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Corpus

Dieser Roman ist konstruiert. Er ist kompliziert und sperrig. Keine selbst erlebte Kiezgeschichte vom Prenzlauerberg, keine Lebensbeichte eines Mittzwanzigers, kein Buch für Freunde geiler Bücher. Und doch geht es in "Corpus", dem Romandebüt von Markus Orths, um Geilheit, um Nähe, um Körperlichkeit.

Michael Bauer |
    Ina und Kai, ein merkwürdiges Paar, werden von Christof beobachtet. Er fühlt sich zu ihnen hingezogen und bleibt doch auf Distanz. Christof ist ein Einzelgänger, der fremd in seinem Körper steckt. Die Drei sprechen über das, was sie bewegt - das Thema des Romans:

    Man nähert sich. Spricht zunächst über den Körper im Allgemeinen. Über Wirklichkeit und Zuschreibung, über Rollen und Erwartungen, über Text und Interpretation, über Bühne und Schauspiel, über die Möglichkeiten, die sich bieten, den zwanghaften Glauben an die zwei Geschlechter zu zertrümmern.

    Kein Hetero, kein Homo, kein Bi. "Mann" und "Frau" eine Fiktion. Strindberg lag falsch, wir alle sind Zwitterwesen im Kampf nur mit der eigenen Körperlichkeit. Ja, dieser Roman ist konstruiert. Er ist kompliziert und sperrig. "Corpus" stößt Leserinnen und Leser vor den Kopf, nein, tritt sie in den Bauch: Es gibt keine "Leserinnen und Leser" - es gibt von Natur aus keine Geschlechter, das will uns Markus Orths vermitteln. Ina, die Extremsportlerin und Kai, der schluffig-sensible Taxifahrer, dazu Christof, der Priester werden will - sie alle stecken in Körpern, die sie erst definieren müssen. Ein ungewöhnliches Thema für ein Romandebüt.

    Und da das mit dem eigenem, vor allem aber mit dem anderen Geschlecht nicht so ganz einfach ist und dies die Weltliteratur bis heute stofflich nährt, vielleicht erst einmal zur Handlung, zur Story dieses Romanerstlings:

    Paul, der schwule Ich-Erzähler, hat lange Jahre nichts mehr von Christof gehört. Mit Zwölf hatten sie in einem Schuppen nicht Doktor, sondern Priester gespielt. Paul sorgte als Winzersohn für den Meßwein, Christof, streng katholisch erzogen, kümmerte sich um's Liturgische. Seine kleine Schwester ertappt die beiden Meß-Knaben und verrät sie. Um sich an Christofs tobendem Vater zu rächen, füllen die beiden Jungen Gips ins Mehl. Moltofill-Pfannkuchen - ein tödlicher Streich: Nach der Beerdigung seines Vaters verstummt Christof. Nicht aus Trauer, wohl auch nicht aus Schuld. Er sucht einen Neuanfang und kommt in ein Klosterinternat. Er soll Priester werden. Als Christof und Paul dessen lebensfrohen Vater auf eine Wein-Messe begleiten, bricht Christof sein langes Schweigen. Die Zärtlichkeiten seines schwulen Freundes weist er allerdings zurück.

    Eigentlich sollte Orths' Roman "Di Vino", also "göttlich" oder "vom Wein" heißen, auch der jetzige Buchtitel "Corpus" ist vieldeutig: "Textkörper", "Körper" des Weins, "Corpus Christi" - Markus Orths spielt klug und belesen mit Begrifflichkeit und Sprache. Nichts will der Erzähler dem Zufall überlassen. Und wie in allen guten Büchern geht es natürlich auch um ihn, um seine Biographie.

    Orths' Romanfigur Christof ist ein Suchender, der sich quält, der sich den Entschluß, Priester zu werden, schwer macht und der schließlich fühlt, daß er nicht zum Geistlichen berufen ist. Aber wozu dann? Sein Autor läßt bewußt viele Fragen offen. Er verweigert nicht nur ein Happy End, er spielt auch die Karte "Schwulsein" nicht aus. Markus Orths verweigert sich trendigen, zeitgeistigen Haltungen: Kein Outen eines schwulen Priesterkandidaten, keine Kirchenkritik - kein "fröhlicher Weinberg".

    Corpus ist ein Roman, der viel riskiert, Wunden zeigt, Fragen aufwirft und keine Antworten gibt. "Corpus" ist kantig, nicht wohl geformt. In einer Zeit, in der mehr gejoggt als gelesen wird, in der gestählte Körper in Wellness gebettet werden, der Geist aber bestenfalls mit den Memoiren von Talk-Stars gefüttert wird, muß Markus Orths Debütroman anecken. Er entzieht seine Erzählfiguren konsequent dem Voyeurismus der Leser. Vorwürfe, sein Roman umschreibe Sexuelles, nenne die Dinge nicht beim Namen und sei verklemmt, lassen Orths kalt.

    Wann spielt sein Buch denn überhaupt? Zu Zeiten Adenauers? Und wo? Im Breisgau, bei Baden-Baden? Auch dies läßt Markus Orths offen. Ihm geht es darum, welchen Zwängen sich Männer und Frauen aussetzten und ausgesetzt werden, welchen Erwartungen in puncto "Corpus" sie sich hingeben und woran die Hingabe scheitert.

    Orths führt deshalb - alternierend mit der Geschichte von Christof und Paul - einen zweiten Erzählstrang ein und konfrontiert den Priesteranwärter mit Kai und Ina. Er wird Zeuge, Zeuge einer Begegnung, Zeuge einer Beziehung. Am Ende des Romans verunglückt Ina tödlich.

    Für Markus Orths bedeutet Schreiben auch eine sinnvolle Auseinandersetzung mit dem Tod, dem er als Kind, wie er jungenhaft lachend erzählt, zwei Mal von der Schippe gesprungen ist. "Corpus" ist ein merkwürdiger, lesenswerter Roman, dessen Reiz das Groteske ist.