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Das Echo des Schreckens

Der Schriftsteller Walter Kempowski stellte hunderten Zeitzeugen jeweils eine einzige Frage. "Haben Sie Hitler gesehen?" 1973 erschien der Band mit den Antworten, 1978 die Antworten auf "Haben Sie davon gewusst?". Sie sind nun in einer Neuauflage erschienen.

Von Sabine Pamperrien |
    Die beiden Bücher "Haben Sie Hitler gesehen?" und "Haben sie davon gewusst?" sind frühe Geniestreiche des vor fünf Jahren verstorbenen Walter Kempowski. Beide Bände enthalten ausschließlich Antworten auf die in den Titeln genannte Frage. Befragt wurden Angehörige einer Generation, die sich bis in die 1970er-Jahre hinein durch kollektives Schweigen jeglicher Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte im Nationalsozialismus entzogen hatte. Kempowski brach das Tabu, als er auf der Straße die Menschen fragte: Haben Sie Hitler gesehen? Einige Antworten wurden für ein Hörspiel dokumentiert:

    "Nein. Die Nachbarsfrau hatte ein Hitler-Bild neben dem anderen hängen. Und wenn Hitler sprach, sagte sie: 'Ich könnte geradezu das Radio streicheln'."

    "Ja. Das war 1931/32. Regen. Und wir warten. Und wir warten. Klitschnass. Und der große Führer kam nicht. Dann endlich. Dann endlich. Und dann stellt der sich im Braunhemd in den Regen und hielt eine zündende Ansprache an sein Volk und stand auch ohne Regenschirm. Die, die andern alle: 'Doch. Doch, das ist doch was! Das ist doch was!' Der hat sogar den Regen propagandistisch ausgenutzt."

    Ursprünglich hatte Walter Kempowski mit seiner Umfrage unter rund 500 Zeitzeugen des Nationalsozialismus nur Hintergrundmaterial für seinen zwischen 1938 und 1945 spielenden Roman Tadellöser und Wolff recherchieren wollen. Als er sich die Antworten jedoch genau anschaute, habe er gemerkt, dass sie von allgemeinerem Interesse sein könnten, so Kempowski – und veröffentlichte sie erstmals 1973 in einem Buch, 1978 folgte der zweite Band. Kaum je zuvor wurde in ganz persönlichen Beobachtungen normales Leben von Deutschen unter Hitler derart erfahrbar gemacht. Der Journalist Sebastian Haffner verfasste ein Nachwort für den ersten Band, das – wie auch das Nachwort des Publizisten Eugen Kogons zum zweiten Band - in der aktuellen Neuauflage enthalten ist. Sowohl Haffner als auch Kogon, beide in ihrer Zeit die bedeutendsten Beobachter der Deutschen, hoben in ihren lesenswerten Beiträgen Gründe und Folgen des Schweigens hervor. Nur eine Vorgehensweise wie Kempowskis listige Indirektheit, so Haffner, konnte die Leute zum Reden bringen.

    Wenn man die Leute auf den Kopf zu nach ihrer Meinung über Hitler fragt – der damaligen und der jetzigen -, wird wohl auch heute noch ziemlich geschwindelt. Die Generation, die Hitler erlebt hat – ganz egal, wie sie ihn erlebt hat -, hat nachher von diesem Erlebnis nicht mehr sprechen mögen. Sie hat nichts davon an ihre Kinder weitergegeben und insofern ist die blanke Ignoranz und Uninteressiertheit der Jüngeren das Werk der Älteren."

    Haffner spielte auf die 68er-Generation an, die pauschal die Eltern als Tätergeneration angriff. In der Rezeption von Kempowskis Büchern zeigte sich, dass die Generation, die den Nationalsozialismus erlebt hatte, sich darin erkannte. Erst Kempowskis Sammlung erhellte die wahre Gemütslage der Deutschen unter Hitlers Herrschaft. Und veranschaulichte, dass die weit weniger von Führerkult und Kriegshysterie geprägt war, als von der Selbstbezogenheit des Einzelnen und der daraus resultierenden Gleichgültigkeit. Die Sammlungen wurden nicht nur in Deutschland, sondern auch international zu Bestsellern. Warum das Private so wichtig sei für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus - und Geschichte überhaupt -, erläuterte Kempowski so:

    "Es gibt dieses Schlagwort von der exemplarischen Existenz, wenn ich das Allgemeine treffen will. Je privater ich werde, desto allgemeiner werde ich. Denn die aller privatesten Dinge sind auch gleichzeitig die Dinge, die uns alle verbinden."

    Als "Bauchredner der Nation" wurde der Autor 1973 in der ZEIT für seine Zitate-Sammlung tituliert. Das war durchaus anerkennend gemeint. Kaum je zuvor war das Wesen des Nationalsozialismus besser fassbar geworden. Der Autor verzichtete als literarischer Vermittler auf jegliches eigene Urteil. Walter Kempowski ließ die Menschen für sich sprechen. Und er ließ seine Leser selbst schlussfolgern. Beide Bände wurden später in Kempowskis berühmte deutsche Chronik eingereiht, in der sich seine autobiografischen Romane mit den Zitate-Sammlungen zur Geschichte der Deutschen verbanden. In der kurzen editorischen Notiz zu "Haben Sie davon gewusst?" von 1978 findet sich ein Satz, von dem getrost behauptet werden kann, er erfasse den Grundgedanken von Kempowskis gesamtem Schaffen - bis hin zu seinem zehnbändigen zweiten Hauptwerk "Das Echolot", das ausschließlich aus unkommentierten Originalquellen besteht.

    Aufgeschrieben und nach Hause getragen, kann wenigstens das Echo der Schrecken vernommen werden, es kann zur Schärfung unseres Gewissens dienen.

    Die von Kempowski aufgezeichneten Antworten erzeugen dieses Echo auch heute noch.

    Buchinfos:
    Walter Kempowski: "Haben Sie Hitler gesehen? Haben Sie davon gewusst?". Knaus Verlag, Neuauflage 2012, 349 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: 978-3-813-50481-1