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Das Leben ist jetzt

Die Enkelkinder von Mao und Coca-Cola melden sich hier zu Wort – Erzählerinnen und Erzähler aus der Generation der 30- bis 40-Jährigen. In einem sich stetig verändernden China, aufgewachsen zwischen Parteipropaganda und Popkultur, haben sie ihre Erfahrungen gesammelt. Der Sammelband "Das Leben ist jetzt" präsentiert nicht nur brandneue Literatur aus China, sondern auch eine Gesellschaft im Wandel.

Christiane Kreiner/Ulrich Rüdenauer | 08.12.2003
    Ich betrete das Zimmer meines Freundes Xiaojin. Er wohnt im Untergeschoss, Souterrain. Gerade habe ich mich auf sein Bett gesetzt, das ihm tagsüber als Sofa dient, da höre ich ein dröhnendes Geräusch. Die U-Bahn, das Geräusch einer vorbeifahrenden U-Bahn. Wie kannst du diesen Lärm aushalten, rufe ich Xiaojin mit lauter Stimme zu, alle zehn Minuten kommt doch eine.

    Nicht nur der Lärm macht der jungen Frau in Ma Lans Erzählung "Gehörverlust" zu schaffen. Die Liebe zu ihrem Mann ist fast verflogen, und ihre schwärmerische Beziehung zu dem Künstler Xiaojin scheint ebenfalls ins Trudeln zu geraten. Sie wird schließlich taub gegenüber der ihr immer absurder vorkommenden Welt, die sich auf rätselhafte Weise verändert. Es kommt zu einer Hörstörung. Zum Gehörverlust. Wenn Individuen solche Symptome ausbilden, dann brodelt es in einer Gesellschaft.

    Es ist etwas mehr als drei Jahre her, da schnappte der Sinologe Frank Meinshausen das Gerücht einer neuen literarischen Szene in China auf: Ein chinesischer Freund hatte ihm von einer so genannten "Generation der Spätgeborenen", einer "Neuen Generation" erzählt. Junge Autoren zwischen 30 und 40, die den Alltag im neuen China beschreiben – einen Alltag zwischen den Überbleibseln der Mao-Zeit, strengen Normen und kapitalistischer Euphorie. Der Sprachlehrer und Übersetzer wurde neugierig, so neugierig, dass er seine letzten Ersparnisse zusammengekratzte, ein Flugticket nach Peking kaufte und sich auf die Suche nach diesem literarischen Phantom machte: nach dem Sound einer nicht gerade verlorenen Generation, aber einer Generation, die sich im Überangebot der neuen Möglichkeiten erst finden muss. Auch Ma Lan lässt ihre Ich-Erzählerin unsicher durch diese auf den Kopf gestellte chinesische Welt taumeln.

    Wir alle besuchen dieselben Fastfood-Straßenrestaurants, essen Kentucky Fried Chicken, trinken Pepsi Cola, kaufen Farbfilme von Fuji und sehen uns Hollywood-Streifen an. Worin unterscheiden wir uns schon noch? Wir sind in Serie produzierte und in Serie aufgezogene Fertigware. Ist es da noch erstaunlich, dass wir zu verschiedenen Zeiten dieselbe Fernsehsendung sehen?

    Frank Meinshausen traf Autoren und Autorinnen in Peking, Nanjing und Shanghai. Obwohl es nicht immer ganz einfach war, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, hatte er am Ende seiner Tour durch die chinesische Undergroundliteratur mit mehr als zwanzig jungen Schriftstellern gesprochen. Ein Domino-Effekt.

    Und dann war für mich eigentlich schon ein erstes Kriterium nach der ersten Woche: Ich suche Stadtliteratur. Ich wollte keine Literatur, die das Leben auf dem Land widerspiegelt. Ich wollte keine Literatur, die über die Kulturrevolution reflektierte, denn diese Dinge gab es in den Achtzigerjahren bis in die Neunziger hinein genug, davon hatte ich schon Berge gelesen, und ich konnte dem nichts Neues mehr abgewinnen. Ich wollte wirklich die Leute suchen, die für diese neue Richtung standen.

    Nach und nach setzte sich ein komplexes Bild dieser "neuen Generation" zusammen:
    Allesamt in den 60er und 70er Jahren geboren, teilen sie die Erfahrung eines rasanten gesellschaftlichen Umbruchs. In den Metropolen reiben sich westlicher Lebensstil und kommunistische, aber auch ländliche Tradition – jedes Jahr migrieren bis zu 200 Millionen Bauern in die Metropolen und wirbeln den städtischen Alltag kräftig durcheinander. Am Stadtbild lässt sich der Wandel eindrucksvoll ablesen: Baustellen, Abrisse, Neubauten - aus Gassen mit niedrigen Hütten werden binnen kürzester Zeit Straßenzüge mit hohen Wolkenkratzern.

    Ich wohne im berühmten Neuen-Jahrhundert-Hochhaus. Das symbolträchtige Gebäude im Sojasoßenbraun liegt auf der goldenen Meile unserer Stadt und hat insgesamt siebenunddreißig Stockwerke. Ich lebe im achtundzwanzigsten. Achtundzwanzig Etagen sind eine gute Höhe, um das Leben aus der Vogelperspektive zu betrachten. Von hier aus hat man einen exzellenten Blick.

    Die Aussicht von oben ist so brillant, daß sich der fettleibige Held aus Bi Feiyus Erzählung "Fernsteuerung" gar nicht in das Leben "da unten" einmischen will. Er vergräbt sich lieber in seiner Wohnung, dirigiert per Fernsteuerung Videorecorder, CD-Player und Klimaanlage und leidet darunter, dass auch Sex und Liebe zu Konsumartikeln geworden sind. Eine Satire auf den kapitalistischen Höhenflug. Die meisten Texte der Anthologie vibrieren geradezu von den Geräuschen der Großstädte: Verkehr, Popmusik, Baustellenlärm, das Summen elektronischer Geräte. Die Alltagsliteraten erringen sich im Schreiben neue geistige Freiheiten, wagen sich mit Wortwitz an tabuisierte Themen.

    Nach der Niederschlagung der, wie wir sagen, Demokratiebewegung, also der Studentenproteste 1989 in Peking, hatte es ja lange Zeit eine Frostphase gegeben, in der eigentlich nur noch linientreue Literatur veröffentlicht werden konnte. Trotzdem war das aber gleichzeitig Ausgangspunkt einer, man kann sagen, einer Literatur, die sich versuchte von Politik ganz frei zu machen, die also sehr stark in persönliche Richtung geht, die gerade politische Themen bewusst mied, die im Privaten das Politische gesucht hat und auch aufgespürt hat. Und im Rahmen der Neunziger spielten dann ideologische Fragen nach und nach keine so ganz wichtige Rolle mehr. Die Literatur war nicht mehr im unmittelbaren Kontrollfeld der Partei. (...) Allerdings wurde natürlich nach wie vor Zensur geübt über die Verlage, die ja die Druckgenehmigung jedes Mal von staatlicher Seite beantragen müssen. Auch zensiert wird eben immer noch. Aber man kann sagen, daß die Toleranz für formale Experimente, aber auch für inhaltliche Themen, zum Beispiel die Toleranz gegenüber der Darstellung von Sexualität deutlich zugenommen hat.

    Das Internet spielt dabei eine wichtige Rolle. Wer im Netz veröffentlicht, kann nicht nur Gewagteres ausprobieren, sondern auch eine möglichst große Distanz zum starren Literaturbetrieb wahren.

    Seit Mitte der 90-er Jahre gibt es Autoren, sehr junge Leute zumeist, die meist gar nicht erst den Weg der Verlagspublikation beschritten haben. Die haben also gleich angefangen, dieses neue Medium zu nutzen, bestimmte Provider haben Seitenfreiraum gestellt, haben also Platz zur Verfügung gestellt, dass diese Autoren wirklich ihre Werke, man kann sagen, unzensiert ins Netz stellen können. Wobei es eine bestimmte Vorzensur sicher auch gibt im Kopf der Autoren. Sie wissen auch, was man nicht darf. Man darf nicht die Partei beleidigen, man darf nicht gegen gewisse sozialistische Grundsätze verstoßen, man darf bestimmte Dinge nicht in Frage stellen, muss bei politischen Themen sehr vorsichtig sein. Dann ist es auch so, dass die Internet-Provider da natürlich selbst auch unter Überwachung stehen.

    Auch Zhu Wen hat im Internet veröffentlicht. 1967 in der Provinz Fujian geboren, lebt er heute in Peking. Zhu Wen schreibt Gedichte, Erzählungen, Romane und arbeitet daneben als Drehbuchautor für den Film. Er ist einer der exponiertesten und produktivsten Autoren seiner Generation.

    Drei Jahre später kam unsere Duanli zurück, und zusammenfassend gesagt: Sie hatte sich nicht groß verändert. Dass sie jetzt Geld hatte, war noch die sichtbarste Veränderung an ihr. Und weil sie Geld hatte, hatten sich auch ihre Lebensgewohnheiten gewandelt. Zum Beispiel war sie jetzt regelmäßig Kundin in einem Kosmetiksalon. Und sie ging jetzt regelmäßig ins Fitnessstudio zum Training. Und sie fuhr jetzt regelmäßig nach Shanghai zum Einkaufen. Und sie besaß jetzt ein Auto, ein Handy, eine Kreditkarte, ein Schoßhündchen und dergleichen. Aber trotz alldem brauchte sie bloß den Mund aufzumachen, und wir wussten, dass sie sich nicht verändert hatte, dass sie noch die alte Duanli war – trat ihr Nanjing-Dialekt doch stärker hervor denn je. Sie diskutierte mit uns nicht mehr auf Hochchinesisch über Kunst. Duanli diskutierte mit uns überhaupt nicht mehr über Kunst.

    Von Zhu Wen habe ich die Erzählung "Duanli in der alten Stadt Nanjing" ausgewählt", weil meiner Ansicht nach diese Geschichte sehr gut zeigt, wie von der Modernisierung, die die Stadt erfasst hat, alte Werte mitgerissen werden, verändert werden, auch zersetzt werden. Zhu Wen geht es hier hauptsächlich darum zu zeigen, wie der Einfluss des Geldes den Wert der Freundschaft beispielsweise zerstören kann. Man geht zusammen trinken, hat große Runden, lacht viel, reißt Zoten, unternimmt was zusammen, gibt zusammen Geld aus, telefoniert einander ständig an über ... oder übers Telefon direkt oder übers Handy, aber genau betrachtet sind diese Verhältnisse doch schon sehr zerrüttet von Egoismus, von Habgier oder von einer Mentalität, die den anderen nur ausnutzen will.

    Die Planwirtschaft hat abgewirtschaftet. Die "neuen Chinesen" gründen Internetfirmen, mischen auf den globalen Märkten mit und leiden gleichzeitig unter dem Zerfall alter Werte. Mit ironischer Distanz registrieren die Autoren, wie die kapitalistische Warenwirtschaft nicht nur die Portemonnaies, sondern auch ihre Köpfe leerspült. Ihre Figuren sind orientierungslos, verunsichert, risikobereit. Die "Brandneuen Menschen" – Xin-Xin-renlei (Sprich: Chin – Chin Raanlei), so werden sie in China genannt – haben sich selbst noch nicht gefunden. Tilman Spengler, Sinologe, Buchautor, Journalist und Kanzlerberater in Sachen Asien, kennt China von vielen Reisen. Für ihn hat die Formel vom "Brandneuen Menschen" Tradition, wie er während der Frankfurter Buchmesse erläutert.

    Das ist erst mal ein Wortspiel. Es gab im China unter den Kommunisten Xin –Worte: den "neuen" oder "den zu erneuernden Menschen", das war halt der sozialistische Modellheld, das war entweder ein Mann oder eine Frau, es gab eine gewisse Besoffenheit mit dem Begriff "Neu": Alles war neu. Das datiert sich zurück bis Anfang des 19. Jahrhunderts, so ab 1880 sind alle Zeitschriften von diesem Neuigkeitsbegriff geprägt. Jetzt haben wir die Neuigkeit noch mal ins Ironische gesteckt mit dem "Neuen neuen Menschen". Der steht sicherlich für einen Gesellschaftstypus, der sich sehr wohl mehr dem eigenen Wohl verschrieben fühlt, als dem der Gesellschaft. (...) Der steht für das Grelle, das Aufregende, das Abenteuerliche und eben für das, was den "ganz ganz" neuen Menschen von dem "nur" neuen Menschen unterscheidet.
    (...) Die Individualisierung spielt dabei eine Rolle, aber auch ein Modebewusstsein, oder dass Bereicherung etwas ganz Tolles ist, oder die Freizügigkeit von Klatsch, bestimmte Formen des Luxus, bestimmte Formen des Amüsierens, ein anderer Umgang mit Sexualität. Sicherlich kommt da vieles zusammen.


    ‘Ich habe häufig Lust auf Sex‘: Immer noch hallte Bobos Satz im Versammlungsraum der Teegesellschaft wider. Man warf ihn hin und her wie einen kleinen Ball, der in die Hände stach und außerdem noch glühend heiß war; einen Ball, den alle auffangen wollten, vor dem man aber gleichzeitig auch ein wenig Angst hatte. Angst, dass nach der Berührung mit ihm die Hände nicht mehr sauber werden könnten, Angst vor seinen Dornen und seiner Hitze.

    Zhao Nings "Problemfrau" muss sich gegen die konfuzianische Prüderie der Elterngeneration zur Wehr setzen. Die Empörung über das sexuelle Begehren der jungen Frau entpuppt sich schnell als eine überkommene Doppelmoral. Längst wird diese von Autorinnen und Autoren wie Zhao Ning, Anni Baby oder Han Dong, die ungern über einen Generationenkamm geschert werden möchten, entlarvt.

    Der Sound der jungen Schreiber ist polyphon: Es gibt Texte, deren Klang an westliche Popliteratur erinnert. Es gibt solche, die ästhetisch den Riss zwischen Altem und Neuem zu verarbeiten suchen. Die Texte werden selbst als zerrissene inszeniert. Und es gibt Erzählungen, die mit Versatzstücken aus der Weltliteratur hantieren, diese souverän und spielerisch in ihre Wirklichkeit einmontieren. Auf fantastische und übersteigerte, auf humorvolle und manchmal auch plakative Weise nähern sich die Autoren dem Alltag. Allen geht es um eine Verteidigung der Innenwelt gegen die Außenwelt.

    Das ist bestimmt eine kritische Literatur in einem ganz anderen Stile als die klassische, also die sozialistische. Also die hatte ja den Ton: "Das System ist goldig, die Missstände sind schrecklich." Und dann kam eben eine Phase: Wir überlegen jetzt mal, was für Wunden wir uns zugefügt haben, deshalb hieß das "die Wundnarbenliteratur". Und diese hier ist ein bisschen privatistischer in der Kritik, und sie verteidigt sozusagen das Glück des Individuums. Hat aber meistens so einen ironischen Unterton. Und dieser ironische Unterton rettet das meiste ja.

    Jing Bartz ist Literaturwissenschaftlerin und Leiterin des Buchinformations-Zentrums Peking, einer Einrichtung der Frankfurter Buchmesse in Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut. Sie beobachtet den Kulturaustausch zwischen China und Deutschland aufmerksam und wertet die Anthologie "Das Leben ist jetzt" gar als eine wegweisende Veröffentlichung für die Rezeption chinesischer Literatur im deutschsprachigen Raum.

    Ich muss sagen, das ist eine ganz tolle Auswahl, und zwar geht es nicht darum, dass eine extreme Situation im Mittelpunkt steht, sondern wirklich der authentische Alltag. Und auch ziemlich vielseitig natürlich: Es geht darum, wie die jungen Leute in der modernisierten Gesellschaft leben, welchen Konflikte sie haben, von Sex, Drogen, aber auch bis zu Generationskonflikten mit den Eltern usw. Das ist insofern authentisch, weil das nicht solche Außenseiterdarstellungen wie Shanghai-Baby oder die Erzählung von Mian Mian sind, die inzwischen auch hier bekannt sind. Die vertreten wirklich nur eine extreme Gruppe in China, aber diese Auswahl von Erzählungen stellen schon einen bekannten Alltag in China dar.

    Ob die Anthologie allerdings tatsächlich einen Durchbruch in der Rezeption chinesischer Literatur bringt? Tilman Spengler zeigt sich skeptisch:

    Das wäre, glaube ich, zu kräftig gesagt. Ich glaube auch nicht, dass irgendeiner der Autorinnen oder Autoren den Durchbruch zum Vorsatz genommen hat. Die schreiben ganz einfach so wie ihnen der Schnabel gewachsen ist (...), und das finde ich sehr gut so. Also. Das schreit nicht alles so nach Literatur mit einem großen L.

    Literatur mit einem kleinen L. also. Geschichten und Beobachtungen aus dem Alltag. Das ist nicht wenig. Die seismografisch genauen Aufzeichnungen aus einem neuen China erzählen uns etwas bisher kaum Gehörtes. Sie gestatten Einblicke in das Innere einer langsam sich öffnenden Gesellschaft. Und sie illustrieren damit auch das Ringen um persönliche Freiheit – im Schreiben.