Samstag, 27. April 2024

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Das Verbrechen des Gefreiten Lortie

Vielleicht erinnern Sie sich, meine sehr verehrten Zuhörer, an ein Medienereignis, das fünfzehn Jahre zurückliegt. Am 8. Mai 1984 stürmte der junge Gefreite der kanadischen Armee Denis Lortie in Kampfuniform das Gebäude der Assemblée nationale von Québec. Mit seiner Maschinenpistole schoß er wahllos auf alles, was seinen Weg kreuzte. Drei Menschen wurden getötet, acht weitere Personen blieben verletzt liegen. Als er den Plenarsaal erreichte, in der Absicht, die Regierung von Québec auszulöschen, mußte er feststellen, daß an diesem Tage keine Sitzung stattfand. Der Saal war leer. Lortie warf sich in den Präsidentensessel, feuerte noch einige Male in die unbesetzen Stuhlreihen und ließ sich später von einem Wachoffizier zur Aufgabe überreden. Die ganzen vierzig Minuten, die Lortie im Plenarsaal saß, wurden von Videokameras aufgenommen, und diese Bilder gingen um die Welt. Befragt, was ihn denn zu dieser Tat veranlaßt hatte, antwortete Lortie später: "Die Regierung von Québec hatte das Gesicht meines Vaters."

Manfred Schneider | 12.01.1999
    Wenige Stunden vor dem Attentat hatte Lortie noch zwei Botschaften verfaßt. Ein von ihm besprochenes Tonband schickte er an eine lokale Hörfunkstation, damit es über den Sender lief; ein zweites Band besprach er für seine Frau. Auf beiden Bändern kündigte er die Liquidierung der Regierung an. Seiner Frau erklärte er zum Motiv: "Ich weiß nicht warum, aber ich muß es tun."

    Das war die Tat eines Wahnsinnigen, sagt uns unsere Erfahrung. Aber unsere Erfahrung flüstert uns auch zu, daß der Wahnsinn nicht nur bisweilen Methode hat, sondern auch häufig eine Wahrheit in sich trägt, die uns mehr über uns mitteilt und erklärt als alle Wissenschaft.

    Der französische Rechtshistoriker und Psychoanalytiker Pierre Legendre hat den Fall Lortie ausführlich analysiert. Sein Buch trägt den Titel "Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlungen über den Vater". Tatsächlich ist es ein Traktat über den Vater, über die Vaterrolle, man müßte sogar sagen: über die Vaterstruktur unserer Gesellschaft. Lortie wurde zwar wegen mehrfachen Mordes zur Höchststrafe verurteilt, aber tatsächlich wollte er seinen Vater und sich selbst aus der Welt schaffen. Legendre macht deutlich, daß der Vatermord und der Selbstmord ein und dieselbe Tat gewesen wären. Lortie war selbst Vater von zwei kleinen Kindern, und mit der Geburt dieser beiden Kinder wuchs in ihm immer heftiger die Angst, daß er sich ihnen gegenüber wie sein eigener Vater verhalten würde. Lorties Vater hatte die zehnköpfige Familie terrorisiert, Frau und Kinder physisch mißhandelt und auch sexuell mißbraucht. "Niemals ein gewalttätiger, tyrannischer Vater werden!" Das sagte die Stimme der Angst, und diese Angst wuchs in dem jungen Lortie offenbar in dem Maße, wie die kleinen, unvermeidlichen Konflikte mit den eigenen Kindern zunahmen. Fügen sich somit die Tragödie und der Wahnsinn des Gefreiten Lortie zu einer Geschichte unserer Tage, zur Geschichte von Mißhandlungen?

    Die Sache ist nicht so einfach. Da erreicht uns seit Jahrzehnten immer wieder die Meldung, daß die Väter verschwinden. Ausgerechnet aus Kanada kam im August die Nachricht, daß im Rahmen des 14. Internationalen Soziologie-Kongresses in Montreal erneut das soziale Ende des Vaters verkündet wurde. Hand in Hand erklären Soziologen und Biologen, daß der Vater ausgedient hat. Die Mutter verkörpere heute das Zentrum der Familie, denn immer mehr Mütter seien gesellschaftlich, beruflich, finanziell autonom geworden. Und beinahe auch sexuell, denn der US-Biologe Robert Francoeur berichtete dem gleichen Kongreß: Die Frauen wollten heute weniger Sexualität in der Beziehung als Zärtlichkeit. Das konnte man zwar bereits in den Handbüchern zur Ehe-Hygiene von 1930 lesen. Jetzt aber bekommt die Botschaft einen neuen Klang: Das phallische Prinzip hat ausgedient! Immer mehr Sozialwissenschaftler verkünden die Verrentung des Phallus, als ob der ewige Frieden ausgebrochen wäre. Es scheint ja auch zu stimmen: Was der Phallus einmal monopolisierte, das bietet heute jede Samenbank. So kommt Professor Francoeur zu dem Ergebnis: Die Potenzpille Viagra ist das "letzte Aufbäumen einer absterbenden patriarchalischen Kultur."

    Pierre Legendres Buch ist Viagra für die Soziologie, die mit solchen Torheiten die Welt zum Narren hält. Die soziale Rolle der Väter hat weder etwas mit Sexualität zu tun, denn - alle wissen es - der zeugende Vater ist immer ungewiß. Und erst recht hat das patriarchalische System nichts mit der sozialen Vaterrolle oder Vaterfunktion zu tun. Denn diese Funktion ist - um es etwas befremdlich auszudrücken - ein kulturell geformtes Amt. Pierre Legendre ist ein Theoretiker, der in allen seinen Büchern gerade an diese Grundlage der Vaterrolle erinnert. Der Vater ist derjenige, der dem Kind den Zugang zum Gesetz verschafft. Gesetze sind in erster Linie Verbote. Aber in unserer christlich geformten Kultur haben die Verbote keinen guten Ruf. Bereits der Apostel Paulus belastete die christliche Doktrin mit dem falschen Versprechen, daß Jesus das Ende des Gesetzes herbeigeführt habe. Das konnte sich nicht bewahrheiten; aber unsere soziale Phantasie ist von diesem Versprechen immer noch erfüllt. Alle abendländischen Revolutionen, die christliche, die protestantische, die französische, die kommunistische, die anarchistische und heute die feministische Revolution: Sie alle haben das Ende des Gesetzes, der Verbote, der Gerichte, der Gefängnisse versprochen, wenn erst einmal die natürliche Ordnung der Welt wiederhergestellt sein werde.

    Keine Ordnung der Menschenwelt aber, wie auch immer sie aussehen mag, kommt ohne Väter, ohne die Vaterrolle, ohne das Gesetz aus. So lautet auch die Dogmatik unserer abendländischen Rechtsformen. Denn im Widerspruch zum Paulus-Versprechen entwickelte das Abendland eine überaus einheitliche, kohärente, scharfsinnige und kompakate Tradition des Gesetzes. Die Moderne indessen hat die im Römischen Recht und vor allem im Kanonischen Recht des Mittelalters fundierte juridische Tradition vergessen. Doch im Kern - und das ist die von Pierre Legendre entwickelte Lesart - im Kern sind wir Bewohner des Mittelalters geblieben. Nur begründen wir unsere Rechtsformen aus unserem Glauben an die industrielle, früher sagte man: die kapitalistische Kultur. Aber auch die Religion der Wirtschaft ist nichts anderes als ein Dogma. Und dies um so mehr, weil wir uns ihren Verlautbarungen beugen müssen. Alles was wir heute von Soziologen und Psychologen über den Menschen, über die sozialen Rollen und die Geschlechter erzählt bekommen, sind nichts als oberflächlich kommentierte Beobachtungen innerhalb der industriellen Kultur. Diese industrielle Kultur, die uns von allen sozialen Bindungen und Verpflichtungen freisetzt und die so gewonnene trügerische Autonomie durch technische Prothesen und mediale Surrogate regelt, sie führt ins Desater, wenn sie sich nicht auf ihre institutionellen Grundlagen besinnt: auf das Gesetz.

    Legendres Buch ist Viagra für solche törichte Soziologie und Psychologie, die alles Institutionelle hinwegredet. Es richtet den Phallus wieder auf, der nichts anderes ist als das Symbol der Symbole, der Unterschied schlechthin. Wir glatthäutigen Primaten regeln unsere Dinge symbolisch und institutionell, weil wir unserer Instinktorientierung beraubt sind. Als sprechende Wesen bleiben wir darauf angewiesen, daß wir die elementare Ordnung unserer Welt sprechend annehmen und weitergeben. Auch Väter sind eine Institution. Und wo diese Väter versagen, indem sie entweder ihr Amt in Tyrannei ausarten lassen oder indem sie die Funktion leugnen und sich als Brüder oder Kumpel ihrer Kinder maskieren, dort arbeiten sie am Ruin des Sozialen. Der Fall Lortie ist ein Beispiel für diesen Ruin. Er erlaubt zugleich einen Blick auf die tragische Verfassung der menschlichen Dinge. Man erinnere sich an den König Ödipus, jenen Ödipus, den man als Träger des gleichnamigen Komplexes so gut zu kennen vermeint. Ödipus ist ja auch das Opfer einer Tragödie. Gerade indem er vermeiden will, was das Orakel vorhersagte, daß er seinen Vater töten und seine Mutter heiraten werde, verfällt er dem Schicksalsspruch. Dem Gefreiten Lortie ist nichts anderes widerfahren. Er wollte dem Orakel seiner inneren Stimme entgehen, die sagte, daß auch er ein Tyrann werden müsse wie sein Vater. Und eben die Unternehmung, diesen Vater in Gestalt der Regierung des Québec zu beseitigen, verwandelte ihn in den schrecklichen, mörderischen Vater, den er verabscheute.

    Solches Viagra für die Soziologie sammelt sich zum Beispiel in Legendres Frage: Was ist ein Vater? Halten wir nicht eine solche Frage für verrückt? Das weiß doch jedes Kind! Offensichtlich aber weiß das in unserer Gesellschaft kaum noch ein Kind. Zwar gibt es Väter, aber es gibt keine Väter mehr, die diese Rolle spielen können. Die Literatur kennt einen vermeintlich friedfertigen Doppelgänger oder sagen wir besser: einen Schicksalgenossen von Denis Lortie. Das ist Franz Kafka. Kafka hat sich nichts mehr gewünscht als die bürgerliche Normalität. Und er hat sich vor nichts mehr gefürchtet als davor, Vater zu werden. Denn er wollte nicht werden wie sein eigener Vater. Kafkas Erzählungen werden daher auch von solchen tyrannischen Vätern bevölkert, die ihre Söhne in Ungeziefer verwandeln oder sie in den Selbstmord treiben.

    Legendre macht in seinem Buch über den Gefreiten Lortie deutlich, daß überhaupt unsere abendländische Rationalität an diesem Vatertum hängt. Lassen wir die Mütter ihr gutes Werk tun, für Harmonie, Natur, Friede, Geselligkeit, Waldspaziergänge und saubere Luft eintreten. Das benötigen wir. Wir benötigen aber auch den Zugang zum Gesetz und die Anerkennung, daß die menschliche Welt institutionell reguliert ist. Daß das Gute nicht aus der Natur kommt, sondern allenfalls aus dem Verbot des Bösen. Hinter den Außenseitern unserer Gesellschaft, hinter Kriminellen, gewalttätigen Rowdies und Terroristen, stehen Armeen versagender Väter.