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Chronische Müdigkeit
Manuskript: Die unverstandene Erschöpfung

Etwa 250.000 Menschen sollen in Deutschland am Chronischen Erschöpfungssyndrom CFS leiden. Was ihnen fehlt, versteht niemand so richtig. Viele fühlen sich nicht ernst genommen. Ob eine Depression hinter ihren Symptomen steckt oder ob ihre unerträgliche Müdigkeit die Depression erst auslösen, ist manchmal schwer zu entscheiden, denn die Krankheit lässt sich nicht mit einem einfachen Test diagnostizieren.

Von Franziska Badenschier: |
    "Wenn ich diese Krankheit mit drei Wörtern beschreiben sollte, wären das für mich:
    Schlapp. Verbraucht. Hoffnungslos."
    "Totale Lebens-Neueinrichtung."
    "Wut, Antriebslosigkeit und... Da fängt es an: Wut, Antriebslosigkeit und nicht am Leben teilhaben können."
    "Kommt von hinten. Schleicht sich ein. Macht alles kaputt."
    CFS: drei Buchstaben, drei Wörter, die das Leben von Wolfgang und Pamela , von Astrid und Heiko bestimmen. CFS: Das ist die Abkürzung für Chronic Fatigue Syndrome, zu Deutsch: Chronisches Erschöpfungssyndrom. Etwa drei von 1000 Menschen sollen davon betroffen sein; das haben Erhebungen in den USA und in Großbritannien ergeben. Hochgerechnet für Deutschland würde das bedeuten: Hierzulande leiden rund 250.000 Menschen unter CFS. Ein paar von ihnen treffen sich Ende 2013 in Berlin bei der Tagung des Selbsthilfe-Vereins "Fatigatio". Doch manch einer war dann zu erschöpft, um den Vorträgen zu folgen, und hat sich in den Ruheraum mit Klapp-Liegen zurückgezogen.
    "Vorhin wurde es mir schwindlig und ich fing an, komisch zu schwitzen. Ich bin ganz müde geworden. Mein Gesicht ist wieder angeschwollen. Und dann habe ich mich einfach hingelegt."
    Heiko. 42 Jahre alt. Hatte im Jahr 2004 einen Infekt – Ärzte vermuteten eine Bronchitis oder Pfeiffersches Drüsenfieber. Hat seitdem ständig Infekte und Husten-Anfälle, fühlt sich erschöpft. Dabei wolle er doch arbeiten, für seine Familie da sein, seinen Mann stehen, sagt Heiko, aber:
    "Ich kann hantieren, ich kann richtig Leistung bringen. Einen Tag, zwei Tage. Und dann ist für drei Wochen Feierabend. "
    Selbst Fahrradfahren ist manchmal zu anstrengend. Und danach diese Schmerzen. Freunde und Kollegen würden das nicht verstehen, sagt Heiko.
    "Dieses Nichtstun, dieses Nichtkönnen, dieses Nichtverstandenwerden, weil man es nicht sieht. Man wünscht sich dann – irgendwann ist man an einem Punkt, wo man sich ein Geschwür wünscht oder wo man sagen kann: Hier, Freunde, ich habe was gefunden!"
    "Als dann zusätzlich noch eine Brustkrebs-Erkrankung dazu kam, dann wurde ich plötzlich ernst genommen, während das bei CFS überhaupt nicht der Fall war. Und CFS ist eine Krankheit für mich, die mich im Leben wesentlich mehr lähmt und mich wesentlich mehr schafft, sozusagen, wie jetzt diese Brustkrebserkrankung. "
    Astrid. 52 Jahre alt. Seit etwa 20 bis 30 Jahren chronisch erschöpft. Findet manchmal sogar Fernsehen zu anstrengend. Ist wütend.
    "Dass wir so Schwierigkeit damit haben, diese Krankheit einfach rüberzubringen, den Ärzten verständlich zu machen, der Familie es klar zu machen, den Krankenkassen es zu vermitteln beziehungsweise auch kassenärztlichen Vereinigungen. Es ist wahnsinnig schwierig."
    Die Erfahrungsberichte, sie ähneln sich: Die Betroffenen sagen, sie fühlen sich, als ob sie ständig Muskelkater hätten oder einen Jetlag oder eine richtige Grippe. Sie erzählen, dass der Weg zum Supermarkt oder zur Post, selbst zur Toilette, sich wie ein Marathon anfühlt. Sie sagen, dass sie keine Kraft mehr haben, dass Sport alles schlimmer macht und Schlaf nicht erholsam ist.
    "Wenn ich natürlich in solch einem Zustand dann zum Arzt gehe, dann attestiert der mir eine psychische Erkrankung. Der fragt aber nicht danach: Woher rührt die Depression? Ist die Erkrankung jetzt die Folge der Depression oder die Depression die Folge der Erkrankung?"
    Wolfgang, 56 Jahre alt. Im Jahr 2000 bei der Arbeit zusammengebrochen. Fühlt sich seitdem, als ob er eine Grippe hat. Ist mittlerweile berentet. Hilft im Vorstand des Selbsthilfe-Vereins Fatigatio.
    "Und hier muss natürlich eindeutig gesagt werden: Die Depression oder die depressiven Phasen, die man durchlebt, die jeder schon durchlebt hat – auch ich –, sind die Folge dessen, dass ich von der Gesellschaft nicht akzeptiert werde."
    Wenn also jemand zum Arzt kommt und sagt: "Ich fühle mich schlapp; ich kann nicht mehr richtig schlafen; und mir tut alles weh, die Muskeln und der Kopf." Welchen Diagnose-Schlüssel vergibt der Arzt dann?
    F32.2?
    Mittelgradige depressive Episode.
    Oder F45.0?
    Somatisierungsstörung.
    Oder F45.2?
    Hypochondrische Störung.
    Wer glaubt, am Chronischen Erschöpfungssyndrom zu leiden, denkt an einen anderen Diagnose-Schlüssel: G93.3. Die Weltgesundheitsorganisation gibt eine lange Liste heraus, in der Krankheiten und Gesundheitsprobleme klassifiziert werden und einen sogenannten Diagnose-Schlüssel bekommen. Alle Diagnose-Schlüssel, die mit dem Buchstaben F beginnen, stehen für psychische Störungen und Verhaltensstörungen, jene Diagnose-Codes, die hingegen mit dem Buchstaben G beginnen, für Krankheiten des Nervensystems. Zum Beispiel G93.3.
    Chronisches Müdigkeitssyndrom, inklusive Benigne Myalgische Enzephalomyelitis, Chronisches Müdigkeitssyndrom bei Immundysfunktion, Postvirales Müdigkeitssyndrom
    So steht es in eben jener WHO-Liste. Ein Diagnose-Schlüssel, vier Bezeichnungen – für ein Bündel an Symptomen, die typischerweise zusammen auftreten. Deswegen spricht man auch von einem Syndrom, nicht von einer eigenständigen Krankheit.
    Es ist schwierig, an Ärzte heranzukommen, die das Chronische Erschöpfungssyndrom skeptisch sehen oder leugnen. Patienten könnten Namen nennen, wollen es meist aber nicht. Und angeschriebene Ärzte antworten mitunter nicht. Eine Ausnahme ist Peter Frommelt. Er ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie/ Psychotherapie. Seine Privatpraxis befindet sich in einem typischen Berliner Altbau: hohe Decken, Fischgräten-Parkett, ein quietschender Holzstuhl vor dem Schreibtisch.
    "Ich hatte neulich einen Polizisten, der im Streifendienst gearbeitet hat, der ein ganz erfolgreiches aktives Leben geführt hat, der dann eine urologische Erkrankung hatte mit einer Entzündung und der sich nach dieser Erkrankung nicht mehr erholt hat. Wenn er sich angestrengt hat – er war sehr sportlich –, dann hat ihn das erschöpft, hat ihm Schmerzen bereitet. Und er hat verschiedene Ärzte aufgesucht. Man hat ihm Medikamente gegeben. Man hat ihm erklärt, dass das nicht mit der ursprünglichen Erkrankung zusammenhänge: Von der würde man sich erholen. Und es ist bei ihm das Gefühl entstanden, man nimmt ihn nicht ernst."
    Der Arzt Peter Frommelt hat bei seinem Patienten dann zwar eine Erschöpfung festgestellt – aber eine F-Diagnose in die Akte geschrieben.
    "Meine Herangehensweise in diesem Fall ist zu schauen: Was ist mit der Person passiert? Und bei ihm war es so, dass er nie sich mit Erkrankungen auseinandergesetzt hat, weil er konnte sich ständig auf seinen Körper verlassen, hat funktioniert. Und diese anfängliche Erkrankung hat eben für ihn in der Person – und da können wir nicht das Biologische von dem Persönlichen trennen – viel verändert."
    Erste Belege für biologische Ursachen
    Dabei haben Wissenschaftler mittlerweile erste Belege dafür, dass das Chronische Erschöpfungssyndrom nicht psychosomatisch ist und auch keine Einbildung – sondern durchaus biologische Ursachen hat.
    "Also dass man Gliederschmerzen hat, ein Infektgefühl hat, Halsschmerzen, bisschen Temperatur haben kann: Das sind Symptome, die ja primär durch ein Immunsystem kommen, das arbeitet."
    Carmen Scheibenbogen ist Internistin, Hämatologin und sie leitet die Immundefekt-Ambulanz an der Charité Berlin. Zu ihr kommen normalerweise Erwachsene, deren Immunsystem zum Beispiel wegen eines Gen-Fehlers zu schwach ist, um vor Infekten zu schützen. Zu der Ärztin kommen aber auch Menschen mit Verdacht auf das Chronische Erschöpfungssyndrom – weil deren Beschwerden oft mit einem Infekt begonnen haben.
    "Es ist meiner Meinung nach eine Regulationsstörung, dass gerade die Immunantwort, die nach einer Infektion hin aktiv ist, dass die nicht wieder zur Ruhe kommt."
    Das Immunsystem sei zu schwach, um den Infekt richtig zu bekämpfen und zu beenden. Zugleich sei – zumindest bei einem Teil der Betroffenen – das Immunsystem auch überaktiv.
    "Und man nimmt an, dass es bei der CFS-Erkrankung auch eine Autoimmun-Komponente gibt, so wie es auch viele Erkrankungen gibt, bei denen das Immunsystem überschießend reagiert. Und so denken wir auch, dass es bei CFS – auf der einen Seite man zwar mit bestimmten Infektionen nicht richtig fertig wird, auf der anderen Seite aber auch das Immunsystem dann auch überreagiert."
    Mehrere Studien deuten darauf hin, dass das Epstein-Barr-Virus diesen Fehler im Immunsystem auslösen kann. Eigentlich ist fast jeder Mensch mit diesem Herpes-Virus infiziert: Das Epstein-Barr-Virus wird durch Speichel übertragen; kleine Kinder bekommen es von ihren Eltern; und wenn nicht, dann wohl später von der einen oder anderen Jugendliebe. Die Viren schlummern dann lebenslang im Körper, ohne krank zu machen – sie sind inaktiv. Wer sich aber erst als Erwachsener infiziert, der bekommt das Pfeiffersche Drüsenfieber– und das könne der Anfang des Chronisches Erschöpfungssyndroms sein, sagt Carmen Scheibenbogen. Denn sie hat beobachtet: Bei einem Teil der CFS-Patienten kommt das Immunsystem nicht an gegen das Epstein-Barr-Virus, kurz EBV.
    "Man kann EBV bei etwa zehn Prozent der Patienten messen, dass es erhöht ist im Blut. Was man auch messen kann, ist: Man kann auch die Immunantwort gegen das EBV messen. Und da fällt auf, dass die bei vielen Patienten vermindert ist, wenn man das mit Gesunden vergleicht. Und das ist eher bei mehr als der Hälfte, und das ist ein indirekter Hinweis, dass EBV aktiv ist."
    Ein anderes Virus gilt hingegen nicht mehr als mögliche Ursache für die chronische Erschöpfung: das XMR-Virus. Dieses Virus wurde zunächst in Prostata-Tumoren gefunden. Es sei aber auch verantwortlich für das Chronische Erschöpfungssyndrom, berichteten Molekularbiologen Ende 2009 in der Fachzeitschrift "Science".
    Die Studienleiterin Judy Mikovits sagte damals dem Deutschlandfunk:
    "In der normalen Bevölkerung finden wir dieses Virus bei vier Prozent aller Personen. Unter CFS-Patienten sind dagegen mindestens neun von zehn infiziert. Bei zwei Dritteln konnten wir das Virus im Blut isolieren, die anderen haben Antikörper, hatten also einmal Kontakt zu dem Virus."
    (Deutschlandfunk, Forschung aktuell, 09.10.09)
    Daraufhin prüften Forscher auf der ganzen Welt, ob in den Blutproben ihrer eigenen CFS-Patienten das vielleicht alles entscheidende Virus zu finden war – ohne Erfolg. Auch Carmen Scheibenbogen fand das XMR-Virus in keiner ihrer Blutproben. Schließlich stellte sich heraus: Test-Reagenzien waren verunreinigt – die Ergebnisse von Judy Mikovits ein Artefakt. "Science" zog daraufhin die Publikation zurück.
    In den vergangenen 20, 25 Jahren wurden weltweit rund 5000 Fachartikel über die Chronische Erschöpfung publiziert: Trotzdem ist nach wie vor nicht bewiesen, dass ein gestörtes Immunsystem die chronische Erschöpfung hervorruft. Ein paar jüngere Studien haben gezeigt: Manche Betroffene haben ungewöhnlich viel Milchsäure im Blut. Denkbar, dass die Kraftwerke in den Zellen, die sogenannten Mitochondrien, nicht richtig funktionieren. Mitochondrien treiben alle Prozesse einer Zelle an, zum Beispiel stellen sie Energie für Muskelzellen bereit. Wenn die kleinen Kraftwerke zu langsam arbeiten, behelfen sich die Zellen, indem sie Zucker in Milchsäure umwandeln. Das bringt zwar kurzfristig Energie – aber auch den Muskelkater-Schmerz. Und um die Milchsäure wieder abzubauen, ist noch mehr Energie nötig.
    CFS – eine Folge defekter Zellkraftwerke: Das mag plausibel klingen, vor allem in den Ohren von Betroffenen, die sich ständig wie nach einem Marathon fühlen. Aber bewiesen ist auch diese Hypothese nicht. So lange die Ursachen für die chronische Erschöpfung nicht eindeutig geklärt sind, so lange wird es ein Dilemma geben, sagt Carmen Scheibenbogen:
    "Ich kann jetzt CFS nicht mit einem einzigen Bluttest objektivieren, wie ich es zum Beispiel beim Diabetes kann."
    Stattdessen wird CFS nach dem Ausschlussverfahren diagnostiziert: Aids, Multiple Sklerose, chronische Leberentzündung – wenn diese und andere Krankheiten die chronische Erschöpfung nicht erklären können, dann fällt der Verdacht auf CFS. Und dann kommen viele in die Immundefekt-Ambulanz von Carmen Scheibenbogen. Mit vielen Röhrchen Blut werden vor allem Immunsystem-Parameter überprüft. Außerdem wird der Patient lange befragt, um die sogenannten Kanadischen Kriterien zu prüfen. Das ist ein Diagnose-Protokoll speziell für CFS, das kanadische Ärzte etabliert haben.
    Abgefragt wird zum Beispiel, ob die körperliche und auch mentale Erschöpfung schon länger als sechs Monate da ist. Oder ob man sich nicht mehr so gut konzentrieren kann und Wortfindungsstörungen hat. Abgefragt wird zum Beispiel auch, ob man Kälte oder Hitze nur noch schwer erträgt und ob man viel schläft, aber trotzdem nicht erholt aufwacht.
    Bis ein Betroffener die Diagnose G93.3 Chronisches Erschöpfungssyndrom erhält, vergehen in Deutschland durchschnittlich 7,5 Jahre. Das hat eine Umfrage unter den Mitgliedern des Selbsthilfe-Vereins Fatigatio ergeben.
    "Das Kind hat einen Namen, aber das macht es trotzdem nicht einfach. Es gibt keine Therapie. Man muss ja trotzdem – ist man trotzdem auf der Suche nach dem, was einem hilft."
    Pamela. 35 Jahre alt. Im Jahr 2007 nach Impfungen und einer Reise nach Bali krank geworden. Manchmal so erschöpft, dass das Haarefönen zu anstrengend wird. Im Jahr 2012 dann die Diagnose: CFS und ein Immundefekt. Den Immundefekt kann Carmen Scheibenbogen von der Charité behandeln. Die chronische Erschöpfung hat mittlerweile etwas nachgelassen: Sie kann wieder ein paar Stunden am Tag arbeiten und auch einmal etwas unternehmen. Aber so richtig gesund ist sie trotzdem nicht.
    "Ich bin neulich erst wieder ins Kabarett eingeladen worden, was ich echt toll fand, was mir echt viel Freude bereitet hat. An sich. Aber das Sitzen war extrem anstrengend, was auch diesen Abend wieder ein bisschen verleidet, weil das auch noch nachwirkt."
    All jene, die – anders als Pamela – einzig die Diagnose Chronisches Erschöpfungssyndrom bekommen, die kann Carmen Scheibenbogen nur zum Hausarzt zurückschicken. Denn eine zentrale Anlaufstelle gibt es nicht für Menschen mit CFS. Und die Immundefekt-Ambulanz an der Charité darf nur die Behandlung von Immundefekten abrechnen, also nicht die Diagnose G 93.3, CFS.
    Scheibenbogen: "Wir geben ja den Patienten dann einen Bericht mit, wo wir das zusammenfassen, und wo wir auch Behandlungsempfehlungen geben, relativ gezielt auf dem, was wir hier an Untersuchungen erheben und was uns auch über die Symptome, die die Patienten beschreiben, als möglicherweise hilfreich erscheint. Das ist, denke ich, auch wichtig für Hausärzte, dass sie eine Anleitung haben, wenn sie sich mit dem Krankheitsbild nicht auskennen."
    In dem Untersuchungsbericht wird dann zum Beispiel darauf hingewiesen, dass die Betroffenen nicht zum Sport gedrängt werden sollen, weil zu viel körperliche Belastung die Erschöpfung verstärken kann. Oder es wird ein Hustenschleimlöser empfohlen, weil dessen Wirkstoff die Mitochondrien womöglich besser arbeiten lässt und die Patienten dann vielleicht etwas mehr Kraft bekommen.
    "Man beginnt mit 1,2 bis 1,6 g am Tag, xxx Mikrogramm Vitamin B, 20.000 Einheiten Vitamin D3, hier ist eine sehr preisgünstige Internetadresse, wo Sie das Vitamin B3 in Tropfen-Einheiten bestellen können…"
    Zurück zur der Tagung des Selbsthilfe-Vereins "Fatigatio" in Berlin. Ein Naturheilkundler hält einen Vortrag. Fünf Minuten lang zählt er auf, was die CFS-Patienten alles nehmen sollten. Einige im Publikum schreiben mit.
    "… Dazu kommt eine Aminosäuren-Kombination, dazu bestimmte Bachblüten-Essenzen für die Psyche."
    Er nenne nur das Nötigste, damit es nicht so teuer wird, sagt der Mann vorne am Rednerpult.
    "Die Gesamtkosten liegen zwischen 2600 und 3000 Euro für acht Monate Behandlung."
    Kurz zuvor schwärmte ein anderer Redner von Q10, von seinem Q10 wohlbemerkt. Heiko hatte diese beiden Redner noch gehört, bevor er sich im Ruheraum schlafen legte. Als er gerade wieder aufwacht, schüttelt er den Kopf.
    "Auf der einen Seite habe ich einen – wie soll ich sagen – einen Informationshunger, weil ich ja wieder gesund werden will. Ich will ja wieder arbeiten gehen. Und auf der anderen Seite denke: Hier wird was verkauft; hier gebe ich wieder Geld aus. Ich habe kein Geld mehr. Ich habe eigentlich alles schon ausgegeben. Und dann kaufe ich mir wieder was und das bringt mir wieder nix."
    Carmen Scheibenbogen, die Leiterin Immundefekt-Ambulanz an der Charité, würde die CFS-Patienten gerne so beraten:
    "Dass wir sagen: Sie haben jetzt folgende Behandlungsmöglichkeiten; und mit einer Wahrscheinlichkeit, die so und so hoch ist, ist die Behandlung wirksam; und dann können diese und jene Nebenwirkungen mit dieser oder jener Wahrscheinlichkeit auftreten. Das ist das, was wir evidenzbasierte Medizin nennen. Und das beruht in der Regel auf einer ganzen Reihe von klinischen Studien, die auch kontrolliert in einer Behandlung mit einem sogenannten Placebo durchgeführt wurden. Und das kann man dann nachlesen in Datenbanken und das wird dann umgesetzt in Leitlinien. All diese Dinge haben wie leider bei CFS nicht."
    Zufallsfund in Norwegen
    Bislang wurde nämlich kaum untersucht, was gegen chronische Erschöpfung hilft. Ärzte und Forscher waren – wenn überhaupt – mit der Ursachen-Suche beschäftigt. Ein Zufallsfund aus Norwegen könnte die Forschung nun voranbringen.
    "Da! Das ist einfach eine andere Welt. Wir kommen jetzt in die Unterwelt des Krankenhauses."
    Das Haukeland Universitätskrankenhaus in Bergen, Norwegen.
    "Hier gibt es viele verschiedene Tunnel in alle möglichen Richtungen. Und man hört andere Geräusche. In gewisser Weise ist es auch ruhig. Und hier kommt eins von den Autos, das mich beim ersten Mal gefahren hat. Aber jetzt werde ich laufen!"
    Maria Gjerpe aus Oslo, Norwegen. 46 Jahre alt. Hatte Mitte der 1980er Jahre eine schwere Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus. Seitdem immer wieder monatelange, jahrelange Phasen, in denen sie schwer erschöpft war, Schmerzen hatte, empfindlich auf Licht und Geräusche reagierte. Wurde bettlägerig, konnte kaum mehr sprechen. Im Jahr 2009 die Diagnose: Myalgische Enzephalomyelitis, kurz ME.
    Enzephalomyelitis steht für eine Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks; und myalgisch bedeutet schmerzende Muskeln. Manche benutzen die Begriffe ME und CFS synonym. Maria spricht lieber von ME – weil das auf eine mögliche biologische Ursache hindeutet, eher nach einer richtigen Krankheit klingt als "chronische Erschöpfung".
    Maria Gjerpe hat ein Medikament bekommen. Jetzt ist sie so fit, dass sie flott durchs Krankenhaus läuft: zur Nachuntersuchung bei ihrem Arzt Oystein Fluge
    "Hei, Maria."
    "Hei, Oystein."
    "Welcome. Did you have a nice flight from Oslo?"
    "I did. I did."
    Der Wirkstoff, den Maria Gjerpe bekommen hat, heißt Rituximab. Rituximab ist eigentlich ein Mittel gegen Lymphdrüsen-Krebs. Dass es auch gegen das Chronische Erschöpfungssyndrom helfen kann, hat der Onkologe Oystein Fluge zufällig entdeckt:
    "Ich hatte 2004 eine Patientin mit einem Hodgkin-Lymphom. Sie hatte auch eine Myalgische Enzephalomyelitis, ein chronisches Erschöpfungssyndrom, nachdem sie 1997 am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankt war. Und während der Chemotherapie, die wir ihr gegeben haben, veränderten sich die CFS-Symptome ganz beeindruckend. Sie war weniger erschöpft. Während sie vor der Behandlung mehr oder weniger an den Rollstuhl gefesselt war, konnte sie jetzt lange laufen. Sie konnte ihr Haus streichen, im Garten arbeiten, mit ihrer Familie zusammen sein."
    Nach fünf Monaten war das Chronische Erschöpfungssyndrom aber wieder voll da. Oystein Fluge hat daraufhin Rituximab bei zwei weiteren Menschen getestet: Die waren auch seit einem Pfeifferschen Drüsenfieber chronisch erschöpft, hatten aber keinen Lymphdrüsen-Krebs: Auch ihnen half das Medikament für eine Weile. Oystein Fluge erklärt sich das so: Das Epstein-Barr-Virus, das das Pfeiffersche Drüsenfieber auslöst, befällt bestimmte Immunzellen, sogenannte B-Zellen. Der Wirkstoff Rituximab ist ein künstlich hergestellter Antikörper und heftet sich an diese B-Zellen. Daraufhin sterben die B-Zellen und mit ihnen werden auch die Epstein-Barr-Viren zerstört. Die Zahl der B-Zellen im Blut ging unter Rituximab schnell zurück. Spüren konnten die CFS-Patienten den Effekt allerdings erst später.
    "Deswegen haben wir uns gefragt, ob das ein Autoimmun-Mechanismus mit Antikörpern sein kann. Weil: Antikörper haben eine Halbwertszeit von drei bis vier Wochen. Das ist also etwas, das erst ausgewaschen werden muss, bevor sich die Symptome verbessern."
    B-Zellen sind jene Zellen des Immunsystems, die Antikörper herstellen: Proteine, die sich an Viren, Bakterien oder Krebszellen heften und so dafür sorgen, dass diese vernichtet werden. Manchmal verwechseln Antikörper auch körpereigene, gesunde Zellen mit dem Feind. Dann greift das Immunsystem sich selbst an und man spricht von einer Auto-Immun-Erkrankung. Sollte diese Erklärung zutreffen, müssten nicht nur die B-Zellen, sondern auch die Antikörper verschwinden, damit die chronische Erschöpfung nachlassen kann.
    Oystein Fluge hat den Krebs-Wirkstoff Rituximab weiter getestet. In einer ersten richtigen Studie bekamen 15 CFS-Patienten zwei Rituximab-Infusionen im Abstand von zwei Wochen. 15 weitere CFS-Betroffene bekamen Kochsalz-Lösung als Scheinmedikament, als Placebo. Bei den Nachuntersuchungen zeigte sich: Zehn der 15 Patienten, die das Medikament erhalten hatten, ging es nach zwei bis sieben Monaten besser; in der Vergleichsgruppe waren es nur zwei von 15.
    Maria Gjerpe: "Das Erste, was ich bemerkt habe, war, dass ich Fragen beantworten konnte, ohne darauf vorbereitet zu sein. Ich kann wieder denken. Hallo! Ich kann wieder denken! Das war wirklich etwas."
    Auch Maria Gjerpe, die gerade zu Oystein Fluge gelaufen ist, hat den Wirkstoff bekommen. Doch wieder gab es Rückfälle, den ersten schon nach acht Wochen mit gelinderten Symptomen. Daraufhin begann Oystein Fluge eine Langzeitstudie. Nun bekamen alle ganz offen Rituximab, und zwar mehrfach: zwei Wochen nach der ersten Infusion und dann noch einmal nach drei, sechs, zehn und 15 Monaten. Der Arzt hat seinen Laptop aufgeklappt und klickt sich durch verschiedene Abbildungen. Es sind die Verlaufskurven einzelner Versuchsteilnehmer.
    "Und hier ist eine Patientin aus der Rituximab-Gruppe von der ersten Studie: einige schwankende Symptome, und während die B-Zellen schon beginnen, sich zu erholen, reagiert sie bedeutend für drei Monate. Da hat sie sich gefühlt wie nie zuvor. Bis zum völligen Rückfall. Und dann in der zweiten Studie, der Langzeit-Studie: Ihr geht es immer noch völlig gut."
    Allerdings: Ein Drittel der Versuchsteilnehmer sprach überhaupt nicht auf den Wirkstoff an. Und nun zeigten sich auch Nebenwirkungen: Zwei Patienten reagierten allergisch auf den Wirkstoff; bei einigen verschlimmerten sich die Symptome sogar noch. Im Frühjahr 2014 startet der Onkologe eine dritte Rituximab-Studie. Diesmal sollen 144 Menschen mit dem Chronischen Erschöpfungssyndrom teilnehmen. Dass diese Studie überhaupt durchgeführt werden kann, ist vor allem einer Person zu verdanken: jener Frau mit einem schwarzen Pullover und einem lila Netzhemd darüber, die jetzt vor Oystein Fluge sitzt.
    Maria Gjerpe: "Die Haukeland Universitätsklinik hatte für diese Studie Forschungsgelder beim norwegischen Forschungsrat beantragt. Und als ich im Sommer 2012 gemerkt habe, dass ich wieder gesund werde, habe ich beschlossen: Wenn sie die Förderung nicht bekommt, dann werde ich das Geld sammeln. Als dann im November die Absage kam, habe ich gesagt: OK, dann machen das die Patienten. Ich werde eine Crowdfunding-Aktion starten und sieben Millionen norwegische Kronen in 90 Tagen sammeln."
    Sieben Millionen norwegische Kronen: Das sind rund 800.000 Euro. "ME and you" heißt die Kampagne. "ME and you" steht dabei für zweierlei: für "Du und ich" und für "Myalgische Enzephalomyelitis und ich". Im März 2013, kurz nach ihrer vorerst letzten Rituximab-Infusion, startet Maria Gjerpe die Crowdfunding-Kampagne offiziell: Etwa drei Monate würde sie nun Kraft haben für Blog, Twitter, Facebook, Reisen und Aktionen. Dann der Kassensturz:
    "Ich habe 2,8 Millionen norwegische Kronen gesammelt."
    Das ist zwar nicht einmal die Hälfte dessen, was Maria Gjerpe zusammenbekommen wollte. Aber das ist nicht schlimm.
    "Am letzten Tag meiner Kampagne meldete sich der norwegische Forschungsrat und hat gesagt, dass man den Rest des Geldes beisteuern werde. Also, die Studie ist finanziert."
    Oystein Fluge schaut seine Patientin etwas besorgt an.
    "Mir geht es gut."
    "Dir geht es gut. Immer noch. Das ist gut."
    "Mir geht es gut. Ich bin nur müde von der Crowdfunding-Aktion."
    "Du arbeitest 15 Stunden am Tag, hast du mir in einer E-Mail geschrieben."
    "Ja. Das hätte ich Dir nicht verraten dürfen. Aber ich habe viel gearbeitet und jetzt ist es an der Zeit, zur Ruhe zu kommen."
    "Um es nicht zu übertreiben."
    Rituximab bekommen und wieder so fit werden wie Maria Gjerpe: Das hofft so mancher CFS-Patient in Deutschland. Dabei darf man nicht vergessen: Dieses Medikament schaltet einen Teil des Immunsystems aus. Man weiß noch zu wenig über die Nebenwirkungen und Langzeitfolgen. Und es ist auch nicht für die Behandlung von CFS zugelassen, zumindest noch nicht. In Deutschland gibt es mindestens einen Fall, bei dem ein Betroffener sich das Medikament besorgt hat – und dann bettlägerig wurde.
    Carmen Scheibenbogen untersucht derweil Blutproben von den Studienteilnehmern aus Norwegen: Vielleicht lässt sich irgendetwas finden, womit man in Zukunft bei anderen Patienten voraussagen kann, ob sie gut, ein wenig oder gar nicht auf Rituximab ansprechen werden.
    "Wir hoffen auch, dass wir klären können, mit Hilfe unserer Tests, bei welchen Patienten Rituximab wirksam ist und bei welchen Patienten möglicherweise mit solchen Nebenwirkungen zu rechnen ist. Und bis dahin würde ich keine Behandlung mit Rituximab empfehlen."
    Auch wenn die Betroffenen leiden. Der Selbsthilfe-Verein "Fatigatio" geht davon aus, dass jedes Jahr etwa ein CFS-kranker Mensch in Deutschland sich das Leben nimmt. Ende 2012 gab es zwei Selbstmorde, erzählt Wolfgang vom Fatigatio-Vorstand.
    "Bei den letzten beiden ist es ausschließlich darauf zurückzuführen, dass die psychische Belastung der Erkrankung derartig zugenommen hat, dass sie eben nicht mehr mit dem Umstand klargekommen sind. Von der Isolation in der Familie bis hin zur Isolation im Umfeld zur Nichtakzeptanz der Gesellschaft."
    Heiko: "Keine Aussicht auf Arbeitengehen. Und das Schneeschippen, das hat mich dann schon wochenlang außer Gefecht gesetzt. Und ja, da hatte ich schon so den Gedanken: Ich darf selber entscheiden, auf den Rotz habe ich keinen Bock mehr. Entweder kann ich ein gescheites Leben führen oder ich verabschiede mich hier."
    Aber so leicht sei das dann eben doch nicht, sagt Heiko. Weil da immer noch die Hoffnung sei, dass es ihm bald wieder besser geht.
    "Ich bin leidenschaftlicher Pilzsammler zum Beispiel. Und wenn ich einmal in den Wald gehe, dann komme ich nicht wieder raus, weil ich denke: Hinter dem nächsten Baum steht noch einer. Und so geht es mir jetzt auch. Ich denke: Morgen schaffe ich es. Und das denke ich jetzt seit zehn Jahren."