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Degrowth-Konferenz Leipzig
Die künstlerischen Aspekte der Wachstumskritik

Alles muss wachsen: Das ist das Credo unserer Wirtschaftsgesellschaft. In Europa hat sich mittlerweile eine Gegenbewegung etabliert, die sich "Degrowth" nennt. Auf einer Konferenz in Leipzig treffen sich die Aktivisten.

Von Claudia Euen | 02.09.2014
    Leipzig, Innenstadt. Links und rechts Kaufhäuser, Geschäfte, Passagen. Menschen eilen vorbei. Fahrradfahrer. Wir stehen mit geschlossenen Augen inmitten des Treibens. Die Künstlerin Diana Wesser gibt Anweisungen für die Performance "Your are here".
    "Bevor wir losgehen, möchte ich Sie bitten, für einen Moment die Augen zu schließen. Erinnern Sie sich, wie Sie hier hergekommen sind. Welchen Weg sind Sie gegangen? Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen? Ein Geräusch, ein Geruch oder eine Farbe? Hat sich das Licht auf dem Weg verändert? Und wem sind Sie begegnet?"
    Ich erinnere mich an die Frau mit dem Kinderwagen, die in einem Schlagloch stecken blieb. Oder an die Plastikpuppe, die in grellgrünem Kleid über dem Ticketshop thronte. Eine Straßenbahn donnerte viel zu nah an mir vorbei. Die Bilder in meinem Kopf sind ganz klar und gleich wieder weg - Blitzlichter einer Realität, für die eigentlich kein Platz in meinem Gedächtnis reserviert war. Diesen Platz will die Leipziger Künstlerin nun freischaufeln. Während der einstündigen Performance bewegen sich die Teilnehmer in Zeitlupe durch die Gassen und Kaufhäuser.
    "Jetzt ist Zeit, Paare zu bilden. Ich nehme Sie jetzt an die Hand. Ich bitte Sie, die Augen zu schließen."
    Wir führen uns blind durch die Warenwelt, sehen nur für kurze Momente. Die Bilder erscheinen surreal. Unzählige Superangebote, nur für kurze Zeit, Socken, Seifen, Zuckertüten – nach Farben und Größen sortiert. Alles ist Theater und wir spielen mit. Diana Wesser jongliert mit Wahrnehmung, hinterfragt Normalität.
    Mit ihrer Performance ist sie zu Gast auf der Degrowth-Konferenz in Leipzig. Wissenschaftler, Aktivisten und Künstler feilen an einer neuen Gesellschaftsform. Das englische Wort Degrowth hat sich zum Inbegriff der Idee etabliert und bedeutet so viel wie negatives Wachstum, also Schrumpfung. Gerade deshalb passt ihre Kaufhauswanderung gut ins Programm, sagt sie.
    "Es geht ja bei der Konferenz um den Gedanken: Weniger ist mehr. Und da fand ich es interessant, dass die Konferenz zwar in der Uni, aber mitten in der Leipziger Innenstadt ist. Und das ist ja in Leipzig der Konsumort schlechthin. Hier zentriert sich ja alles. Das fand ich interessant, aus dem Diskursort hinauszugehen und in diese Räume zu gehen, wo das stattfindet, worüber wir sprechen, wo auch die Veränderung stattfinden muss."
    Wachstumskritiker gibt es seit Anbeginn kapitalistischer Gesellschaften. In letzter Zeit haben sie sich zu einer Gegenbewegung verdichtet. 2008 fand die erste Degrowth-Konferenz in Paris statt. 150 Leute kamen, danach folgten Barcelona und Venedig. Zum ersten Mal nun treffen sich Visionäre und Kritiker in Deutschland, dem Vorzeigewachstumsland. 2.500 Teilnehmer überlegen, wie das Wachstumsparadigma überwunden werden kann, wie Gesellschaften nicht länger wachsen oder untergehen müssen. Denn ein Wandel sei dringend notwendig, sagt Konferenzkoordinatorin Nina Treu.
    "Ich glaube eher, dass wenn wir weiter so wirtschaften, wie wir es gerade machen, und total an die ökologischen Grenzen gehen, dass wir dann einen radikalen Umbruch erleben, wo alles zum Erliegen kommt. Und wir kucken müssen, wie man damit umgeht. Man sieht das auch jetzt schon. Es gibt immer mehr soziale Unruhen, es sind viele Leute ausgeschlossen, die sind unzufrieden und haben teilweise ausweglose Situationen. Und ich hoffe auch, dass die Degrowth-Konferenz dazu wirklich was beitragen kann. Dass Ideen entwickelt oder vorgestellt werden, die Beispiel dafür sein können, wie kann so ein Wandel stattfinden."
    Gemeinschaftsgärten, Gemüsekooperativen, Mietshäusersyndikate, Mehrgenerationenhäuser – alternative Lebenmodelle und Lifestyle-Experimente: In 400 Veranstaltungen wird über die gerechte Verteilung natürlicher Ressourcen, demokratische Teilhabe und die Rolle des Individuums sinniert, zum Beispiel in der Ausstellung "Was das Ich vom Selbst erfährt".
    Die Künstlerin Lisa Domin zum Beispiel hat sich mithilfe von Youtube das Steppen beigebracht. Nun will sie in ihrem Wohnzimmer anderen das Schwimmen vermitteln. Von einer Kommode springt sie auf eine Matzratze und macht Trockenübungen. Der Medienkünstler John Baldessari lehrte schon 1972 einer Pflanze das Alphabet. Vermeintlich Wertvolles wird plötzlich sinnlos. Mit solchen künstlerischen Ansätzen wollen die Kuratoren Gewohnheiten brechen, Dinge erfahrbar machen, denn man muss fühlen, um zu verstehen, sagt Christin Schmidt.
    "Fakt ist, wenn wir über einen kulturellen Wandel nachdenken, können wir uns nicht auf die Wissenschaft, die Wirtschaft allein verlassen. Es muss sich auch in den Köpfen und Körpern der Menschen etwas ändern. Und deswegen ist es eine kulturelle Frage. Uns war wichtig, Kunst nicht als ein Transportmittel einer vermeintlich richtigen politischen Haltung zu begreifen, sondern als Möglichkeit, tatsächlich zu forschen, zu erkunden, neben Wissen auch Erfahrung zu produzieren."
    Wie im Performanceprojekt "The Waiting Room": Ein Wartezimmer, ein Empfang, Formulare und Fragebögen. Man nimmt Platz und wartet, bis man in eines der umliegenden Zimmer gebeten wird. Was dort geschieht? Vielleicht trifft man auf eine Beraterin oder einen Visionär? Vielleicht findet man sich in einer intimen Gesprächssituation wieder, im öffentlichen Raum oder in einer fiktiven Welt, alleine oder mit anderen? Alles ist möglich.