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Das neue Wahlrecht ist "immer noch verfassungswidrig"

Das Wahlrecht ist "unglaublich kompliziert" und weist Mängel auf, kritisiert Wilko Zicht Beschwerdeführer bei der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts. Das Verfassungsgericht habe bereits 2008 aufgrund des negativen Stimmgewichts das Wahlrecht beanstandet.

Wilko Zicht im Gespräch mit Friedbert Meurer | 05.06.2012
    Das Wahlrecht ist "unglaublich kompliziert" und weist Mängel auf, kritisiert Wilko Zicht Beschwerdeführer bei der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts. Das Verfassungsgericht habe bereits 2008 aufgrund des negativen Stimmgewichts das Wahlrecht beanstandet. Die Überhangmandate seien aufgrund der Verzerrung der Sitzverteilung verfassungswidrig.

    Friedbert Meurer: Ende September 2013, in eineinviertel Jahren etwa, wird der neue Bundestag gewählt – voraussichtlich. Beim letzten Mal wurde ja die Bundestagswahl vorgezogen. Also wenn alles nach Plan läuft, wird September 2013 der Wähler wieder das Wort haben – fragt sich nur, nach welchem Wahlrecht. 2008 hat das Bundesverfassungsgericht das Wahlrecht als verfassungswidrig verworfen. Es dauerte und dauerte dann, bis Schwarz-Gelb eine Reform beschloss, ohne wie üblich in so grundlegenden Fragen die Zustimmung der Opposition. Jetzt landet das Wahlrecht für die Bundestagswahl heute dort, wo es 2008 schon einmal lag: wieder beim Bundesverfassungsgericht.

    Zu den Klägern in Karlsruhe heute gegen das Wahlrecht, auf das sich Union und FDP geeinigt haben, zählen SPD und Grüne und auch eine ganze Reihe von Privatpersonen. Unter anderem ist Wilko Zicht von der Internetplattform Wahlrecht.de einer der Beschwerdeführer. Hinter dieser Plattform Wahlrecht.de verbergen sich eine Reihe junger Wissenschaftler, die Expertisen zu so komplizierten Dingen schreiben wie dem deutschen Wahlrecht. Heute Morgen ist Wilko Zicht in Karlsruhe, ich habe ihn vor der Sendung gefragt, warum er wie schon 2008 jetzt wieder Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen das neue Bundestagswahlrecht eingereicht hat.

    Wilko Zicht: Ja, eigentlich hatte ich gedacht, das wäre nicht noch einmal nötig, aber als wir 2008 beim Bundesverfassungsgericht das Verfahren gewonnen hatten, war auch noch nicht daran zu denken, dass es jetzt wieder ein Wahlrecht gibt, was derartige Mängel aufweist.

    Meurer: Was ist der entscheidende Mangel Ihrer Ansicht nach?

    Zicht: Zum einen ist das, was 2008 vom Verfassungsgericht bemängelt wurde, das sogenannte negative Stimmgewicht, dass man der eigenen Partei durch die Wahl schadet – also man schadet der Partei, indem man sie wählt, oder man würde ihr dadurch nützen, indem man der Wahl fern bliebe -, dieser Effekt ist nach wie vor vorhanden, und allein deswegen ist das neue Wahlrecht immer noch verfassungswidrig. Und hinzu kommt der Aspekt der Überhangmandate, die die Sitzverteilung verzerren, dafür sorgen, dass manche Parteien mehr Sitze haben als ihr eigentlich zustehen. Dieser Effekt ist ebenfalls verfassungswidrig nach unserer Ansicht.

    Meurer: Das negative Stimmgewicht, eine sehr komplizierte Sache, ist augenfällig geworden bei der letzten Wahl, als es eine Nachwahl im Wahlkreis Dresden eins gab, notwendig geworden durch den Tod der NPD-Kandidatin. Jetzt ist im Gesetz vorgesehen, dass jedes Bundesland sozusagen für sich wählt. Es gibt keinen Transfer mehr zwischen den Bundesländern. Das heißt, Dresden kann sich doch nicht wiederholen nach dem Gesetz, oder?

    Zicht: Doch! Es ist zwar etwas komplizierter geworden, aber es gilt weiterhin, wenn damals bei der Nachwahl 5000 CDU-Wähler zuhause geblieben wären, dann hätte die CDU einen Sitz mehr gehabt.

    Meurer: Gibt es ein Modell, das diskutiert wird, das das negative Stimmgewicht beseitigt?

    Zicht: Ja, das sind gleich mehrere Modelle. Sie haben halt immer den Nebeneffekt, der aber dann auch durchaus erwünscht ist, dass gleichzeitig die Überhangmandate verrechnet werden oder ausgeglichen werden, das heißt entweder die Partei, die die Überhangmandate bekommt, erhält dann einfach weniger Listensitze in den Bundesländern, in denen sie keine Überhangmandate hat, also insgesamt weniger Sitze, so dass man insgesamt keinen vergrößerten Bundestag hat, oder das andere Modell ist das sogenannte Ausgleichsmandatsmodell, wo dann die Parteien, die keine Überhangmandate bekommen haben, Zusatzsitze bekommen, bis das Verhältnis wieder stimmt.

    Meurer: Das ist ja das gängige Modell auf Ebene der Landtagswahlen, die erste Variante, die Sie genannt haben. Würde dann eine Partei in einem Bundesland Mandate verlieren, die Direktmandate sind?

    Zicht: Nicht zwingend. Man kann erst mal die Listenmandate, die es dann trotzdem noch gibt bei dieser Partei in manchen Bundesländern, die kann man erst zur Verrechnung heranziehen. Wenn die dann auch aufgebraucht sind – das ist allerdings bisher erst bei einer einzigen, allerdings auch bei der letzten Bundestagswahl passiert -, dann muss man überlegen in der Tat, wie rechnen wir jetzt die restlichen Überhangmandate weg. Die Grünen haben in der Tat vorgeschlagen, was allerdings dann sehr radikal wäre, die Wahlkreissieger mit den wenigsten Erststimmen, denen dann den Sitz nicht zuzuerkennen. Aber man kann das natürlich auch über Ausgleichsmandate dann regeln, sodass man diesen radikalen Schritt nicht machen muss.

    Meurer: Wäre das die einfachste Lösung, Überhangmandate plus Ausgleichsmandate, so wie wir es eben gewöhnt sind von Landtagswahlen?

    Zicht: Das wäre auf jeden Fall die einfachste Möglichkeit, ja.

    Meurer: Und dass dann der Bundestag um möglicherweise 100 Abgeordnete größer wird?

    Zicht: Also es hätte bisher bei allen bisherigen Bundestagswahlen nur einmal wirklich dann Ausgleichsmandate geben müssen, und das wäre bei der letzten Wahl gewesen. Dann wäre der Bundestag in der Tat auf 666 Sitze etwa angestiegen. Das sind aber immer noch lange nicht 100 Zusatzsitze, sondern dann etwa 70, aber in der Tat eine doch deutliche Erhöhung. Darum ist es natürlich dann zu überlegen, gleichzeitig die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren. Wir haben einfach die Situation im Fünf-Parteien-System oder Sechs-Parteien-System, wie wir es dann vielleicht im nächsten Bundestag haben, dass es nicht mehr so funktioniert, wenn man die Hälfte der Sitze über Wahlkreise vergibt. Dann landet man zwangsläufig bei Überhangmandaten, weil die stärkste Partei einfach nur noch bei knapp über 30 Prozent ist, und das reicht dann nicht, um die vielen Direktmandate mit Listensitzen zu verrechnen.

    Meurer: Diese Entwicklung scheint ja weiterzugehen, dass die Volksparteien kleiner werden und dann, wie Sie sagen, mit 31 Prozent ein Direktmandat gewinnen. Haben Sie eine Schätzung, wie viele Abgeordnete zusätzlich mit Überhangmandaten und Ausgleichsmandaten beim nächsten Mal in den Bundestag einziehen würden?

    Zicht: Das hängt davon ab, wie sich der Abstand zwischen CDU und SPD entwickelt. Wenn die Schere da deutlich wieder zusammengeht, wovon man ja vielleicht ausgehen kann, weil die SPD ja beim letzten Mal extrem wenig hatte mit 23 Prozent der Zweitstimmen, dann wirkt das grundsätzlich den Überhangmandaten entgegen. Aber gleichzeitig erreicht man dann wieder die Situation, dass sowohl CDU als auch SPD gleichzeitig Überhangmandate bekommen können, sodass sich die Gesamtzahl dann wieder bei deutlich über 20 oder gar 30 Überhangmandaten bewegen kann.

    Meurer: Die CDU verteidigt die Überhangmandate. Die wird es in dem Gesetz, so wie es ist, ja auch weiterhin geben. Was ist daran so schlimm, wie die CDU argumentiert, wenn man sagt, Erststimmen sind nun mal genauso wichtig wie Zweitstimmen?

    Zicht: Das widerspricht dem, was auf dem Stimmzettel steht. Dort wird allen Wählerinnen und Wählern suggeriert, dass die Zweitstimme maßgeblich ist. Das ergibt sich zwar von der Namensgebung her nicht, aber darum steht es auch extra noch auf dem Stimmzettel: Die Zweitstimme ist maßgeblich für die Sitzverteilung.

    Meurer: Und das muss man dann halt ändern, diesen Satz?

    Zicht: Ja gut. Aber man hat dann auch das Ergebnis, dass eben man eine Sitzverteilung hat, die nicht mehr den Prozentzahlen entspricht, die man am Wahlabend dann in den schönen Balkengrafiken im Fernsehen immer sieht. Das heißt, wenn die eine Partei bei 40 Prozent ist und die andere bei 38 Prozent der Stimmen, dann kann die Sitzzahl genau umgekehrt aussehen, und im krassen Fall haben wir dann bei einem knappen Wahlergebnis die Situation, dass die Parteien, die weniger Stimmen bekommen haben und eigentlich in die Opposition gehören, die Regierung stellen können, weil sie durch Überhangmandate Zusatzsitze gewonnen haben, die ihr vom Wählervotum her nicht zustehen.

    Meurer: 2008 haben Sie mit Ihrer Beschwerde, Herr Zicht, gegen das Wahlrecht für die Bundestagswahl Erfolg gehabt. Was, glauben Sie, wird am Ende herauskommen jetzt in Karlsruhe?

    Zicht: Ich bin optimistisch, wäre zumindest sehr enttäuscht, wenn das jetzige Wahlrecht, was wirklich noch mal eine Verschlechterung gegenüber dem vorherigen ist, allein schon, weil es unglaublich kompliziert ist, man kann es niemandem mehr verständlich erklären – ich möchte kein Schulbuchautor sein von einem Sozialkunde-, Gemeinschaftskunde-Unterrichtslehrbuch, das dieses Wahlrecht erklären soll. Von daher hoffe ich, dass es nie zur Anwendung kommt und das Kapitel Wahlrecht dann in der Schule auch ohne höhere Mathematik erklärt werden kann.

    Meurer: Koalition und Opposition konnten sich im Bundestag nicht einigen. Soll das Bundesverfassungsgericht das neue Wahlrecht selber formulieren?

    Zicht: Grundsätzlich finde ich den Gedanken unschön, weil das ist natürlich ein Versagen der Politik, wenn das Gericht so in die Details gehen muss. Aber allein schon aus zeitlichen Gründen sehe ich eigentlich keine andere Möglichkeit mehr. Die Kandidatenaufstellung beginnt jetzt und man muss natürlich sich dann auch darauf einstellen können, dass das Wahlrecht bekannt ist, nach dem gewählt wird. Von daher sehe ich nicht, dass man den Bundestag jetzt noch eine Frist setzen kann, in der der Bundestag selber ein neues Wahlrecht beschließt.

    Meurer: Wilko Zicht von der Internetplattform Wahlrecht.de. Er ist einer der Beschwerdeführer heute in Karlsruhe bei der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts rund um das neue Wahlrecht für die nächste Bundestagswahl. Herr Zicht, danke schön und auf Wiederhören.

    Zicht: Danke auch.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.