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Das Ende der langen Leine

Ab 2013 reformiert die EU-Kommission ihre Fischereipolitik. Sie will Forscher, Fischer und Umweltverbände dazu bringen, enger zusammenzuarbeiten. Dabei orientieren sich die Experten auch an einem ganz besonderen Nationalpark in Schweden.

Von Christine Westerhaus | 27.11.2011
    Der Fischkutter "Sternhai" nimmt Kurs auf die dänische Ostseeinsel Bornholm. Kapitän Gert Erler steht im Steuerstand und sucht den Meeresboden mit einem Echolot nach Heringsschwärmen ab. Seit 40 Jahren fährt er als Fischer zur See. Früher konnte der Ende 50-Jährige damit gutes Geld verdienen. Doch inzwischen gelten in Europa zwei Drittel aller Fischbestände als überfischt. Jahr für Jahr hat die Fischereikommission der EU die Fangquoten weiter gesenkt und neue Vorschriften erlassen. Dennoch gilt die Gemeinsame Fischereipolitik in Europa als gescheitert. Um Fisch als Nahrungsmittel für viele zu erhalten und um dabei die Zukunft der Fischerei zu sichern, probiert die EU Kommission neue Wege aus: Forscher, Fischer und Umweltverbände müssen enger zusammenarbeiten.

    Der Ostsee-Fischer Gert Erler beobachtet per Echolot, was sich unter dem Schiffsboden alles tummelt. Heute Nacht macht die "Sternhai" Jagd auf Heringe. Kapitän Erler wartet auf den richtigen Moment, in dem er sein Schleppnetz auswerfen kann. Auf einem Computerbildschirm verfolgt der stämmige Seefahrer dazu ein Diagramm mit vielen roten Punkten.

    "Dafür haben wir hier ein bisschen Technik. Zum Beispiel da sehen wir diese roten Punkte: Das sind die Fische. Das können jetzt Sprotten sein, können Heringe oder Dorsche sein, kann auch mal ein Lachs sein. Aber im Prinzip sind das Jungfische: Sprotten aber auch Heringe. Und jetzt muss ich an dem Bild und dem anderen da drüben muss ich erkennen: Ist das jetzt gut oder nicht."

    40 Jahre Erfahrungswissen helfen Gert Erler bei seiner täglichen Arbeit. Der aus Chemnitz stammende Fischer kennt sich in der westlichen Ostsee aus wie in seiner Westentasche. Und er beobachtet mit bloßem Auge Veränderungen, für die Klimawissenschaftler aufwändige Studien betreiben. Die Fangsaison für die Heringe beispielsweise beginnt inzwischen schon einen Monat früher als noch vor zehn Jahren. Umso mehr ärgert es den erfahrenen Fischer, dass er sich von anderen vorschreiben lassen muss, wie und wann er seine Netze auswerfen darf.

    "Ich bin ja immer bloß die Maus im Hamsterrad. Ich versuch das zu machen, jeden Mist, den sie sich gerade haben einfallen lassen. Und wenn sie das gemacht haben dann heißt es: Wir haben uns das jetzt überlegt, wir haben jetzt eine bessere Variante. Da kann ich meinen Mist wieder wegschmeißen und wieder neuen kaufen."

    Zum Beispiel Netze. Die Fischereikommission der EU legt unter anderem fest, welche Maschenweite die Netze haben sollen, wie viele Tage ein Fischer auf See verbringen darf und welche Größe ein Fisch haben muss, damit er an Land gebracht werden darf. Diese Regulierungen sollen helfen, das Problem der Überfischung in den Griff zu bekommen. Doch viele Fischer fühlen sich durch diese Maßnahmen gegängelt und in ihrer täglichen Arbeit behindert. Gert Erler:

    "Der Theoretiker weiß gar nicht, wie mir zumute ist. Das kann der nicht wissen, weil der gar nicht weiß, dass es Leute wie mich gibt, das kann der nicht wissen. Der denkt, da sitzt einer am Knopf und macht 'Wupp' und 16 Uhr ist Feierabend. Und wir plagen uns hier Tag und Nacht rum und zur Belohnung muss ich mir auch noch dumm kommen lassen."

    Mit diesen Vorwürfen stehen die Fischer jedoch nicht allein - auch viele Forscher bemängeln, dass kaum jemand das Durcheinander von Vorschriften und Regeln noch durchschauen kann. Christopher Zimmermann ist einer von ihnen. Der Fischereibiologe arbeitet am Johann Heinrich von Thünen-Institut für Ostseefischerei in Rostock und entwickelt Projekte, die Fischern mehr Mitspracherecht bei ihrer täglichen Arbeit einräumen.

    "Im Grunde erlassen wir eine Regel und bevor wir überhaupt wissen, ob die Regel überhaupt gewirkt hat, merken wir: Irgendwas läuft nicht ganz so, wie wir uns das vorgestellt haben. Im Zweifel läuft es nicht schnell genug und dann packen wir eine neue Regel obendrauf, ohne die alte abzuschaffen. Und so kommt eine Regel auf die andere und die Fischerei beschwert sich zurecht darüber, dass wir ein überbordendes Ausmaß an Regeln haben, die man nicht alle gleichzeitig befolgen kann. Einige Regeln widersprechen sich tatsächlich – da wird es dann völlig unsinnig - die man aber vor allem auch nicht kontrollieren kann."

    Für besonders viel Kritik sorgt die so genannte Mindestanlandelänge. Das ist die Größe, die ein Fisch mindestens erreicht haben muss, damit er an Land gebracht werden darf. Eigentlich ist diese Regel sinnvoll, denn so werden kleine Fische geschont, die sich noch nicht fortgepflanzt haben. Gleichzeitig reguliert die EU-Kommission aber auch die Maschenweite der Netze, mit der bestimmte Fischarten gefangen werden dürfen. In manchen Fällen, wie zum Beispiel beim Dorsch, war die Maschenweite der Netze jedoch lange Zeit nicht auf die vorgeschriebene Mindestanlandelänge abgestimmt. Dadurch landeten automatisch zu kleine Fische im Netz, die die Fischer wieder über Bord kippen mussten. Kapitän Erler hat für diese Verschwendung wertvoller Ressourcen nur Kopfschütteln übrig.

    "Das ist ja der eigentliche Widerspruch. Wenn ich sie fange, sind sie hier drinne, dann haben sie Pech gehabt, dann sind sie tot. Wenn sie tot sind, kann ich sie auch eigentlich mitnehmen und dann kann ich sie auch essen. Ich darf sie aber nicht essen. Und verkaufen darf ich sie schon gar nicht. Also schmeiße ich sie weg."

    Ein ähnliches Problem ist der so genannte Beifang. Denn bei einigen Fangtechniken gehen automatisch Fischarten mit ins Netz, auf die es der Fischer eigentlich nicht abgesehen hat. Hat er keine Quote für diese Arten, darf er sie nicht mit an Land nehmen. Auch dieser wertvolle Speisefisch geht auf vielen Kuttern als Müll wieder über Bord. Schätzungen der Welternährungsorganisation FAO gehen davon aus, dass pro Jahr etwa sieben Millionen Tonnen Fisch als so genannte discards wieder ins Meer zurückgekippt werden. Christopher Zimmermann:

    "Der eine Aspekt ist die Biologie, dass es unserer Bestandsberechnung Schaden zufügt, dass wir nicht wissen, wieviel über Bord geworfen wird. Dass die toten Tiere dem Bestand und dem Verbraucher und der Fischerei verloren gehen, das ist ein Aspekt. Aber der zweite Aspekt ist die Kommunikation in der Öffentlichkeit und da stehen discards einfach exemplarisch für den Regelungswahnsinn in der EU, der eben auch sich wiedersprechende Regeln hervorruft."

    Mit dieser Überregulierung will die Europäische Kommission nun gründlich aufräumen. Sie will Reformen beschließen, die schon 2013 greifen sollen. Maria Damanakis Pläne für die Reform sind ehrgeizig. Sie ist die derzeit amtierende EU Kommissarin für Fischereipolitik und will bis 2015 einen nachhaltigen Fischfang aufbauen. Doch die meisten Wissenschaftler sind sich inzwischen einig, dass dies ohne die Mithilfe der Fischer nicht möglich ist.

    "Der alte Fischereiansatz, dass man genau berechnen kann, welche Quote ist gut für den Bestand und das drückt man der Fischerei auf's Auge - das hat man jahrelang gemacht. Und das findet immer noch statt. Man merkt aber, dass das nicht so gut funktioniert. Man merkt, wenn die Fischereiindustrie oder einzelne Fischer bereit sind, Maßnahmen zu unterstützen, dann sind sie wirksam. Wenn sie nicht bereit sind, sind viele Maßnahmen doch irgendwie umgehbar."

    Nikolaus Probst arbeitet als Fischereibiologe am Johann Heinrich von Thünen-Institut für Seefischerei in Hamburg. Forschungseinrichtungen wie diese geben Prognosen darüber ab, wie sich der Bestand einzelner Fischarten in den nächsten Jahren entwickeln wird. Mit komplizierten Rechenmodellen schätzen die Wissenschaftler für jede Fischart ab, wie viele Tonnen gefangen werden können, ohne dass der Bestand zusammenbricht. Der Internationale Rat für Meeresforschung Ices leitet aus diesen Zahlen seine Empfehlungen für die jeweilige Gesamtfangmenge einer Fischart ab. Diese wird auch "total allowable catch" oder kurz TAC genannt.

    In den 50er- und 70er-Jahren führten die Fangrechte am Dorsch zu den so genannten "Kabeljaukriegen". Island erweiterte damals seine Fischgründe eigenmächtig, was zu diplomatischen Konflikten mit Großbritannien und Deutschland führte. Der Kabeljau, wie der Dorsch auch heisst, war noch bis Ende des 20. Jahrhunderts der wichtigste Speisefisch auf der ganzen Welt. Die maßlose Überfischung führte jedoch dazu, dass er zu Beginn des 21. Jahrhunderts ernsthaft bedroht war. In Neufundland ist der Bestand zu Beginn der 90er-Jahre komplett zusammen gebrochen und hat sich trotz Fangverbot bis heute nicht wieder erholt. In der westlichen und östlichen Ostsee besteht dagegen Hoffnung. Dort hat sich der Dorsch in den letzten drei Jahren durch konsequente Schutzmaßnahmen und gute Wachstumsbedingungen relativ gut vermehrt. Dank eines Managementplans, der seit 2008 in beiden Fanggebieten in Kraft ist. Nikolaus Probst:

    "Der Management Plan ist, dass man nicht von Jahr zu Jahr die Quote festlegt. Das macht man zwar auch im Management Plan, aber die darf nur um einen bestimmten Prozentsatz abweichen von der Vorjahresquote. Und das gibt den Fischern eine gewisse Sicherheit, die Quote kann nicht zu stark schwanken von Jahr zu Jahr. Und wenn man einen Managementplan hat, wo man sagt: Wir legen jetzt die Anfangsquote fest und die kann von Jahr zu Jahr ein bisschen angepasst werden, bleibt aber konstant und dann haben wir berechnet, dass in 15 Jahren oder 20 der Bestand dadurch deutlich anwachsen kann und sich die Fischerei verlässlich darauf einstellen kann was sie entnehmen kann, dann gewinnen beide Seiten, der Bestand und auch die Fischerei."

    Für das Jahr 2012 hat der Internationale Rat für Meeresforschung Ices die empfohlene Dorschfangquote für die westliche und östliche Ostsee um 13 bzw. 15 Prozent erhöht. Auch die Heringsquote ist in der westlichen Ostsee gestiegen: 2012 darf fast ein Drittel mehr Hering gefischt werden als im Jahr zuvor. Dem Ostsee-Lachs geht es dagegen schlecht: Der Ices schlägt vor, die Quote um fast 80 Prozent zu senken, damit sich sein Bestand erholen kann. Auch die empfohlenen Fangmengen für Sprotte und Scholle werden reduziert.

    In den vergangenen Jahren unterschieden sich die wissenschaftlichen Empfehlungen jedoch häufig von den tatsächlich herausgegebenen Fangquoten. Denn letztendlich entscheidet der Ministerrat der Europäischen Union politisch, wie viele Fische gefangen werden dürfen. In harten Verhandlungen legen die EU-Politiker die Quoten fest. Auch das soll sich in Zukunft ändern: Wissenschaftliche Empfehlungen sollen der Fischereikommission viel stärker als Orientierung dienen.

    Um genauere Informationen über einen Fang sammeln zu können, fahren Biologen regelmäßig auf Fischkuttern mit. Heute Nacht ist Nikolaus Probst mit an Bord.

    "Hallo 'Sternhai'!"

    Über Funk meldet sich ein Besatzungsmitglied des Kutters "Blauwal" bei Gert Erler. Dieser Trawler ist genau wie die "Sternhai" südlich der Insel Bornholm unterwegs und sucht nach Heringsschwärmen. "Sternhai" und "Blauwal" gehen oft gemeinsam auf Fischjagd. Erler:

    "Hast du schon mal was gesehen, Johann?

    "Nein! Kein Pünktchen!"

    Erler: "Hier sind ein paar Punkte. OK, dann würde ich sagen kommst Du auf dem Flachen mal hoch. "

    "Da werd ich mal 340 Grad hier hochgehen. Denn 15 Meter Wasser habe ich unterm Kiel."


    Erler: "Ja, komm du mal hier hoch."

    Die beiden Fischkutter verabreden sich per Funk für ein Treffen auf hoher See. Aneinandergebunden schleppen die Kutter "Sternhai" und "Blauwal" alsbald gemeinsam ein Netz in der Größe eines halben Fussballfeldes durch die Ostsee bei Bornholm.

    "Der Aufwand ist ganz schön. Vom Material und bis alles im Wasser ist. Bis man mal einen Fisch gefangen hat, gehört eine ganze Menge dazu. "

    An diesem Abend läuft an Bord der "Sternhai" alles reibungslos. Bis auf ein Ventil am Wassertank im Maschinenraum geht nichts kaputt. Fischer Erler ist dennoch frustriert. Nikolaus Probst:

    "Wie groß war der Fang, kann man das schon sagen."

    Erler: "Ich sag mal sieben bis acht Tonnen. Nee, das war schlecht. Wir haben angefangen mit 70, denn waren es 44, denn 24 dann 17 und jetzt sind wir bei sieben bis acht. Also, was folgern wir: Fische sind ausgestorben, werden immer weniger, das ist der Rest. Morgen sind sie dann ganz alle – würde man ja denken. Nee, dann kommt erst mal richtig Wind und dann sind sie wieder da. Beziehungsweise wir waren an der falschen Stelle."

    Von den sieben Tonnen Fisch, die Gert Erler und seine Mannschaft heute Nacht fangen, bekommt Nikolaus Probst eine Kiste voll für seine Untersuchungen. Noch an Bord der "Sternhai" legt er die zappelnden, silbrig glänzenden Fische einzeln auf eine Mess-Schablone.

    "Das ist eine Stichprobe. Ich habe jetzt einen Korb von diesem riesigen Sack bekommen. Aber da sind schon so viele drin, das reicht um eine repräsentative Verteilung zu kriegen. Da sieht man schon, wie viele von jeder Längenklasse dabei sein werden."

    Das Alter und das Geschlecht der Heringe bestimmt Nikolaus Probst später im Labor. Diese Daten gibt er in aufwändige Rechenmodelle ein. Für die Biologen sind diese zusätzlichen Informationen wichtig, um Prognosen über einzelne Fischbestände abgeben zu können.

    "Die große Menge an Daten, die kriegen wir von der Bundesagentur für Landwirtschaft und Ernährung und daraus wird berechnet, wieviel Fisch gefangen werden kann. Und das kann man benutzen, in fischereibiologischen Modellen verwenden, um dann abzuschätzen, wie viel Fische es überhaupt in der Vergangenheit gab. Aber das ist eine große Masse an Daten wo nur drin steht: Kutter X hat an dem Datum 200 Kilogramm Dorsch gefangen. Das heißt, wir müssen das auf Stückzahlen hochrechnen. Das brauchen die Fischereimodelle. Und das macht man, indem man guckt und eine kleine Anzahl Kutter beprobt und schaut: Was bedeutet das eigentlich, 200 Kilo Dorsch: Wieviel Einzeltiere waren das, wie war die Längenzusammensetzung, wie war die Geschlechterzusammensetzung, der Reifegrad und solche Sachen. Also: Welche biologischen Zahlen verbergen sich hinter dieser Zahl 200 Kilo."

    Doch wie sich die Bestände verhalten, wohin sie wandern und aus welchen Individuen sie sich zusammensetzen, ist relativ unklar. Deshalb versuchen Wissenschaftler wie Carl André das Wanderverhalten von lokalen Fischbeständen mithilfe von genetischen Fingerabdrücken nachzuvollziehen. Andrés Untersuchungen sind Teil des internationalen Forschungsprojekts "Baltgene", das die lokalen genetischen Anpassungen von Organismen untersucht, die in der Ostsee leben.

    "Früher dachte man, dass es zwischen den einzelnen Fischbeständen kaum Barrieren gibt. Die Fische bewegen sich frei im Wasser, ihre Eier verdriften mit der Strömung und deshalb gingen die Forscher immer davon aus, dass es keine kleinen, lokalen Bestände gibt. Doch neue genetische Untersuchungen haben gezeigt, dass sich manche Fische viel weniger ausbreiten als bisher vermutet. Wenn man zum Beispiel an die norwegischen Fjorde denkt, hat vermutlich jeder Fjord seine eigenen lokalen Fischbestände."

    Um genaueres über das Wanderverhalten der Fische herauszubekommen, schaut sich Carl André die so genannten Otolithen an, kleine Steinchen, die Fische in ihrem Gleichgewichtsorgan einlagern. Sie werden daher auch Hörsteinchen genannt. Der Biologe arbeitet am Sven-Lovén-Zentrum für Meeresbiologie auf der Insel Tjärnö an der schwedischen Westküste, Wächst ein Fisch, werden auch die Otolithe größer, weil das Tier weitere Schichten von Mineralien darauf ablagert. Dadurch entstehen - ähnlich wie bei einem Baum - Wachstumsringe, die Fischereibiologen zur Altersbestimmung nutzen. Die Hörsteinchen verraten den Forschern aber auch, wo sich ein Fisch während des Lebens überall herumgetrieben hat. André:

    "Die Ablagerungen spiegeln die Chemie des Meerwassers wider, in dem sich ein Fisch aufgehalten hat. Zum Beispiel die Salzkonzentration. Wenn wir wissen wollen, wo ein Fisch aufgewachsen ist, schauen wir uns die innersten Schichten der Hörsteinchen genauer an. Bei älteren Tieren können wir anhand der chemischen Zusammensetzung der äußeren Ablagerungen auf den Steinchen erkennen, wohin sie gewandert sind. Das können wir mit genetischen Untersuchungen kombinieren und erfahren so, wie die Fische in einer Population miteinander verwandt sind. Dadurch bekommen wir ein ziemlich genaues Bild von der Struktur eines Bestands."

    Dass sich Fischbestände lokal anpassen und sich vermutlich nicht mit weiter entfernt lebenden Artgenossen verpaaren, sollte Konsequenzen für die Verwaltung dieser Bestände haben, meint Carl André. Denn bisher haben Biologen die meisten Fischarten nur sehr grob in unterschiedliche Population aufgeteilt. Der in der Ostsee lebende Dorsch beispielsweise wird in zwei Bestände eingeteilt. Es gibt den östlichen und den westlichen Ostseedorsch. Für beide Bestände werden unterschiedliche Fangquoten festgelegt. André:

    "Man sollte Rücksicht darauf nehmen, dass sich die Tiere lokal anpassen. Für das langfristige Überleben einer Fischart ist das sehr wichtig. Wenn man zum Beispiel einen lokalen Dorschbestand in der Ostsee komplett wegfischt, zerstört man damit einzigartige Anpassungen. Man kann diese Tiere nicht einfach durch andere Dorsche aus dem Kattegat oder Skagerrak ersetzen, weil ihnen die Eigenschaften fehlen, die sie in diesem Milieu brauchen. Es würde vielleicht Zehntausende Jahre kosten, bis man solche lokalen Bestände ersetzen könnte."

    Für eine Population ist es ebenso wichtig, eine möglichst große Bandbreite an Individuen zu haben. Ändern sich die Umweltbedingungen, zum Beispiel durch den Klimawandel, besteht bei größeren Populationen eine bessere Chance, dass manche Tiere sich gut daran anpassen können und überleben. André:

    "Wenn die Population kleiner wird, gehen auch genetische Variationen verloren, die zum Beispiel bei Umweltveränderungen eine Rolle spielen. Manche Individuen kommen mit diesen Veränderungen besser zurecht, als andere. Doch wenn wir die genetische Bandbreite in einer Population verkleinern, wird es unwahrscheinlicher, dass solche anpassungsfähigen Tiere darunter sind."

    Für den Dorschbestand vor den Türen des Sven-Lovén-Zentrums auf der Insel Tjärnö kommen diese Erkenntnisse bereits zu spät. Die lokale Population gilt als ausgerottet. Die Forscher können direkt aus den Fenstern ihrer Labore beobachten, wie sich das Ökosystem im Meer durch den Verlust dieses Räubers verändert. Das Institut ist malerisch in einer kleinen Meeresbucht gelegen. Segel- und Motorboote liegen vor Anker, an einem kleinen Strand können die Forscher ihre Mittagspause genießen. Doch seit einigen Jahren überziehen schleimige Algenmatten die Felsen und die Strände. Wenn es wenig Dorsche gibt, vermehren sich die Sprotten und fressen mehr tierisches Plankton, wie Kleinkrebse und Larven. Dann vermehren sich jedoch die Algen, weil sie nicht mehr von den Planktonorganismen gefressen werden. Die Leiterin des Sven-Lovén-Zentrums für Meeresforschung, Kerstin Johannesson, wohnt schon fast ihr ganzes Leben lang in der Nachbarschaft des Instituts. In ihrer Erinnerung hat sie ein Bild von der Westküste Schwedens gespeichert, das sich sehr von ihrem heutigen Anblick unterscheidet.

    "Ich bin in den 60er-Jahren hier aufgewachsen und erinnere mich, dass wir kristallklares Wasser hatten, feine Sandböden und keine schleimigen Algen, die alles überwachsen haben. Wenn wir hungrig waren, haben wir einfach nur unsere Angel ins Wasser gehalten und sofort hing ein Dorsch dran. Gelingt es uns nicht, ihn hier wieder anzusiedeln, werden wir mit braunem Wasser und schleimigen Algen leben müssen, die im Meer wachsen und an die Strände gespült werden. Es sind also nicht nur die Fischer, die darunter leiden, wenn eine Fischart verschwindet, sondern auch Touristen und die Anwohner."

    Dieses gemeinsame Interesse hat es möglich gemacht, dass die Insel Tjärnö nun zum Koster Nationalpark gehört. Dieses Naturreservat nahe Strömstadt an der Grenze zu Norwegen besteht seit 2009 und soll vor allem die einzigartigen Kaltwasserkorallenriffe schützen, die vor der schwedischen Westküste wachsen. Die Schleppnetzfischerei hat den Meeresbewohnern entlang dieser Schärenküste stark zugesetzt. Dennoch dürfen Fischer hier weiterhin ihre Netze auswerfen. Sie mussten sich jedoch verpflichten, bestimmte Regeln einzuhalten und nur noch mit kleineren Schleppnetzen zu fischen. Inzwischen nehmen die Fischer diese Einschränkungen bereitwillig in Kauf, denn sie sehen die Vorteile die es bietet, in einem Nationalpark fischen zu dürfen. Kerstin Johannesson:

    "Der Wendepunkt in den Verhandlungen kam, als die Fischer erkannten, dass sie ihrem Fang sozusagen einen Ökostempel aufdrücken können, weil er aus einem Nationalpark stammt und damit als nachhaltig gefischt verkaufen werden kann."

    Einen ähnlichen Anreiz bietet auch das MSC Zertifikat. MSC steht für "Marine Stewardship Council" und ist von der Umweltorganisation WWF und dem Lebensmittelkonzern Unilever gegründet worden. Es ist so etwas wie der blaue Engel für nachhaltige Fischerei. Betriebe können sich MSC zertifizieren lassen, indem sie nachweisen, dass sie ihre Fänge ökologischen Richtlinien entsprechend einholen. Sie bekommen dann etwas mehr Geld für ihren Fisch. Auch auf den Verpackungen im Supermarkt ist das blaue ovale MSC Siegel zu finden. Als eine Orientierungshilfe für Verbraucher Heute, wo alle Beteiligten vom Schutzgebiet Kosterfjord profitieren, denkt kaum jemand mehr an den steinigen und langwierigen Weg, sagt Kerstin Johannesson. Fast 30 Jahre lang dauerten die Verhandlungen. Zu tief saß das Misstrauen der Fischer gegenüber den Behörden und den Wissenschaftlern, die jahrzehntelang über ihre Köpfe hinweg Entscheidungen gefällt hatten.

    "Das Hauptproblem war: Man hatte am Anfang nicht verstanden, dass man solche Entscheidungen nicht von oben herab fällt. Der Nationalpark wäre nie entstanden, wenn nicht irgendwann die Fischer und auch die Anwohner mit in die Verhandlungen einbezogen worden wären. Viele waren auch anfangs nur dagegen, weil sie gar nicht richtig verstanden hatten, was ein Nationalpark für sie bedeuten würde. Und es waren viele Gerüchte im Umlauf: Dass man dann nicht mehr angeln und keine Muscheln mehr sammeln darf und solche Sachen. Dabei war es am Ende genau anders herum: Die Behörden haben gesagt: Jetzt überlegt Euch selber die Regeln, die in Eurem Nationalpark gelten sollen."

    Durch diese demokratische Art der Verhandlungen ist es nicht nur gelungen, eine nachhaltige Fischerei im Koster-Nationalpark zu etablieren. Darüber hinaus haben die Fischer von ganz allein auch ein Verantwortungsbewusstsein für das Ökosystem entwickelt. Ein bottom-up-Modell, dass Schule machen sollte. Johannesson:

    "In den 10 bis 15 Jahren, in denen ich mit den Fischern zusammenarbeite, hat es eine dramatische Veränderung gegeben. Die Berufsfischer aus der Umgebung sehen uns Forscher hier im Tjärno-Labor nicht mehr länger als Feinde, sondern eher als Helfer. Ihr Problem ist, dass sie den Bestand auf einem guten Niveau halten müssen. Und inzwischen kommen Fischer öfter bei uns vorbei und sagen: Wir beobachten dies und das, und es scheint sich etwas am Meeresboden zu verändern. Könnt Ihr nicht eine Untersuchung machen um herauszufinden, ob sich die Situation verschlechtert?"

    Für Kerstin Johannesson ist eine solche Zusammenarbeit auf Augenhöhe der Schlüssel für die Zukunft der Fischerei.

    "Ich denke, dass die Berufsfischer mit in die Verwaltung der Fischbestände einbezogen werden müssen. Und das bedeutet auch, dass sie mithelfen müssen, diese Ressource nachhaltig zu nutzen."

    Ein solches Verantwortungsbewusstsein entsteht vor allem auf lokaler Ebene. Doch auf den Weltmeeren sind auch riesige Fischfabriken unterwegs, die unter europäischer Flagge bis vor die Küste Afrikas ziehen um dort ihre Netze auszuwerfen. Ob Kutter oder schwimmende Fischfabrik. Ob aus den Niederlanden, Polen, Norwegen oder Island - die EU reguliert die Fischbestände in ganz Europa. Kerstin Johannesson ist daher unsicher, ob ein so friedliches Miteinander zwischen Forschung, Verwaltung und Fischerei wie im Koster Nationalpark auch europaweit funktionieren kann.

    "In der Fischereipolitik der EU gibt es so viele nationale Interessen, die bei den Entscheidungen eine Rolle spielen. Doch der erste Schritt in diese Richtung ist schon getan. Es gibt die regionalen Beiräte, die so genannten RACs. Es ist also möglich, es auch auf diesem Niveau zu schaffen."

    Diese RACs oder Regionalen Beiräte sind schon vor ein paar Jahren ins Leben gerufen worden. Hier sitzen Vertreter von Fischereiverbänden, Händler und Umweltschutzorganisationen zusammen, um die Entscheidungen der EU auf regionaler Ebene zu beeinflussen. Die Mitglieder der RACs verhandeln über Quoten oder Schutzmaßnahmen, die regional sinnvoll sind. Ihre Empfehlungen werden dann an die Europäische Kommission weitergeleitet. Noch gibt es in vielen dieser regionalen Beiräte ein Gerangel um Kompetenzen. Und die EU Kommission ist nicht verpflichtet, die Vorschläge umzusetzen. Der Erfolg der Verhandlungen um den schwedischen Koster-Nationalpark hat sich bereits etwas herumgesprochen. Auch andere Länder möchten wissen, wie die Schweden es geschafft haben, die tiefen Gräben zwischen Forschern, Fischern und Beamten zu überwinden. Rune Nilsson ist einer der Fischer auf der Insel Tjärnö, die nun ihre Netze in einem Nationalpark auswerfen. Ihn hat die Idee von einer gemeinsamen Verwaltung des Koster Nationalparks schon sehr früh überzeugt. Der Schlüssel für das Problem war für ihn, dass sich alle Beteiligten im wahrsten Sinne des Wortes in das gleiche Boot gesetzt haben.

    "Uns haben inzwischen schon Leute aus Polen und Großbritannien besucht, um zu sehen, wie wir mit den Behörden gearbeitet haben. In den 90er-Jahren haben wir mit den Wissenschaftlern und vor allem mit den Beamten noch im Streit gelegen. Aber dann haben wir uns zusammengesetzt und angefangen, die Probleme zu lösen. Dabei sind wir uns so nah gekommen, dass wir am Ende Kurse in Fischereibiologie besucht haben und die Forscher und Beamten auf unseren Kuttern mitgefahren sind. Wir haben also gesehen, wie die Wissenschaftler arbeiten und sie haben gesehen, wie wir unseren Fang an Land holen. Das ist die Lösung für solche Streitigkeiten, dass man zusammenarbeitet. Und ich glaube, dass wir damit ein Vorbild in ganz Europa sind."

    Auch Kerstin Johannesson wünscht sich, dass andere Länder das Koster-Modell übernehmen.

    "Ich hoffe sehr, dass die EU-Kommission erkennt, dass es nicht ausreicht, nur einzelne Bestände zu verwalten. Es ist wichtig, sich auch den Zusammenhang dieser Art mit dem ganzen Ökosystem anzusehen. Und ich denke, dass man die Fischereiindustrie bei der Verwaltung der Bestände stärker in die Pflicht nehmen sollte. Es ist schließlich vor allem in ihrem Interesse, dass sie in zehn, 20 Jahren noch fischen können. So kommt man glaube ich wesentlich weiter, als wenn man ständig neue Regulierungen beschließt und die Fischer die ganze Zeit versuchen, diese Vorschriften zu umgehen und das System auszunutzen."

    Die meisten Wissenschaftler sind sich einig darin, dass der Erfolg einer nachhaltigen Fischerei davon abhängt, wie gut Forscher, Fischer und Politiker kooperieren. Und am Ende von der auf Nachhaltigkeit setzenden EU-Fischereipolitik. Johannesson:

    "Ich glaube, dass wir Forscher mehr versuchen sollten, von anderen zu lernen. Manche Forscher denken, dass sie die einzige endgültige Wahrheit und das Wissen in ihrem Fachgebiet besitzen und dass niemand anders etwas darüber weiß. Doch das ist falsch. Bei einer so schwierigen Frage, wie der nachhaltigen Verwaltung von Fischbeständen, setzt sich die Lösung aus vielen Puzzleteilen zusammen. Manche Forscher haben ein Puzzleteil, andere Wissenschaftler das zweite, die Fischereiindustrie das dritte. Und am Ende hängt in einer Demokratie alles noch davon ab, was die Menschen auf der Straße denken. Wir Forscher können nur Vorschläge anbieten, wie wir die Fischressourcen nachhaltig verwalten können. Aber wir können nicht über die Köpfe anderer hinweg entscheiden."