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Kindesmissbrauch im Netz

In den letzten zehn Jahren gibt es immer mehr gemeldete Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern. Fotos der Taten werden nicht mehr unter dem Ladentisch gehandelt, sondern in verschlüsselten Bereichen des Internets. Mit neuen Abteilungen und spezieller Software gehen die Behörden auf Täterjagd.

Von Maximilian Schönherr | 24.06.2018
    In einem Auge spiegelt sich das Bild von Kindern am Strand.
    In einem Auge spiegelt sich das Bild von Kindern am Strand (picture-alliance/ dpa / Lehtikuva)
    Ich recherchiere gern tief und detailliert, und wenn es sein muss auch investigativ, also abseits der üblichen Pfade. Beim sexuellen Missbrauch von Kindern übers Internet geht das nicht. Ich würde mich selbst strafbar machen, wenn ich online nach kinderpornografischem Material suche. Die Suche allein stellt bereits einen Straftatbestand dar. Auch Wissenschaftler, die auf dem Gebiet forschen, dürfen sich die Bilder und Videos nur unter strengen Auflagen bei der Polizei ansehen.
    Polizisten und Psychologen äußerten mir gegenüber Bedenken, dass wir in dieser Sendung zu spezifisch werden, weil wir damit zukünftigen Tätern Gebrauchsanweisung liefern könnten.
    Umso verwunderlicher, dass ich dennoch auf offene Türen stieß. Die erste, die sich auftat, führte in einem ehemaligen Militärgebäude in Wiesbaden in ein kleines, karges Büro mit hohen Decken: das Bundeskriminalamt.
    "Mein Name ist Matthias Wenz. Ich bin stellvertretender Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen im Bundeskriminalamt."
    Früher, in den 90er-Jahren, sind häufig Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen – auch Kinderpornografie genannt – eher verschämt unter der Ladentheke gehandelt worden, in Sexshops und ähnlichen Einrichtungen. Aus unserer Sicht ist das heute gar nicht mehr der Fall. Das findet fast ausschließlich im Internet, im Netz statt, sowohl im offenen Internet, dem Clearnet, als auch im Darknet.
    Können Sie sich an das erste Bild erinnern, das Sie in dieser Richtung gesehen haben?
    "Das erste Bild zeigte den Missbrauch eines kleinen Mädchens. Das war kein schwerer Missbrauch, aber es war trotzdem sehr eingängig. Wenn Sie sich zum ersten Mal ein solches Bild anschauen, dann stellen Sie sich die Frage: Kann ich das machen oder nicht?"
    Hohe Frauenquote bei den Ermittlern
    Zweimal im Jahr gehen unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verpflichtend zum Psychologen, um eine Einzelsupervision zu bekommen, damit sie selber sicher sein können, keine langfristigen Schäden davonzutragen.
    Wie ist bei Ihnen die Frauenquote?
    "Die ist überdurchschnittlich hoch. Wir haben mehr Frauen als Männer hier in der Zentralstelle. Das ist ungewöhnlich für das Haus. Wir haben auch sehr viele junge Leute dabei, sehr viele junge Frauen, die selber gerade Familien gründen oder gründen wollen. Meine persönliche Einschätzung ist, dass da ein gewisser Beschützerinstinkt, ein Mutterinstinkt mit durchkommt und die ein oder andere dazu bewegt, Kinder vor Missbrauch zu beschützen."
    Das Bundeskriminalamt stellt eine stete Zunahme der gemeldeten Fälle in den letzten Jahren fest, wobei nicht klar ist, ob es tatsächlich mehr Fälle von Missbrauch gibt, oder ob sie früher angezeigt werden.
    Es sind zurzeit etwa 15.000 Fälle jährlich. Knapp die Hälfte davon kommen aus Deutschland. Die Aufklärungsquote ist außerordentlich hoch, nämlich 90 Prozent. Nur ein Zehntel dieser Täter gingen der Polizei durch die Lappen.
    Die andere Hälfte der Fälle werden den deutschen Behörden von einem US-amerikanischen Zentralregister gemeldet, und hier geht die Aufklärungsquote gegen Null. Grund: Die Internetverbindung, die der Täter genutzt hat, also über seine IP-Adresse, ist nicht mehr zu ermitteln, weil zwischen erstem Verdacht und dem möglichen Zugriff zu viel Zeit verstrichen ist. Nach spätestens zehn Wochen löschen deutsche Internet-Anbieter die Verbindungsdaten. Das Bundeskriminalamt hat dann nicht einmal die Möglichkeit, den Fall einem Bundesland zuzuordnen. Zieht man das mit in Betracht, ist die Aufklärungsrate nicht mehr 90 Prozent, sondern 40 Prozent.
    Ermittungserfolge gibt es auch
    In den letzten Monaten gab es einige spektakuläre Festnahmen, etwa im Mai 2018 in Brasilien mit über 500 Hausdurchsuchungen. Die deutschen Ermittlungsbehörden ließen im Sommer 2017 "Elysium" hochgehen, ein hoch verschlüsselt angelegtes Kinderpornografie-Forum im so genannten Darknet, mit fast 90.000 Mitgliedern, fast alle aus Deutschland und Österreich.
    Der vermutlich spektakulärste Einzelfall war der des Engländers Matthew Falder.
    Matthew Falder tritt in den Jahren vor seiner Verhaftung mit über 300 Menschen übers Internet in Kontakt. Seine wichtigste Anlaufstation ist Gumtree, ein in England beliebtes Kleinanzeigenportal. Hier suchen Kinder nach Spielzeugen, Erwachsene nach Autoteilen, viele schalten kostenlose Kontaktanzeigen. Falder, Mitte 20, Student der Geophysik in Cambridge, gibt sich als Künstlerin aus, die unter Depressionen leidet.
    "Ich suche künstlerisch gestaltete Privatfotos, selbstverständlich gegen Bezahlung."
    Es melden sich Menschen, die Mitleid mit der vermeintlichen Künstlerin haben - und Geld brauchen. Matthew Falder kann auswählen, mit wem er in Kontakt tritt. Besonders verletzlich wirkende junge Frauen und Mädchen bittet er um Selfies.
    "Räkle dich, musst nicht alles anhaben, zeig dich in einer künstlerischen Pose!"
    Als er die ersten Fotos und Videos erhält, wundert er sich, wie einfach das ging. Er spürt etwas wie Macht, die er über Menschen bekommt. Nach der freundlichen Anbahnung fordert er intimeres Material und startet die Erpressung.
    "Wenn du dich weigerst, schicke ich das, was ich schon von dir habe, deinen Eltern!"
    US-Behörden melden nach Deutschland
    Die US-Amerikanischen Internet-Anbieter und auch große Netzwerke wie Facebook haben sich verpflichtet, kinderpornografisches Material auch ohne Wissen des Kunden an eine regierungsnahe Behörde zu liefern, das National Centre for Missing and Exploited Children. Stellt diese Behörde fest, dass ein Täter aus dem deutschen Internet-Raum kommt, meldet sie es ans BKA in Wiesbaden. Bis die Informationen da verarbeitet werden können, sind die IP-Daten in der Regel gelöscht, und die Ermittlungen verlaufen im Sand.
    Der Knackpunkt ist die Vorratsdatenspeicherung. Die Strafverfolgungsbehörden waren in Deutschland schon immer die größte Lobby für längere Speicherfristen.
    "Verbrechen, die Online-Technologien nutzen, um Kinder zu missbrauchen, haben stetig zugenommen" - Ethel Quayle, Klinische Psychologin an der Universität von Edinburgh, Schottland. "Manche Formen des sexuellen Missbrauchs geschehen über Videotelefonie, also Live Streams. Sie wären ohne Internet gar nicht möglich gewesen. Die Zunahme betrifft nicht nur die Menge des Materials – mehr Bilder, mehr Filme. Es verändert sich auch qualitativ etwas: nämlich durch die Art, wie das Internet zwischenmenschliches Verhalten formt und Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet. Es gab zuvor nichts Vergleichbares. Wenn zum Beispiel früher jemand einem Kind nahe kommen wollte – im Englischen nennen wir das 'Grooming' -, dauerte das lange. Der Erwachsene musste langsam das Vertrauen des Kindes oder der Eltern des Kindes gewinnen. Heute kann jemand ohne Probleme 100 Fotos auf dem Bildschirm versammeln, sich eins aussuchen, das er als Profilbild nutzt, um seine Identität zu verschleiern. Dann hat er eine ganze Reihe vorgefertigter Chat-Textbausteine, um nicht alles neu per Hand eintippen zu müssen. So ausgestattet kontaktiert er dann eben gleich eine ganze Reihe von potenziellen Opfern. Natürlich eröffnet uns das Internet auch ganz tolle Möglichkeiten, aber was den sexuellen Missbrauch angeht, schafft es Nähe in einer Geschwindigkeit, wie wir es nie geahnt hätten."
    Ethel Quayle arbeitet seit zehn Jahren im Rahmen von EU-Forschungsprojekten auf diesem Gebiet. Sie fertigt Statistiken an, interviewt als Psychologin Opfer und Täter.
    "Ein verurteilter Täter sagte mir kürzlich, das Online-Grooming erinnere ihn ans Angeln. Mit dem Internet kann ich heute meine Leine locker 100-mal auswerfen, jemand wird schon anbeißen. Man muss also nicht mehr umständlich das Vertrauen eines Kinds gewinnen, wenn man auf sexuellen Kontakt aus ist."
    Pionier bei der wissenschaftlichen Untersuchung des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen im Internet war die Universität von New Hampshire in den USA. In drei Studien belegte das dortige Crimes Against Children Research Center schon vor Jahren die Zunahme von Sexualverbrechen übers Internet.
    Brutales Bildmaterial mit kleinen Kindern
    Ethel Quayle wertete jetzt neuere Daten von Interpol aus. In den weitaus meisten Fällen sind die Opfer Kinder vor der Pubertät, also um die zehn, 12 Jahre jung. Zunehmend findet die Polizei aber auch strafrechtlich relevantes Bildmaterial mit Jugendlichen in und nach der Pubertät.
    Die neuen Opfer-Statistiken listen, wenn auch in verhältnismäßig kleinen Mengen, oft sehr brutales Bildmaterial mit kleinen Kindern und Babys auf. Ethel Quayle und ihre Kollegen vermuten, dass diese Fotos und Filme in der Regel von Familienmitgliedern aufgenommen wurden, denn Dreijährige sind ja noch nicht online. Kinder unmittelbar vor der Pubertät dagegen haben Smartphones und Möglichkeiten, selbst online zu kommunizieren.
    Matthew Falder alias "depressive Künstlerin" droht dem Mädchen, von dem er ein Halbnackt-Selfie bekommen hat, es den Eltern zuzuschicken – falls die Kleine nicht weitere Fotos liefert, und Videos, in denen sie mit ihrem Körper spielt.
    "Komm, zeig dich nicht immer von der Seite, sondern von vorn!"
    Falder gibt seinen Opfern immer detailliertere Regieanweisungen. Er lässt seinen pädophilen Macht-Fantasien freien Lauf. Einen jungen Mann zwingt er dazu, die Kloschüssel mit der Zunge abzulecken und versteckte Kameras in der Toilette seiner Eltern anzubringen. Er nötigt seine Opfer, ihre kleinen Geschwister zu verletzen und das zu filmen. Die Aufnahmen tauscht er dann im Darknet mit anderen.
    Falder weiß, das ist hoch kriminell. Um auf keinen Fall erwischt zu werden, vertuscht er seine IP-Adresse und schickt seine Nachrichten verschlüsselt. Im offenen Internet nennt er sich "In the Garden"; im Darknet, wo sich nicht die Kinder, aber die Täter treffen, heißt er "evilmind" oder "666devil". Er tauscht sich da, vollständig anonym, mit Gleichgesinnten aus. Seine Wünsche sind unter anderem: Ein Video, in dem einem Kind langsam die Knochen gebrochen werden. Ein kleines Mädchen als Dart-Brett. Vergewaltigung eines gelähmten Kinds.
    Wehtun bis auf die Kochen heißen diese Foren, englisch: "Hurt Core". Wie alle anderen zeigt Falder dort von sich kein reales Foto, sondern einen Avatar. In seinem Fall ist das das Selfie eines Mädchens, das Falder irgendwo im Internet gefunden hat.
    "Das ist meine Tochter!"
    Und er prahlt, er werde die Kleine jetzt eine ganze Woche lang quälen.
    "Es wird für sie eine Höllenwoche werden."
    Einige seiner Opfer gehen zur Polizei: Andere halten den Druck nicht mehr aus und spielen mit dem Gedanken, sich umzubringen. Falder in einem Hurt Core-Forum:
    "Ob die Kids überleben oder sterben, ist mir doch egal."
    Längere Bearbeitungszeiten
    Australische, britische Fahnder und Interpol schleichen sich unter falscher Identität ins Darknet-Forum ein. Sie finden das Mädchen, dessen Foto Matthew Falder als Profilbild nutzt, identifizieren es, aber sie kommen nicht weiter.
    "Die werden mich nie kriegen."
    "Die Nachrichten: Sachsen-Anhalts Generalstaatsanwaltschaft warnt vor immer länger dauernden Bearbeitungszeiten bei Fällen von Kinder- und Jugendpornografie. Als Gründe führen die Juristen gestiegene Datenmengen und fehlendes Personal im technischen Bereich an. Das Landesinnenministerium wies die Darstellungen zurück. Eine neue Auswertungssoftware ermögliche etwa die sofortige strafrechtliche Bewertung des Datenmaterials. Die Auswertungszeit habe teilweise um 50% reduziert werden können. Die nächsten Nachrichten um 9 Uhr."
    "Der Algorithmus lernt über das Betrachten von Beispieldaten – in diesem Fall von bildlichen Darstellungen –, bestimmte Eigenschaften und spezielle Merkmale zu erkennen und dadurch eine Entscheidung zu treffen, sprich: Kindesmissbrauch ist in dem vorliegenden Bild vorhanden" - Christian Schulze vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Kaiserslautern. Seine selbstlernende Software ist die erste ihrer Art. Sie wird heute von einigen Kriminalpolizisten genutzt, auch international, bei Europol.
    Schulze erkannte das Problem, dass die Ermittlungsorgane beim Durchsuchen von Internetforen und beschlagnahmten Festplatten große Mengen unbedeutenden Materials ansehen müssen, bis sie auf Missbrauchs-Bilder und -Filme stoßen. Die von Apple und Google bekannte Bilderkennung ist auf Gesichter spezialisiert, die von Christian Schulze auf Szenen mit Kindesmissbrauch.
    Auch nach seiner Einschätzung hat sich die Menge an Bildern und Filmen in den letzten Jahren vervielfacht; die Menge der Beamtinnen, die sie sichten müssen, aber blieb gleich. "Ich hatte zumindest den Eindruck, dass man erst mal zufrieden war, was die Erkennungsrate angeht. Denn die Treffer, die als positiv, sprich als Missbrauchsdarstellungen bewertet wurden, sind auch von den Ermittlern in diese Kategorie eingeordnet worden."
    Das heißt, es gab keinen einzigen Fehlgriff?
    "Doch. Ein 'False Positive', wie wir sagen, ein falsch positives Beispiel war – das Foto von einem Frosch!"
    Das klingt komisch, ist es aber nicht, denn der Frosch hatte alle Beine von sich gestreckt. Das Programm arbeitet nicht unbedingt besser als die Menschen, die das Material quasi händisch auswerten müssen, eines nach dem anderen, aber es ist schneller, zudem emotions- und ermüdungsfrei. Es kann innerhalb von wenigen Stunden viele Terabyte an Bilddateien auf beschlagnahmten Festplatten oder Internet-Servern analysieren.
    "Ein Ermittler müsste klassisch durch alle Bilddateien erst mal durchgehen und im Einzelnen überprüfen, ob es um legale oder illegale Inhalte geht. Und allein das ist vom Zeitaufwand oft nicht in den vorgegebenen Fristen zu machen."
    Vom Algorithmus zur Strafverfolgung
    110 der Strafprozessordnung fordert ein zügiges Abarbeiten beschlagnahmter Datenträger, typischerweise ein halbes Jahr.
    Die Software des KI-Instituts in Kaiserslautern trifft keine Entscheidungen, sondern ordnet die Bilddateien nach Wahrscheinlichkeiten, ob es sich um Missbrauch handelt oder nicht. Es reicht dann, wenn die Beamten sich nur die als am Wahrscheinlichsten gekennzeichneten Fotos ansehen.
    Wenn KI-Software dieser Art Standard wird, haben die Täter kein leichtes Spiel mehr, ihre pädophilen Bilder in 10.000 unverfänglichen Bildern zu verstecken.
    "Die Software betreibt jetzt keinerlei Altersverifikation. Das ist auch ein äußerst schwieriges Metier. Gleichwohl gibt es Ansätze, die das versuchen. Jedoch sind die Genauigkeitsraten in dem Kontext, ja, sagen wir mal: übersichtlich."
    Nach der groben Vorauswahl beginnt also die Kleinarbeit der Ermittler. Matthias Wenz vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden:
    "Für uns ist es erst mal wichtig, das Alter des Opfers festzustellen. Haben wir Hinweise aufgrund körperlicher Merkmale darauf, dass die Person im vorpubertären oder Kindesalter ist, um das einschätzen zu können."
    Kann man das gut?
    "Bei manchen Aufnahmen tun wir uns damit schwer, wenn wir sehr wenig körperliche Merkmale sehen können."
    Weil die Person angezogen ist?
    "Ja, weil sie angezogen ist, oder weil die Aufnahme, der Bildwinkel nicht dazu geeignet ist. Es gibt mittlerweile auch HD-Aufnahmen. Wir stellen allerdings auch fest, dass es häufig sehr verschwommene Aufnahmen sind, auch schlecht belichtet. Verdeckte Aufnahmen, glaube ich eher weniger; wenn, dann werden die Aufnahmen bewusst durchgeführt."
    Die Kinder sind sich also bewusst, dass sie aufgenommen werden?
    "Die Kinder sind sich wahrscheinlich bewusst, dass sie aufgenommen werden. Die Täter gehen da sehr perfide vor, versuchen, das Kind, also das Opfer, einzuschüchtern. Sie sagen, das bleibt unser Geheimnis. Wenn du davon etwas erzählst, muss deine Mama ins Gefängnis, oder ich werde schwer krank oder dergleichen."
    Bilderserien geben Hinweise auf Ort und Tageszeit
    Das lesen Sie dann zum Beispiel in den Kommunikationsdaten, die Sie auf den Festplatten finden?
    "Das sehen wir an Bildverläufen. Wenn Sie zum Beispiel eine Bilderserie haben, die sich über mehrere Jahre hinweg zieht, dann können Sie sehen, dass sich ein Kind am Anfang einer Serie sehr zurückhaltend, unsicher, ängstlich verhält, und dann 'dressiert' wird, sich entsprechend zu verhalten vor der Kamera."
    Die Bilderserien geben den Ermittlern häufig Hinweise auf Ort und Tageszeit des Verbrechens. Das ist klassische Kripo-Arbeit, so wie auch die Altersbestimmung der Kinder. Die KI-Software versagt in diesem Punkt. Sie benötigt konkretere Anhaltspunkte. Christian Schulze vom Institut für Künstliche Intelligenz in Kaiserslautern kommt der Altersbestimmung jetzt auf andere Weise bei, nämlich, wenn er Videomaterial mit Ton vorliegen auswertet.
    "Über die Tonspur habe ich viel eher einen Zugriff auf ein mögliches Alter und Geschlecht einer Person, als wenn ich das nur visuell habe. Es geht um die Grenzfälle junger Erwachsener, Teenager. Es gibt eine so genannte Anregungsfrequenz in den Stimmbändern. Und diese liegt bei Kindern deutlich höher als bei Frauen und bei Männern."
    Maschinelles Lernen und KI werden es Tätern in nächster Zukunft sehr viel schwerer machen, sich zu verstecken.
    Matthew Falder geht ins Netz
    "Die werden mich nie kriegen."
    Die Ermittlungen der Britischen Kriminalpolizei und Interpol kreisen Matthew Falder langsam ein. Eine Sprecherin in London nennt Falder "ein hoch manipulatives Individuum, das eindeutig Lust darin verspürt, seine Opfer zu erniedrigen. Er plant sein Vorgehen höchst ausgefeilt, nutzt Verschlüsselung und falsche Identitäten."
    Am 21. Juni wird er in seinem kleinen Büro an der Universität von Birmingham festgenommen. Originalvideo der NCA, dem britischen Pendant des BKA.
    Falder, inzwischen 29 Jahre alt, trägt ein gelbes T-Shirt, sein verschwitztes Haar zeigt im Gegenlicht die kurzen Locken. Neben ihm an der Wand eine Vitrine mit alten Büchern, davor zwei Dutzend grüne Aktenordner. Matthew Falder hatte in Cambridge im Fach Geophysik promoviert. Hier in diesem Büro in Birmingham ging er seiner Tätigkeit als Postdoc nach. Auf seinen Festplatten zuhause finden die Ermittler Tausende Bilder und Filme von Kindesmissbrauch.
    Professor für forensische Psychiatrie an der Universität Regensburg Michael Osterheider hat eine Anlaufstelle für pädophil veranlagte Menschen eingerichtet, ähnlich wie die Charité in Berlin. Osterheider sagte mir am Telefon, es sei wichtig, sich schnell Hilfe zu holen, wenn man diese Neigung verspürt. Denn ist man erst einmal in Internetforen gelandet, wo diese Fantasien in Text und Bild ausgetauscht werden, ist es meist zu spät. Er nannte das den "Point of no return". Matthias Wenz vom Bundeskriminalamt:

    "Im normalen, offenen Internet, wird, glaube ich, die Mehrzahl an Kinder- und Jugendpornografie getauscht und gepostet. Das deutlich härtere Material finden wir tatsächlich im Darknet, diesen entsprechenden Foren und Boards. Deswegen sind wir natürlich auch dort unterwegs und können Ermittlungserfolge erzielen. Verschlüsselung und Anonymisierung ist für uns ein großes Ermittlungsproblem, ganz klar. Wir versuchen deswegen, durch bestimmtes taktisches Vorgehen, das ich Ihnen leider nicht näher erläutern darf, das zu umgehen. Wir müssen nicht unbedingt versuchen, mit dem Brecheisen Verschlüsselung zu knacken. Es gibt auch andere, elegantere Wege. Das Vorgehen gegen das Board Elysium letztes Jahr hat gezeigt, dass wir auch ein ganzes Board im Darknet hochnehmen können, ohne dass wir groß mit dem Bulldozer ran müssten."
    Es ist klar, auch wenn das BKA das nicht zugeben wird, dass man in geschützte Darknet-Foren nur durch vertrauensbildende Maßnahmen hineinkommt. Das heißt, indem man Undercover agiert und so tut, als sein man selbst Kinderschänder. Um das vor den anderen zu beweisen, muss man selbstverständlich einschlägiges Material liefern, bevor man aufgenommen wird.
    Im Juni 2018 fiel dazu eine politische Entscheidung: Die Justizminister der Bundesländer einigten sich darauf, dass die Kriminalpolizei künftig tatsächlich kinderpornografisches Material einsetzen darf, um sich in einschlägigen Internetforen einzuschleusen. Die Bilder dürfen laut Ministerbeschluss jedoch nicht echt, sondern sie müssen computergeneriert sein.
    Mit freier Hand bei Darknet-Ermittlungen und neuen Software-Werkzeugen, die maschinell dazulernen, haben die Ermittler wesentlich bessere Ausgangspositionen beim Aufspüren von kinderpornografischem Material als noch vor wenigen Monaten. Wenn die Vorratsdatenspeicherung trotz aller Datenschutzbedenken auf ein halbes Jahr eingerichtet würde, wäre das ein zusätzliches, sehr mächtiges Instrument für die Polizei.
    "Wir leben in einer zunehmend sexualisierten Zeit"
    Die klinische Psychologin Ethel Quayle von der Universität Edinburgh betreibt eine Anlaufstelle für die Opfer und ihre Eltern. Es genügt ihrer Meinung nach nicht, wenn die Eltern die Kinder warnen, dass nicht jeder, der im Chat total lieb und nett ist, auch wirklich lieb und nett ist. Wichtiger, so Ethel Quayle, sei, dass Kinder so viel Vertrauen zu ihren Eltern haben, dass sie auch dann, wenn schon etwas passiert ist und die Erpressung begonnen hat, mit ihnen angstfrei sprechen können. Dieses Vertrauen würde, zumindest in den reicheren Ländern, wo Kinderprostitution selten ist, das Übel an der Wurzel packen. Denn ohne erpressbare Kinder und Jugendliche gibt es keine Kinderpornografie, und etliche pädophil veranlagten Menschen würden nicht zu Tätern, weil sie übers Internet keine Opfer finden.
    "Sexting, also der Austausch sexuell aufgeladener Privatnachrichten, gehört vermutlich zum normalen Erwachsenwerden dazu. Häufig findet der Missbrauch zwischen Gleichaltrigen statt, etwa durch das böswillige Weiterreichen typisch pubertärer Fotos in der Schule. Wir leben in einer Zeit, die zunehmend sexualisiert ist, wo Smartphones eine Erweiterung unseres Selbst sind und wir alles fotografieren, auch sehr Privates. Den meisten Kindern in unseren Studien ist völlig bewusst, worauf sie sich einlassen, wenn sie jemanden, den sie nicht privat kennen, online kennenlernen."
    Matthew Falder war der brutalste bekannte Fall von Kindesmissbrauch in der Zeit von Smartphones und den sozialen Netzen des Internets durch einen Einzeltäter. Die Kinder und Jugendlichen verletzten sich und andere auf seinen Wunsch. Der Täter traf keines seiner Opfer im analogen Leben. Richter Philip Parker in der Urteilsbegründung im Februar 2018 in London:
    "Sie sind der Datenautobahn-Mann, der seine Opfer lustvoll kontrolliert und quält. Unter den Auswirkungen Ihrer Taten leiden Ihre Opfer bis an ihr Lebensende. Ich verurteile Sie zu 32 Jahren Haft."