Freitag, 26. April 2024

Archiv


"Das wird Rache geben"

Im Berliner Bezirk Neukölln brodelt es, seit der 18-jährige Jussef E. nach einem Streit erstochen wurde. Der Täter, ein Deutscher, wurde nicht in Untersuchungshaft genommen. Der Haftrichter hielt Notwehr für wahrscheinlich und ließ ihn auf freiem Fuß. Doch die meisten bewahren die Ruhe.

Von Dorothea Jung | 16.03.2012
    Berlin Neukölln am vergangenen Freitag: Totengebet für Jusef El A. Bereits eine Stunde vor Beginn des Gottesdienstes ist die Dar-as-Salam-Moschee in der Flughafenstraße überfüllt. Während im Gebäude der Imam Koransuren rezitiert, füllen die Trauernden den Vorplatz der Moschee, die Bürgersteige und sogar Teile des Fahrdamms. Die Berliner Polizei muss die Straße sperren. Nach der Zeremonie folgen dem Sarg mehr als 3000 Menschen zum nahegelegenen Friedhof. Einige sind aufgewühlt und reden von Vergeltung.

    "Wir Araber sind so, dass es Rache gibt!"

    "Wenn da jemand nach nur einem Tag aus der Haft entlassen wird und das als Notwehr geltend gemacht wird, dann bin ich ehrlich gesagt, skeptisch dem gegenüber. Wär's jemand mit Migrationshintergrund, mit Sicherheit, der wäre drinne wegen Mord!"

    "Das wird Rache geben, das ist schon mal sicher."

    Doch derartige Stimmen sind in der Minderheit. Die meisten Trauernden halten sich an das, worum sie der Imam in der Moschee gebeten hat: Sie bewahren die Ruhe, sind besonnen und nachdenklich.

    "Gott verbietet uns solche Rachetaten. Und darum, wenn die Leute gläubig sind, halten sie sich dran."

    "Man kann trauern, aber man soll nicht sich irgendwie kaputt schlagen und irgendwelchen Blödsinn machen. Es ist sehr wichtig, dass man die Geduld behält."

    "Man kann nur beten, dass alles wieder gut wird."

    Dass es seit dem Vorfall im sozialen Brennpunkt Neukölln bis heute nicht zu Ausschreitungen kam, ist kein Zufall. Es ist die Folge einer sorgfältigen Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Akteuren im Bezirk. Einer von ihnen ist Polizeihauptkommissar Claus Röchert. Er gehört zur AGIM, der Arbeitsgruppe Integration und Migration der Neuköllner Polizei. Die AGIM arbeitet präventiv und ist auf Integrationskonflikte spezialisiert. Claus Röchert hat mit den Moscheen, Sozialarbeitern, Jugendlichen und arabischen Vereinen im Bezirk geredet. Er nennt sie seine Netzwerkpartner.

    "Wenn es um Jugendliche geht, heißt es, schnell zu agieren, ehe sie selbst agieren. Und das bedeutet oft, dass man etwas tut mit Gewalt. Und das musste verhindert werden. Wichtig war der schnelle Schulterschluss mit den anderen Netzwerkpartnern. Schnell Kontakt aufnehmen: Wer macht was."

    Zum Neuköllner Netzwerk gehört auch Arnold Mengelkoch, der Integrationsbeauftragte des Bezirks. Er nahm Kontakt zur Familie auf. Mengelkoch weiß, dass ein persönlicher Beileidsbesuch in der arabischen Community bedeutsam ist.

    "Also ich hab den Vater kennengelernt bei dem Kondolenzbesuch, und der ist sehr schockiert und spricht nicht viel. Und der Neffe war dabei. Und mit dem hab ich gesprochen, und der hat gesagt, weder er noch seine Familie noch die Verwandtschaft - sie sind nicht an Rache interessiert. Sie kennen die Gefühle und sie wollen, dass das seinen geordneten Gang geht. Aber das wollen sie nicht: keine Rache."

    Arnold Mengelkoch lud den Vater ein, einige Worte an Jusefs Freunde im Neuköllner Jugendzentrum Sunshine-Inn zu richten. In diesem Jugendzentrum hatte sich Jusef als Streitschlichter engagiert. Dort hatten die Sozialarbeiter ebenfalls bereits reagiert und mit der Polizei einen Infoabend vereinbart. Es galt, über das deutsche Rechtssystem zu informieren. Über Notwehr und die Gründe, warum sich der Mann, der die tödlichen Messerstiche gestanden hat, auf freiem Fuß befindet, sagt Sozialarbeiterin Jana Krystlik vom Jugendzentrum Sunshine Inn.

    "Die ersten Ansätze von Wut und eben diesem Hochkochen von eventuellen Vergeltungsüberlegungen, die waren, als es hieß, dass er freigelassen worden ist. Weil die meisten es auch verwechselt haben damit, dass er freigesprochen wurde, dass es bereits ein Urteil gibt und dass er jetzt auf freiem Fuß bleibt auch."

    Für Polizeihauptkommissar Claus Röchert war es ein bewegender Moment, als der Vater dann tatsächlich im Jugendzentrum erschien.

    "Die Jugendlichen waren betroffen, als der Vater kam; und der Vater sprach sowohl auf Deutsch als auch auf Arabisch, dass er auf keinen Fall möchte, dass Jugendliche Gewalt ausüben, Rachegedanken hegen und dass er nicht will, dass sich noch ein Jugendlicher ins Unglück stürzt. Und das war positiv für die Gesamtentwicklung auch der darauffolgenden Tage."

    Denn es waren auch Scharfmacher in der arabischen Community unterwegs. Über Facebook hatten sie zu einer Protestkundgebung mitten in Neukölln aufgerufen. Von einer Hassdemo war die Rede. Dort sollte gegen die Ungerechtigkeit der deutschen Justiz demonstriert werden, die, wie es hieß, Mörder freilasse. Doch die Besonnenheit siegte. Der Jugendbeirat im Jusefs Wohnquartier verteilte Flugblätter, auf denen er zur Gewaltlosigkeit aufrief. Die Protestkundgebung wurde abgesagt. Ein junges Mädchen aus Jusefs Nachbarschaft:

    "Der Vater selber ist gekommen und meinte, dass er keine Rache will, dass alles friedlich ablaufen soll. Und der Allmächtige hat das entschieden. Und wenn der Vater das selber akzeptiert, wer sind dann wir, dass wir das nicht akzeptieren!"

    Das Mädchen versteht Zeitungsmeldungen nicht, wonach Jusef in der tödlichen Auseinandersetzung nicht als Streitschlichter, sondern als Schläger aktiv gewesen sein soll. Jusef sei ein lebensfroher und fürsorglicher Mensch gewesen, meint Jana Krystlik vom Jugendzentrum Sunshine-Inn. Für die Sozialarbeiterin ist es jetzt vor allem bedeutsam, dass das Ermittlungsverfahren gegen den Mann, durch den Jusef ums Leben kam, mit großer Sorgfalt durchgeführt wird.

    "Weil ich glaube, das ist wichtig für alle Beteiligten, dass alle das Gefühl haben, dass es rechtens zugeht und dass wirklich gut recherchiert und gut ermittelt wird. Weil ich glaube, das ist unglaublich wichtig für den Frieden hier in Neukölln."