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"Das Rätsel Merkel ist, dass es keine Rätsel gibt"

Begeht die Sozialdemokratie einen kapitalen Fehler, wenn sie sich zu ihrer jüngsten Geschichte nicht bekennt? Dagegen verhält sich das Mysterium um die Bundeskanzlerin gerade noch harmlos. Der ehemalige Wahlkampfmanager von Edmund Stoiber sieht das zumindest so.

Von Norbert Seitz | 27.05.2013
    Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka empfiehlt der jubilierenden SPD mehr Stolz – und zwar nicht nur auf lange Zurückliegendes, sondern auch auf jüngst Geleistetes. In der SPD-nahen "Neuen Gesellschaft" verweist er dabei auf eine Tradition der innerparteilichen Selbstkritik, die freilich mehr sein soll als ein weitgehend domestizierter scheinoffener Diskurs:

    Die Agenda 2010 ist ein Beispiel dafür, dass die SPD bis hin zur Selbstgefährdung etwas durchgesetzt hat, das notwendig war und sich mittlerweile für die meisten auszahlt, trotz gewisser Ungereimtheiten und Fehler, die korrigiert werden müssen. Mit der Erinnerung an ihre großen Leistungen sollte sich die SPD schmücken, statt sich ihrer zu schämen oder sie kleinmütig zu verbergen.

    Solche Empfehlungen bringen die linken Gegner der SPD zum Schäumen. Zum Beispiel Albrecht von Lucke, der in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" zu dem Negativurteil gelangt, die Partei habe in den 15 Jahren seit Schröder den letzten Glaubwürdigkeitskredit aus 150 Jahren verspielt. Ähnlich kritisch äußert sich auch der Fraktionschef der Linken, Gregor Gysi, auf Freitag-Online:

    Sozialdemokratie – das hieß (einmal): so viel soziale Gerechtigkeit, wie der Kapitalismus hergibt. Das Ironische an der Geschichte ist, dass die Konservativen es waren, die in den fünfziger und sechziger Jahren auf kapitalistischer Grundlage einen Sozialstaatskompromiss etablierten, den sich die Sozialdemokratie ideologisch dann aneignete. Eine ähnliche Wende ( ... ) verschärfte sich während der rot-grünen Regierungsjahre. Jetzt hieß es nicht mehr: So viel soziale Gerechtigkeit, wie der Kapitalismus hergibt, sondern so viel Abbau sozialer Standards, wie für die neoliberale "Modernisierung" erforderlich ist.

    Doch zum ideologischen Hochmut gegenüber der bräsigen Jubilarin besteht seitens der Partei der Linken kaum Anlass. Im Gegenteil: Seit Oskar Lafontaine den Ausstieg aus dem Euro seiner desolaten Truppe auf die Fahnen schreiben möchte, ist nicht mehr die Sozialdemokratie, sondern die konservative "Alternative für Deutschland" die eigentliche Konkurrentin. Den Blogger Sebastian Müller treiben solche eher unrühmlichen Berührungspunkte um. In der "streitbaren Netzpublikation" "Le Bohémien" konstatiert er, für die Linke führe die Europadebatte auf die zentrale programmatische Frage hinaus:

    Kann man im Rahmen des Euro eine soziale Politik führen? Doch hier scheiden sich die Geister, nicht zuletzt da dies in der derzeitigen Konstruktion äußerst schwierig ist – so schwierig, dass selbst Lafontaine den Euro nun aufgegeben hat. ( ... ) Dass die (Alternative für Deutschland) überhaupt Teil einer linken Debatte geworden ist, verdeutlicht einmal mehr den Wettlauf zwischen Hase und Igel. Statt eigene Alternativen wie die Forderungen nach Lohnerhöhungen und expansiver Haushaltspolitik öffentlichkeitswirksam hochzuhalten, die den europäischen Teufelskreislauf im Kampf um immer höhere Wettbewerbsfähigkeit verlangsamen würde, hechelt man einer marktradikalen Antieuro-Partei hinterher und kann diesen Wettlauf doch nicht gewinnen. Stattdessen ist es über die AfD gelungen, ein populäres Thema mit neoliberalen Inhalten zu besetzen und einmal mehr progressiven Reformkräften zuvorzukommen.

    Im Gegensatz zur Partei "Die Linke" versuchen Bündnis90/Die Grünen ihrem Wunschpartner SPD auf dessen sozialem Terrain das Wasser abzugraben. So zum Beispiel mit den heiß umstrittenen Steuerbeschlüssen im Wahlprogramm. Kritiker sagen deshalb der Ökopartei bereits einen Reinfall voraus – ähnlich dem Lapsus Angela Merkels von 2005 mit der Kopfpauschale im Gesundheitswesen. Im liberalen Blog "Zettels Raum", geht der Anonymus "Stefanolix" mit den grünen Steuererhöhungsabsichten hart ins Gericht:

    Die Grünen belasten in ihrem Wahlprogramm nicht in erster Linie die Reichen, sondern sie belasten besonders stark die Mitte – durch eine flankierende Abgabenerhöhung, die auf einem viel niedrigeren Niveau ansetzt ( ... ) Aber in einigen Ballungszentren Deutschlands ist man mit einem Einkommen von ca. 47.000 Euro brutto keineswegs "reich" ( ... ) In München oder Hamburg müssen viele Familien in dieser Einkommensklasse mit jedem Euro rechnen.

    Und die Union? Deren Kanzlerin animiert noch immer Journalisten zu trivialpsychologischen Höhenflügen. Auf seinem Blog "Sprengsatz" versucht der frühere Wahlkampfmanager Edmund Stoibers, Michael Spreng, das Erfolgsphänomen Merkel zu enträtseln.

    Merkel ist eine Machttechnikerin mit schwachem idealistischen Hintergrund. Sie ist keine Gestalterin, außer der Gestaltung ihrer politischen Karriere und ihrer Macht. Sie macht sich – zumindest öffentlich – keine Gedanken über Deutschland in zehn Jahren ( ... ) So managt sie ihre Karriere, so managt sie ihre Macht, und so managt sie Deutschland. Vorsichtig, risikoscheu, Schritt für Schritt ( ... ) Das ist nichts Großartiges, nichts Begeisterndes ( ... ) Das Rätsel Merkel ist, dass es keine Rätsel gibt.