Dienstag, 19. März 2024

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Bundesteilhabegesetz
"Radikale Verschlechterungen" für Menschen mit Behinderung

Raul Krauthausen vom Verein "Abilitywatch" war zwar am Gesetzgebungsprozess zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung beteiligt. Heute aber sagt er: "Das ist nicht mein Gesetz". Im DLF kritisierte er unter anderem, dass damit Menschen mit Behinderung gegen ihren Willen ins Heim gezwungen werden könnten.

Raul Krauthausen im Gespräch mit Ina Rottscheidt | 22.09.2016
    Kaefig-Aktion verschiedener Behindertenverbaende auf dem Washington Platz vor dem Berliner Hauptbahnhof
    Raul Krauthausen (rechts) bei einer Aktion verschiedener Behindertenverbaende Washington Platz vor dem Berliner Hauptbahnhof (imago/epd)
    Ina Rottscheidt: Seit 30 Jahren wurde Menschen mit Behinderung ein Teilhabegesetz versprochen, jetzt soll es kommen, doch den Betroffenen ist nicht zum Jubeln zumute. Herr Krauthausen, was sind denn Ihre zentralen Kritikpunkte an dem Gesetzentwurf?
    Raul Krauthausen: Im momentanen Sozialgesetzbuch gibt es einen Grundsatz, der heißt ambulant vor stationär. Das bedeutet, dass bei Menschen mit Behinderung in erster Linie geguckt werden muss, ob man sie zu Hause versorgen kann, bevor man sie in ein Heim schickt. Im neuen Teilhabegesetz findet das keine Entsprechung. Das heißt, die Regelung ambulant vor stationär ist komplett gestrichen worden, was eine große Gefahr bedeutet für Menschen mit Behinderung, die dann nach Kassenlage in Heime gezwungen werden können.
    Rottscheidt: Das heißt, wer könnte zukünftig darüber entscheiden, ob ein Mensch mit Behinderung zu Hause bleiben darf oder in ein Heim gehen muss?
    Krauthausen: Im Teilhabegesetz steht eine Zumutbarkeitsregelung und diese Zumutbarkeit würde in dem Moment dann der Sozialamts-Sachbearbeiter bemessen. Und das ist natürlich extrem schwierig, da wir die Kompetenz einfach auch aufgrund ihrer Ausbildung anzweifeln, anhand von Aktenlage und anhand von zwei-, dreimal gesehen haben zu beurteilen, ob jemand besser zu Hause oder besser im Heim versorgt ist. Zumal man auch bedenken muss, dass Sachbearbeiter in Sozialämtern natürlich auch unter extremem Kostendruck stehen, und dann ist natürlich die Gefahr sehr groß, dass Menschen mit Behinderung, was ja bereits jetzt schon der Fall ist, in Heime gezwungen werden, obwohl sie locker mit entsprechender Assistenz und Unterstützung auch hätten zu Hause leben können.
    Rottscheidt: Sie befürchten also, dass künftig sehr viele Menschen mit Behinderung in einem Behindertenheim untergebracht werden müssen, ob sie das wollen oder nicht. Sie selber haben in den vergangenen Wochen für ein Filmprojekt sich undercover sozusagen in ein Behindertenheim eingemogelt, wenn man das so sagen kann. Was haben Sie denn da erlebt? Wie ist denn das Leben in einem Behindertenwohnheim?
    Krauthausen: Es ist, muss man ganz klar sagen, kein Gefängnis und auch keine Folter, die ich da erlebt habe. Es war ein Behindertenheim irgendwo in Deutschland, in dem ich war. Das Personal war natürlich extrem nett zu mir und auch zu den Bewohnern. Aber der Betreuungsschlüssel ist drei Pfleger auf acht Bewohner, und wenn dann einer mal, sagen wir mal, ins Kino gehen möchte nachmittags und dabei Unterstützung braucht, dann ist das nicht möglich.
    Ich persönlich lebe zu Hause in Berlin mit Assistenz. Das heißt, ich kann selbst entscheiden, wann ich wo rausgehen möchte, und muss mich nicht nach den Dienstplänen von Heimen richten. Im Heim habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich zum Beispiel keinen Einfluss darauf habe, wer mich morgens und abends ins Bett unterstützt, und es wurde mir auch nahegelegt, dass es besser wäre, wenn ich vor der Nachtschicht ins Bett gehe, weil dann eine Nachtschicht alleine für 30 Bewohner verantwortlich ist.
    Was Menschen mit Behinderung ansparen dürfen, "ist radikal ungerecht"
    Rottscheidt: Sie haben es gerade schon erwähnt: Sie selbst leben mit einem Assistenten. Das tun viele tausend Menschen mit Behinderung in Deutschland. Das heißt, das sind Menschen, die Ihnen im Alltag helfen bei den ganz alltäglichen Dingen, die Sie selber nicht machen können. Das heißt aber: Wer so einen Assistenten hat und benötigt, der darf im Moment kaum was ansparen. Das ist ähnlich wie bei der Sozialhilfe; da werden dann Einkommen und Vermögen vom Sozialamt angerechnet. Das ist derzeit so. Das soll sich ja jetzt ändern mit dem neuen Bundesteilhabegesetz. Ist das nicht wenigstens ein positiver Punkt?
    Krauthausen: Momentan ist es so, dass Menschen mit Behinderung, die auf Assistenz angewiesen sind, 2.600 Euro sparen dürfen. Alles was darüber hinausgeht, wird eingezogen vom Sozialamt, weil man ja Assistenz bezahlt bekommt. Das ist natürlich radikal ungerecht. Die Bundesregierung plant, mit dem Teilhabegesetz das anzuheben auf erst 25.000 Euro und dann bis 2020 auf 50.000 Euro. Das klingt jetzt erst mal viel. Allerdings muss man hier ganz klar sagen, dass Menschen mit Behinderung ihr Leben lang auf Assistenz angewiesen sein werden, und 50.000 Euro aufs ganze Leben lang ansparen zu dürfen - stellen Sie sich vor, Sie haben eine Lebensversicherung, einen Bausparvertrag, Sie wollen ein Ausbildungskonto für Ihre Kinder anlegen -, dann ist 50.000 Euro aufs Leben nicht viel. Und das ist auch Geld, das Menschen mit Behinderung selber erwirtschaften. Das ist nicht Geld, das der Staat behinderten Menschen geben würde oder so, sondern das ist selber erarbeitetes Geld. Wir werden mit dieser Regelung nach wie vor in Altersarmut gedrängt und wir können nichts dagegen tun.
    Rottscheidt: Sie sind Mitglied der Gruppe Abilitywatch, die sich um die Belange von Menschen mit Behinderung kümmert. Sie machen auch Beratungen. Und einige Kollegen aus dieser Gruppe waren auch von Anfang an an diesem Gesetzgebungsprozess beteiligt. Das heißt, Sie durften auch durchaus Ihre Meinung sagen. Haben Sie denn dann nicht Ihre ganzen Einwände angebracht?
    Krauthausen: Natürlich haben wir unsere Einwände schon immer eingebracht, seit den zwei Jahren, die wir beteiligt werden an dem Prozess. Erschüttert hat uns einfach nur, wie wenig von dem, was wir jedes Mal angemerkt haben, in diesem Gesetz sich wiederfindet. Da fühlen wir uns dann auch, salopp gesagt, verarscht. Wenn wir zwei Jahre lang beschäftigt werden, wirklich Hunderte vonseiten Gesetzestexte durchwälzen müssen auf professionelle Art und Weise, um auf Augenhöhe mit der Politik argumentieren zu können, die dafür Geld bekommt und wir das alles ehrenamtlich machen, und dann am Ende nach wie vor so radikale Verschlechterungen anstehen wie eben, dass Menschen mit Behinderung gegen ihren Willen ins Heim gezwungen werden können, dann müssen wir einfach sagen: Das ist nicht mein Gesetz!
    Und vielleicht noch eine Anmerkung, denn die Bundesregierung hat gesagt: Na ja, Herr Krauthausen, machen Sie sich keine Sorgen, um Sie wird es ja nicht gehen. Menschen mit Behinderung, die bisher Leistungen bekommen, die sollen auf gar keinen Fall schlechter gestellt werden. Die reden dann immer vom sogenannten Bestandsschutz. Da sagen wir aber als Betroffene: Es geht nicht um uns. Es geht auch um kommende Generationen. Und mit der Einführung des Bestandsschutzes gesteht sie ja letztendlich ein, die Regierung, dass es sehr wohl sein kann, dass demnächst kommende behinderte Menschen, die auf die Welt kommen oder eine Behinderung passieren wird im Laufe ihres Lebens, sehr wohl in Heime gezwungen werden können. Sonst bräuchte man ja gar keinen Bestandsschutz.
    "Bundesregierung soll jetzt nicht allen weniger geben, um es länger bezahlen zu können"
    Rottscheidt: In dem Gesetzentwurf steht auch direkt am Anfang der Vorbehalt, dass keine Ausgabendynamik entstehen soll. Im Klartext: Es darf nichts kosten oder zumindest nicht mehr kosten. Wenn nun der Staat an einer Stelle auf Einnahmen verzichtet, weil er beispielsweise Menschen wie Ihnen ein größeres Sparvermögen zugesteht, wo man ja auch ein Fragezeichen hinter setzen kann - das haben Sie ja schon gesagt -, dann müsste doch an anderer Stelle irgendjemandem irgendwas weggenommen werden, oder?
    Krauthausen: Worauf Sie, glaube ich, hinaus wollen ist ja so ein bisschen die Frage, woher entsteht die Kostenexplosion, und die Kostenexplosion, von der die Regierung ja immer spricht, wo es auch keine genauen Zahlen gibt, wieviel das jetzt eigentlich sein kann, die entsteht nicht dadurch, dass Menschen mit Behinderung Unmögliches verlangen, sondern sie entsteht dadurch, dass Menschen mit Behinderung älter werden und dann einfach über einen längeren Zeitraum gleiche Leistungen beziehen. Und wenn die Regierung die Eier hätte zu sagen, dass sie nicht möchte, dass Menschen mit Behinderung älter werden, dann soll sie das sagen. Aber sie soll jetzt nicht allen weniger geben, um es länger bezahlen zu können.
    Rottscheidt: Was machen Sie denn jetzt, wenn das Gesetz am 1. Januar trotzdem ohne wesentliche Änderungen in den von Ihnen kritisierten Punkten in Kraft tritt?
    Krauthausen: Wir wollen mit Abilitywatch auf jeden Fall jetzt ein Zeichen setzen und ganz klar Kante zeigen und auch eine neue, sage ich, außerparlamentarische Kraft aufbauen der Selbstwertrede, der Menschen mit Behinderung, die sich selber vertreten, die es leid sind, dass permanent nichtbehinderte Menschen ihnen sagen, was ihnen zusteht und was nicht. Ich mach mal einen Vergleich: Das wäre so, wie wenn Männer permanent Frauen sagen, was ihnen zusteht und was nicht, dass wir männliche Frauenbeauftragte hätten, was immer irgendwie komisch ist, und da sagen wir als Menschen mit Behinderung, das sind wir leid. Wir wollen uns jetzt selbst vertreten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.