Das Grundgesetz und die Verfassung Europas

Die Vereinigten Staaten von Europa als Friedensvision stammen vom britischen Kriegspremierminister Winston Churchill.

Von Norbert Paul Engel |
    Winston Churchill: 'We must build a kind of United States of Europe ... ' Nur so werden hunderte Millionen schwer arbeitender Menschen die einfachen Freuden und Hoffnungen des Lebens wieder gewinnen, die das Leben lebenswert machen.' ... which make life worth living.'

    Das waren Churchills Worte 1946 in Zürich. Ein Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges. Ein konkretes Vorbild, einen Präzedenzfall für die Europäische Union gibt es nicht. Sie ist eine enge, sich verdichtende Staatenverbindung, die nicht auf Machtausübung, auf Herrschaft über andere angelegt ist, sondern auf innere und äußere Stabilität, durch Interessenausgleich auf Gegenseitigkeit.

    So ist die Europäische Union ein gemeinsamer Entwicklungsprozeß. Ein Schmelztiegel nationaler Egoismen. Das Grundgesetz steuert zwei entwicklungsfördernde Elemente bei, ein dienendes und ein forderndes. Das fordernde Element ist der Schutz der Grundrechte. Das wird in einem historischen Eklat deutlich, als nämlich das Bundesverfassungsgericht 1974 beschließt, dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft in Luxemburg bei Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts so lange, wie es apologetisch heißt, die Gefolgschaft zu verweigern, wie es in der Europäischen Gemeinschaft keinen Grundrechtskatalog gäbe, der dem des Grundgesetzes adäquat wäre.
    Das Auftrumpfen in Karlsruhe, hat Folgen in Europa. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, der EuGH in Luxemburg intensiviert seine Rechtsprechung zu den Grundrechten. Er konkretisiert die Allgemeinen Rechtsgrundsätze der EG aus einer Gesamtbetrachtung der Verfassungen der Mitgliedstaaten. Zu jener Zeit des Präsident des EuGH, der vormalige Bundesverfassungsrichter Hans Kutscher:

    Hans Kutscher: "In dieser Weise kann aus den Verfassungen und, wenn Sie so wollen, aus der Verfassungstradition der Mitgliedstaaten sehr viel hergeleitet werden, um diese allgemeinen Rechtsgrundsätze festzustellen, die Bestandteil des Gemeinschaftsrechts sind, und die eben auch die Grundrechte schützen. Im Europäischen Parlament wird 1978 eine Grundrechtsentschließung verabschiedet."

    Danach soll, in einem ersten Schritt, die EG der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten. Berichterstatter im Parlament ist der Bayerische Sozialdemokrat Alfons Baier.

    Alfons Baier: "Tatsache ist, daß wir ja mehr Grund und Freiheitsrechte unserer Bürger in der Gemeinschaft schützen müssen, als dies durch die Menschenrechtskonvention geschieht, insbesondere was die sozialen Grundrechte betrifft, was die wirtschaftlichen Teilhaberrechte und Beteiligungsrechte unserer Bürger betrifft, demzufolge sollten wir darüber hinausgehend, eine EG-Karte der Bürgerrechte formulieren und im Europäischen Parlament beschließen."

    Das Bundesverfassungsgericht selbst entdeckt die Vorteile der Rechtsvergleichung. Der damalige Präsident Ernst Benda auf der Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte 1978 in Wien an der zum 1. Mal auch der EuGH in Luxemburg und der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte teilnehmen.

    Ernst Benda: "In einer für mich sehr eindrucksvollen Weise hat sich gezeigt, daß wesentliche Fragen, die das Verständnis des Staates in seinem Verhältnis zum Bürger berühren in gleicher oder ganz ähnlicher Weise von den hohen Richtern, die hier versammelt waren, beantwortet werden. Dies bedeutet natürlich keine gemeinsame Rechtsprechung, aber es könnte sich langfristig möglicherweise mittelbar auf die Rechtsauffassung dieser Gerichte und damit auf deren Rechtsprechung auswirken."

    Was nun ist aus den Projekten geworden? Das Europäische Parlament beschließt im März 1989, noch vor der Wende also, einen Grundrechtskatalog. Die Regierungen ziehen nicht mit. Auch unterbleibt der Beitritt der EG zur Menschenrechtskonvention. Allerdings, der Unionsvertrag in der Fassung von Amsterdam, so wie er am 1. Mai 1999 in Kraft getreten ist, bezieht die Menschenrechtskonvention in die Grundlagen der Union mit ein (Art. 6). Der Vertrag sieht zum 1. Mal auch empfindliche Sanktionen gegenüber Mitgliedsstaaten vor, sollten sie schwerwiegende und anhaltende Menschenrechtsverletzungen begehen (Art. 7).

    Der EuGH in Luxemburg geht dazu über, in seinen Urteilsbegründungen ausdrücklich Entscheidungsargumente des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte zu übernehmen. Gewiß, das alles sind nur Teilresultate, Entwicklungen. Doch die Europäische Union ist wie gesagt, ein mehr oder minder dynamischer Prozeß. Ausschlaggebend ist langfristig eine irgendwie gemeinsam empfundene Identität. Wird sie nicht empfunden, wird am Willen der Völker vorbei auf Dauer nichts geschehen. Das Grundgesetz hält staatsorganisatorisch aller Optionen offen. Deshalb kommt es auf die Frage Bundesstaat oder bundunabhändiger Staaten nicht an. Die Europäische Union als ein derart weitreichender Zusammenschluß freier Völker auf Gegenseitigkeit ohne Krieg, ohne Niederlage oder Sieg, ist eine Kategorie für sich.