stimme?"
    Frau: "Aber was bringt denn das, haben die was geschaffen? Nein, haben sie nicht!"
    Mann: "Doch, ein bisschen was haben sie schon geschaffen. Aber es dauert eben alles ein bisschen."
    Bis zur Bundestagswahl werden die Betreuer hier in Berlin-Lichtenberg versuchen, mit ihren Klienten über die Wahl zu reden. Sie haben Politiker aller Parteien zu Diskussionsveranstaltungen eingeladen. So wollen sie erreichen, dass am 24. September Menschen mit Behinderungen nicht außen vor bleiben.