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Demokratie und Islam

Auf dem Reißbrett können sich die Demokratie im Orient nicht entwickeln, meint Islam-Experte Hans-Peter Raddatz. Das islamische Gesetz reguliere das Leben bis ins kleinste Detail - damit sei kein Raum für demokratische Entwicklungen.

Hans-Peter Raddatz im Gespräch mit Jürgen Liminski | 28.02.2011
    Jürgen Liminski: Die Demonstrationen in der Region halten an und in ihnen fokussieren sich wie in einem Brennglas die Hoffnungen vieler Menschen in Ägypten, im Maghreb und darüber hinaus im ganzen vorderen Orient. Es sind Hoffnungen auf Freiheit und Demokratie, und die Demonstranten sind in ihrer großen Mehrheit Leute mit Handys, jung, interneterfahren und weltoffen. Ein repräsentativer Querschnitt durch die jeweilige Bevölkerung ist es nicht. Wie immer: Sie fordern Demokratie, auch in den islamischen Ländern, und die große Frage ist: Wie demokratiefähig ist der Islam? Welche Staatsform entspricht am ehesten den Vorstellungen des Koran oder der islamischen Tradition? Kann es eine dauerhafte Säkularisierung islamischer Staaten überhaupt geben?

    Zu diesen Fragen begrüße ich den Islam-Experten und mehrfachen Buchautor Hans-Peter Raddatz. Guten Morgen, Herr Raddatz.

    Hans-Peter Raddatz: Guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Herr Raddatz, der Ruf nach Demokratie klingt heute etwas verhaltener als noch vor ein paar Wochen, aber er ist deutlich vernehmbar. Kann es in einem islamisch geprägten Land wie Ägypten oder Libyen eine Demokratie nach westlichen Vorstellungen geben?

    Raddatz: Das ist die Frage, die wir seit vielen Jahren stellen und die bisher von dem sogenannten interreligiösen beziehungsweise interkulturellen Dialog, der ja seit vielen Jahren auch betrieben wird zwischen dem Westen und den Muslimen, nicht beantwortet worden ist. Und um direkt auf den Kern Ihrer Frage zuzusteuern: Der Islam hat keine Geschichte, die demokratische Strukturen hätte erzeugen können.

    Die Umstürze, die wir heute erleben, orientweit, sind natürlich die Antwort auf das Wissen über Fernsehen und sonstige Medien, dass es im Westen anders zugeht als im Islam selbst. Sie haben gerade die junge Generation angesprochen; die ist natürlich am meisten betroffen davon und die ist auch am offensten diesen westlichen zivilisatorischen Erscheinungsformen gegenüber. Aber der Islam selbst gründet auf Koran und der sogenannten Propheten-Tradition, daraus ergibt sich das islamische Gesetz, und das islamische Gesetz reguliert das tägliche Leben bis ins letzte Detail und da ist kein Raum für demokratische Entwicklungen. Wenn wir Parlamente bisher im Orient hatten, dann waren das aufgesetzte oder sind auch aufgesetzte Strukturen, die aber letztendlich ihre Verfassung in der Scharia beziehungsweise im Koran haben, und insofern ist das Gerede von demokratischen Entwicklungen in Ägypten und anderswo ein Politikum. Aber so einfach auf dem Reißbrett können sie die Demokratie im Orient nicht entwickeln, das geht nicht.

    Liminski: Grundsätzlich gehören zur Demokratie Gewaltenteilung mit einer unabhängigen Justiz, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Pluralismus bei den Parteien. Ist das denn nicht mit islamischen Vorstellungen vereinbar? In Ägypten scheint, es ja ein bisschen in diese Richtung zu gehen.

    Raddatz: Da haben Sie erneut ein weiteres, sehr wichtiges Stichwort genannt, nämlich die Beherrschung der Justiz, und da bringen Sie unfreiwillig wahrscheinlich das Stichwort der Muslimbrüder ins Gespräch. Die Muslimbrüder sind mit Abstand die größte und machtvollste Organisation islamweit, die einen sozialen Arm hat mit allerlei Aktivitäten für Frauen, Studenten, Arbeiter und so weiter, auf der anderen Seite aber einen glasklaren Arm, der die Orthodoxie, die islamische Orthodoxie, damit auch die Scharia und das islamische Gesetz bewahren wollen. Und die Muslimbrüder haben nun insbesondere in Ägypten und in Saudi-Arabien die Vormacht, was das Recht betrifft, die Einflüsse auf die Anwaltschaft, Richterschaft und so weiter, an sich gerissen. Die haben einen Marsch durch die Institutionen hinter sich. Insofern kann man nur es als eine Frage der Zeit bezeichnen, bis die Muslimbrüder in der Regierung in Ägypten sitzen.

    Liminski: In islamischen Ländern, Herr Raddatz, gilt die Einheit von Staat und Religion. Din wa Daula ist der Fachbegriff. Ist eine Säkularisierung, wie Europa sie erlebt hat, möglich, ohne das Wesen des Islam zu zerstören? In der Türkei scheint, es ja auf den ersten Blick gelungen zu sein. Jedenfalls hat Premier Erdogan gestern Abend in Düsseldorf die demokratischen Verhältnisse der Türkei gelobt.

    Raddatz: Na ja, also Herr Erdogan ist in der jüngeren Vergangenheit mit allerlei Äußerungen an die Öffentlichkeit getreten, die das Gegenteil zeigen. Er hat vor gar nicht so langer Zeit die Demokratie als eine barbarische Staatsform bezeichnet und allerlei Dinge mehr in dieser Richtung. Also ich würde Herrn Erdogans Aussagen immer wieder nur als Feigenblatt für die jeweils erforderliche Situation betrachten.

    Aber vergessen wir nicht, dass auch in der Türkei eine deutliche Re-Islamisierung stattgefunden hat. Die letzten 20 Jahre sind geprägt von einer solchen, und Herr Erdogan führt eine islamistische Partei an, das dürfen wir nicht vergessen. Auf der anderen Seite haben wir natürlich auch in Europa eine Entfernungsbewegung von der Demokratie selbst festzustellen. Wir brauchen nur auf die EU zu gucken. Die Abgabe von Souveränität der EU-Staaten an Brüssel, an eine Ebene, die nicht gewählt ist, ist allein schon Beweis genug dafür, abgesehen von den parteienstaatlichen Strukturen, die wir in den EU-Staaten, insbesondere auch um Deutschland haben, ist allein Beweis dafür, dass wir selbst uns in einem nicht gerade Auflösungsprozess, aber in einem Vorgang befinden, der ernsthaft an den Spielregeln der Demokratie kratzt, sodass also, wenn die Rede ist von Ägypten, das auf dem Wege in die Demokratie ist, sein soll, dann wir immer diesen, unseren eigenen oder politisch propagierten Demokratiebegriff im Auge haben müssen, der eben nicht mehr das ist, was die Verfassung sagt. Die praktisch gelebte Demokratie bei uns hat immer weniger mit den Erfordernissen zu tun, die in der Verfassung schriftlich festgelegt sind.

    Liminski: Aber wir haben eine Säkularisierung in Europa erlebt. Ist diese Säkularisierung in islamischen Ländern möglich?

    Raddatz: Entschuldigen Sie, wenn ich da noch nicht drauf eingegangen bin, aber die Frage hängt natürlich damit unmittelbar zusammen, denn Säkularisierung heißt primär Wissenschaft. Die Säkularisierung in Europa ist aus der Wissenschaft heraus angetrieben worden bis auf den heutigen Tag und so eine Bewegung kann, konnte es und wird es bis auf weiteres im Islam nicht geben, weil Wissenschaft diametral dem islamischen Gesetz der Vereinnahmung des einzelnen Menschen durch die Vorschriften des Koran und der Tradition entgegenstehen. Das ist ja auch der Hauptgrund, weshalb die Wissenschaft danieder liegt die ganze Zeit schon. Es wird immer geredet, ohne den Islam hätte Europa eigentlich gar nicht sein können aufgrund der wissenschaftlichen Errungenschaften der Muslime. Die hat es gegeben, aber die haben im 12., 13. Jahrhundert aufgehört, während sich also in der Renaissance bei uns die wissenschaftliche Bewegung in Gang gesetzt hat. Wir haben das Phänomen, dass wir vor 700 Jahren sozusagen eine diametrale Umkehrbewegung vollzogen haben, und in diesen 700 Jahren ist die wissenschaftliche Entwicklung und das heißt damit auch die Säkularisierung im Islam blockiert worden, während wir uns in der bekannten Weise entwickelt haben.

    Also insofern ist auch hier die geschichtliche Entwicklung ganz klar gegen eine Säkularisierung, und wenn sie überhaupt stattfinden soll, dann kann sie nur harmonisch, sozusagen organisch, wenn ich diesen etwas abwegigen Ausdruck mal benutzen darf, vollzogen werden, aber nicht über Nacht in der Retorte gezüchtet werden. Das ist völlig ausgeschlossen.

    Liminski: Demokratie und Islam, eine Kombination mit vielen Fragezeichen. Das war hier im Deutschlandfunk der Islam-Experte und mehrfache Buchautor Hans-Peter Raddatz. Besten Dank für das Gespräch, Herr Raddatz.

    Raddatz: Nichts zu danken.