Samstag, 27. April 2024

Archiv


Das weite Feld der Post-Production

Für den Berliner Komponisten Stephan Winkler, der in der rebellischen Ostberliner Szene der späten 80er und frühen 90er begann und zwischenzeitlich in London, Venedig, New York und Paris Arbeitsstipendien genoss, ist die digitale Bearbeitung von Klängen inzwischen Teil des Komponierens. Erst am Bildschirm vollenden sich seine Werke - das bislang Notierte, im Studio Eingespielte ist nur Rohmaterial.

Von Frank Kämpfer | 28.08.2005
    Am Mikrofon Frank Kämpfer. Ich möchte Sie im Folgenden gern auf einige Veröffentlichungen hinweisen, die in heutige, aktuelle Klangwelten führen.

    " Musikbeispiel: Christian Lindberg - aus: "Helikon Wasp" "

    Hört man Klänge wie diese, so ist man erstaunt, zu erfahren, ihr Urheber, der schwedische Posaunist Christian Lindberg, schätze intellektuelle Manierismen von heute nur wenig, er sei auf der Suche nach Eigenem und komponiere, was ihm selber gefällt. Doch der Solist, der Posaunenkompositionen vieler Avancierter uraufgeführt hat, stellt sich selbst schöpfend als Romantiker dar. Eine Farce?

    Für einen, der Stockhausen wie Mozart, die Beatles ebenso wenig verschmäht wie John Coltrane, ist es zweifellos schwer, stilistisch eigene Wege zu gehen. Was nicht heißt, das Christian Lindbergs Musik grundsätzlich schwach, fantasiearm und nicht sinnfällig ist. Vorausgesetzt, man misst sie nicht an Standards neuer Musik oder der Jazz-Avantgarde. Lindberg, Jahrgang 1958, ist Populist und zwischen den Genres und nur partiell im 20. Jahrhundert zu Hause. Stilistische und dramaturgische Rückgriffe in die Romantik sind nicht zu verleugnen - wie die für Blechbläser notierte Programm-Musik Condor Canyon oder das Doppelkonzert für Trompete, Posaune und Orchester Behac Munroh belegen. Deswegen ist "Ty solen är uppe" noch kein schlechtes Chorstück. Und weshalb ein Flötenkonzert wie "The World of Montuagretta" nicht als Filmsoundtrack dienen? Das Konzert ist ob seiner Konventionen verständlich, es fordert den Virtuosen und es setzt beim Hörer Assoziationen in Gang.

    Alle fünf Titel der beim schwedischen Label BIS neu erschienen Porträt-CD des seit einigen Jahren auch komponierenden Posaunisten wirken interpretatorisch ganz makellos - und doch bleibt ein schaler Geschmack. Es ist nicht die Rückwärtsgewandtheit, es fehlt vielmehr an Substanziellem, an Schärfung, Zuspitzung, am Mut zum Extrem, der die Voraussetzung oft für das Spezifische ist.

    Mir persönlich gefällt am ehesten die Satire, zu der sich das Eingangsstück "Helikon Wasp" schließlich noch aufschwingt. Die Wespe, die hier den Berg der mythischen Musen umschwirrt, scheint mir das Dilemma des Komponisten präzis zu umreißen: sie will gefallen, sich aber jeder Richtungsentscheidung enthalten, sie ist begabt, schafft es aber nur bis zur Selbstparodie:

    " Musikbeispiel: Lindberg - aus: "Helikon Wasp" "

    Satirisches von Christian Lindberg, eher konventionell verpackt - hier ausschnittweise zu hören in einer Aufnahme mit dem Sao Paulo Symphony Orchestra und dem Komponisten am Pult, an der Posaune sowie als Stimme.

    Nicht zwingend schließt der Zugriff auf Etabliertes die Möglichkeit des Individuellen von vornherein aus. Der Berliner Komponist Stephan Winkler hat ein Terrain für sich entdeckt, das im Pop ein Experimentierfeld, im Klassikbereich die Norm ist: das Feld der Post-Production - das Schneiden, Verstärken, Verringern, Collagieren, mit einem Wort: das Einflussnehmen am Digitalen Mischpult.

    Für Winkler, Jahrgang 1967, der in der rebellischen Ostberliner Szene der späten 80er und frühen 90er begann und zwischenzeitlich in London, Venedig, New York und Paris Arbeitsstipendien genoss, ist digitale Bearbeitung inzwischen Teil des Komponierens. Erst am Bildschirm vollenden sich seine Werke - das bislang Notierte, im Studio Eingespielte ist nur Rohmaterial.

    Das Resultat sind in diesem Falle drei Werke, deren Erklingen an den Tonträger Compact-Disc gebunden ist. Zigzag zum Beispiel beginnt als Spiel zweier Gruppen von je drei Saxophonisten mit der Stereophonie. Doch das digital produzierte Pingpong zwischen den Kanälen ist mehr als Effekthascherei. Vielmehr entfaltet das dreisätzige Opus eine enorm subversive Energie.

    Das für mich interessanteste Stück der Platte heißt "Vom Durst nach Dasein" - es stammt aus den Jahren 2000/2001 und wurzelt in Winklers Begegnungen mit dem Buddhismus. In der Dramaturgie einer barocken Suite reiht das Werk sieben Momente mit wechselndem Assoziationsgehalt. Das im Nachhinein erschaffene Ensemble treibt ein pulsierender Beat, dem bei Winkler geläufigen Sampler entspringen Fragmente von Techno-Musik - die Bratsche, das Solo-Instrument erhebt sich zu einer rezitativischen Rede, die eine melodisch-rhythmische Übertragung einer gelesenen Passage aus Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" darstellt.

    " Musikbeispiel: Stephan Winkler - aus: "Vom Durst nach Dasein" "

    Techno, Avantgarde, digitale Postproduktion - der Berliner Komponist Stephan Winkler eröffnet neue Aspekte des Komponierens - auf seiner übrigens im Rahmen der Edition Zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats beim Label WERGO erschienenen Solo-CD, die auf der Rückseite noch einen Kurzfilm im DVD-Format birgt.

    Gleichfalls einen Blick in Zukünftiges, das schon Gegenwart ist, sucht das Hamburger Ensemble Intégrales. Auf seiner CD "European Young Generation" versammelt Intégrales sieben junge Komponisten aus sieben europäischen Ländern, die sich als Seismographen aktueller kultureller Prozesse verstehen. Sie alle eint die Prägung durch die europäische Stadt, vielgestaltige Welt- und Musizier-Erfahrung, die Grenzüberschreitung ästhetischer wie biographischer Art. Sergej Newski zum Beispiel, geboren 1972 in Moskau, lebt und komponiert in Berlin. Yannis Kyriakides, geboren 1969 auf Zypern und aufgewachsen in England, ist in den Niederlanden zu Haus. Die 1974 geborene Irin Jennifer Walsh nicht zuletzt spielt mit Konventionen europäischer Musiktradition.

    Deutlich folgt die im Saarländischen Rundfunk Saarbrücken produzierte CD dem speziellen Ensemble-Konzept. Hier sind klanglich höchst reizvolle Stücke versammelt, die zum Teil eigens für Intégrales entstanden und ein insgesamt aufbruchsbereites, Neugier-geladenes Verständnis heutigen Komponierens aufweisen. Im Zentrum der Arbeiten steht die Konzentration auf das Phänomen Klang. Die Palette reicht von Newskis "Bastelmusik", die angeregt ist von der Gangschaltung niederländischer Eisenbahnzüge bis zu Bernfried Pröve, der das Material seiner Studie Choor II für Saxophon und Elektronik aus vier Tönen gewinnt. Christoph Bertrand liefert mit Aus ein energiereiches Stück für zwei Bläser, Klavier und Bratsche und der gebürtige Kroate Marco Ciciliani untersucht "Körperklang".

    Ich habe für Sie zum Abschluss einen Ausschnitt aus dem Eröffnungsstück der bei ZEITKLANG in Adenbüttel erschienenen Platte ausgesucht: Chaoids von Yannis Kyriakides - eine mehrschichtige Verschränkung von Elektronischem Puls, Minimalismus und polyphon Unreglementierbarem.

    " Musikbeispiel: Yannis Kyriakides - Chaoids "

    Soweit ein Ausschnitt aus der neuen CD European Young Generation des Hamburger Ensemble Intégrales - erschienen ist diese im Frühsommer veröffentlichte Neuproduktion beim Label ZEITKLANG. Zuvor habe ich Ihnen Stephan Winklers bei WERGO erschienene Porträt-CD angespielt, sowie die bei BIS verlegte CD des Schweden Christian Lindberg, die in Deutschland über den Vertrieb Klassik-Center Kassel bezogen werden kann.

    CD 1:
    Titel: "Christian Lindberg - A composer's portrait"
    Orchester: Sao Paulo Symphony Orchestra
    Leitung: Christian Lindberg
    Label: BIS (Vertrieb: Klassik-Center Kassel)
    Labelcode: kein LC
    Bestellnr.: CD BIS 1428

    CD 2:
    Titel: "Stephan Winkler"
    Interpreten: diverse
    Label: WERGO
    Labelcode: LC 00846
    Bestellnr.: 6556 2

    CD 3:
    Titel: "European Young Generation"
    Ensemble: Ensemble Intégrales
    Label: Zeitklang
    Labelcode: LC 00581
    Bestellnr.: ez21019