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"Das Problem ist nur verschoben"

Seitdem Italien und Libyen konzertiert Bootsflüchtlinge abfangen und nach Libyen zurückschicken, ist deren Zahl erheblich gesunken. Das sei letztlich nur eine Abschiebung innerhalb Europas, kritisiert Christopher Hein.

10.08.2009
    Stefan Heinlein: Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer, Jahr für Jahr ein trauriges Sommerthema. Zehntausende Menschen machten sich von den Küsten Afrikas in überfüllten Booten auf in den Weg in den reichen Norden, in der Hoffnung auf ein Stück vom Wohlstand. Niemand weiß, wie viele Männer, Frauen und Kinder dabei jämmerlich ertranken. In diesem Sommer jedoch ist es still geworden um das afrikanische Flüchtlingsdrama im Mittelmeer. Die Menschenschmuggelsaison scheint diesmal abgesagt. Im ersten Halbjahr 2009 ist die Zahl der Bootsflüchtlinge an den europäischen Küsten drastisch gesunken. Ein Grund: Die Festung Europa ist stabiler geworden. Seit Mitte Mai werden die Flüchtlingsboote bereits auf dem Meer abgefangen und zurückgeschickt. Ein neues Abkommen zwischen Italien und Libyen macht dies möglich.
    Am Telefon begrüße ich jetzt den Leiter des italienischen Flüüchtlingsrates, Christopher Hein. Guten Morgen, Herr Hein.

    Christopher Hein: Guten Morgen!

    Heinlein: Können Europa und Italien endlich aufatmen? Ist das Problem gelöst?

    Hein: Das Problem ist natürlich in keiner Weise gelöst. Dadurch, dass die Boote abgefangen werden oder dass eine Zusammenarbeit mit Libyen es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich macht, überhaupt von den libyschen Küsten wegzufahren, ist weder für die Menschen, die davon betroffen sind, ein Problem gelöst, aber auch nicht für Europa – vielleicht gerade mal und vorübergehend für Italien. Das Problem ist natürlich im Ursprung: Warum gehen die Menschen weg, warum müssen sie weggehen? Wir sehen die Krise in Somalia, in anderen afrikanischen Staaten, aber es sind ja auch nicht nur Afrikaner über das Mittelmeer gekommen, sondern auch Flüchtlinge aus dem Irak, aus Afghanistan, die wegen der Schwierigkeit, andere Routen zu nehmen, auch über Nordafrika gekommen sind in den letzten zwei bis drei Jahren.

    Heinlein: Was wissen Sie, Herr Hein, über die alltägliche Praxis jetzt jeden Tag seit Mitte Mai der italienisch-libyschen Abfangpraxis im Mittelmeer? Sie haben da Informationen.

    Hein: Es sind formell drei Schnellboote den libyschen Kräften überstellt worden bereits Ende April. Die kontrollieren in der Tat Tag und Nacht den Kanal von Sizilien. Aber was vielleicht wichtiger ist, dass es eine Zusammenarbeit mit Libyen gibt, sodass dort zum ersten Mal tatsächlich auch eine Verfolgung der Schleppernetze stattgefunden hat, dass sehr viele auch libysche Bürger, die in das Schlepperwesen vorher eingegliedert waren, im Augenblick im Gefängnis sind, dass es in der Tat Kontrollen überall an der Küste gibt mit der Folge, dass die meisten gar nicht erst auf das Meer rauskommen.

    Heinlein: Was ist denn nun falsch daran, wenn ein Land wie Libyen mit der EU kooperiert und versucht, den Flüchtlingsstrom auszutrocknen und den libyschen Schleppern dann letztendlich das Handwerk zu legen?

    Hein: Daran wäre an sich genommen überhaupt nichts falsch, ganz im Gegenteil, wenn es eine Alternative gäbe: erstens, wenn es in Libyen selbst eine Möglichkeit gäbe, Rechtsschutz zu bekommen, wenn es ein Asylsystem im Libyen gäbe, wenn die Bedingungen in den Aufnahmezentren menschenwürdiger wären und wenn ein Teil von denen auf legale und normale Weise nach Europa rüberkommen könnten, nicht nur nach Italien, sondern auch in andere EU-Länder. Dann wäre das in der Tat ein Anfang einer Lösung des Problems. Solange aber Libyen, das nicht mal Teil der UNO-Menschenrechts- und Flüchtlingskonvention ist, das in der Tat überhaupt kein nationales Flüchtlingsrecht kennt und in dem die Menschen keine Möglichkeit haben, sich vor einer weiteren Abschiebung in die Heimatländer zu retten, solange ist sicherlich ein Problem nicht gelöst, ganz im Gegenteil. Was zu erwarten ist, dass die Flüchtlingsströme sich umorientieren und möglicherweise andere auch südeuropäische Länder in stärkerem Maße in der Zukunft betroffen sein werden. Wir haben in Libyen gesehen, wo wir ein Projekt zusammen mit dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge unternehmen, dass in der Tat es einen langen Weg geben wird, um die Lage in Libyen wie auch in anderen nordafrikanischen Ländern in der Weise zu verändern, dass von einer wirklichen Kooperation auf der Ebene von menschenwürdigen Grundlagen geredet werden kann.

    Heinlein: Herr Hein, wenn ich Sie richtig verstehe, der afrikanische Flüchtlingsstrom ist nicht gestoppt, sondern er wird sich nur verlagern, es werden andere Schlupflöcher gesucht werden?

    Hein: Das ist bisher immer so geschehen. Wenn irgendwo eine Tür zugemacht wurde, dann geht natürlich der Druck gegenüber anderen Türen los. Das ist eine Abschiebung, wenn man so will, innerhalb Europas auch von einem Land zum nächsten, solange es nicht wirklich eine Lösung dafür gibt, dass die Menschen nicht mehr dazu gezwungen sind, in menschengefährlichen und sehr teueren Fahrten auf illegale Weise über das Meer oder über die Landwege nach Europa reinzukommen. Was wir möchten ist auf der einen Seite, dass Europa und die einzelnen Mitgliedsstaaten Programme entwickeln zur legalen Einreise, und auf der anderen Seite wirkliche Hilfsprogramme zur Unterstützung von Ländern zur Verfügung stellen wie zum Beispiel Libyen, die als Durchgangsländer besonders von der Situation betroffen sind.

    Heinlein: Aber gibt dieser Schutz der Grenzen, diese Festung Europa, die ja nun stabiler geworden ist, den betroffenen Ländern, den europäischen Ländern, aber auch Ländern wie Libyen nicht die notwendige Zeit, die von Ihnen verlangten Programme legaler Einwanderung oder auch diese Hilfsprogramme dann tatsächlich aufzulegen?

    Hein: Bisher ist der Schwerpunkt nur auf repressive und Abschottungsmaßnahmen gelegt worden und nicht auf positive Maßnahmen. Das sieht man auch an den Geldmitteln, die fließen, das sieht man an den Erklärungen, die abgegeben werden. Es geht darum, praktisch nur die Tür für uns zuzumachen und damit sozusagen erklären zu können, das Problem wäre gelöst, und nicht mehr überhaupt ins Bewusstsein zu bekommen, dass damit die Lage auch in den Herkunftsländern und in den Durchgangsländern verschärft wird. Ich habe die Abschiebezentren, Abschiebelager in Libyen selbst gesehen. Über diese Rückschiebung aus dem Mittelmeer wird die schon sowieso dastehende Überfüllung noch stärker und damit auch die Bedingungen in diesen Lagern immer schwieriger. Das ist die Lage für die Menschen, die verzweifelt sind, die keine Alternative sehen und die sicherlich irgendwann versuchen werden, auf jedwede Weise trotzdem aus dieser für sie unmöglichen Situation herauszukommen. Ich wiederhole noch einmal: Das Problem ist nur verschoben, ist zeitlich aufgeschoben, ist möglicherweise geografisch verschoben in andere Länder, aber keineswegs gelöst.

    Heinlein: Der Leiter des italienischen Flüchtlingsrates, Christopher Hein, heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Herr Hein, ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören nach Italien.

    Hein: Auf Wiederhören!