Sonntag, 12. Mai 2024

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Der anatolische Tiger wählt

Am Sonntag wählen die Türken ein neues Parlament. Auch wenn keine Wechselstimmung herrscht und Ministerpräsident Tayyip Erdogan die Wahl wohl gewinnen wird: Schaut man sich die ganze Türkei an, tickt das Land parteipolitisch höchst unterschiedlich.

Von Steffen Wurzel | 10.06.2011
    "Früher gab es hier zwei Industriegebiete, demnächst wird das fünfte eingeweiht. Der Flughafen Gaziantep war ein kleiner Regionalflugplatz, heute sind wir international angebunden. Früher gab es ein Fünf-Sterne-Hotel, heute sind es zehn."

    Mehmet Aslan ist Chef der Handelskammer von Gaziantep. Er hat allen Grund selbstbewusst aufzutreten: Seine Stadt gehört zu den Städten der Türkei, die in den vergangenen Jahren am schnellsten gewachsen sind. Wirtschaftsfachleute sprechen regelmäßig vom "anatolischen Tiger" Gaziantep. Politisch gesehen ist die Millionenstadt unweit der Grenze zu Syrien fest im Griff der wirtschaftsfreundlichen Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Erdoğan. Der örtliche Wahlkampfleiter der AKP, Mehmet Has, argumentiert: Weil die AKP hier das Sagen habe, gehe es der Stadt so gut.

    "Die Wähler erleben ja selbst, was die Regierung in den vergangenen achteinhalb Jahren hier geleistet hat. In den kommenden sieben bis acht Jahren wird Gaziantep in einer wirtschaftlich bessern Lage sein als die Westeuropäer! Davon bin ich überzeugt."

    Die AKP holt in Gaziantep regelmäßig Stimmenanteile um die 60 Prozent. Spricht man die Bewohner auf dieses Phänomen an, findet sich fast niemand, der ein schlechtes Wort über den Ministerpräsidenten und seine Partei verliert.

    "Meine Partei ist die AKP. Das Gesundheitswesen funktioniert inzwischen tiptop. Die haben viele neue Krankenhäuser gebaut."

    "Ich wähle Tayyip Erdoğan! Bis ans Ende meiner Tage!"

    Ortswechsel. Rund 900 Kilometer westlich von Gaziantep in Izmir. Die Stadt an der Ägäisküste ist für zwei Dinge berühmt: Erstens nennt sie sich stolz die westlichste und modernste aller türkischen Großstädte und zweitens, so sagt man, ticken die Leute in Izmir aus Prinzip anders als der Rest des Landes. Auch und erst recht politisch. Izmir ist fest in der Hand der kemalistischen CHP. Noch, muss man hinzufügen, denn ob denn das nach der Wahl am Sonntag immer noch der Fall sein wird, ist offen. Senay Çavdar, stellvertretende Chefin der CHP in Izmir:

    "Izmir ist eine kemalistisch geprägte Stadt. Die Menschen hier wollen die modernen Errungenschaften Atatürks bewahren. Vor allem wollen sie sich ihre Freiheiten nicht nehmen lassen. Deswegen neigen die Bürger hier zur CHP."

    Eine Umfrage im Kültürpark im Zentrum von Izmir bestätigt diese Parteienpräferenz.

    "Ich werde aus Trotz - gegen die AKP - die CHP wählen!"

    "Mich stört eigentlich alles an der AKP. Ich habe keine Lust, irgendwann aufpassen zu müssen, was ich anziehe oder was ich trinke. Es bahnt sich still und leise etwas an in unserem Land. Die Menschen ticken immer konservativer, religiöser. Deswegen hoffe ich, dass in Izmir wieder die CHP gewinnt."

    Diese und ähnliche Befürchtungen hört man immer wieder in Izmir, sowohl von Wählern als auch von Politikern der CHP. Muzaffer Oktay, Chefredakteur der YENI ASIR, der ältesten und größten Regionalzeitung Izmirs, hält die Furcht allerdings für übertrieben.

    "Diese Angst ist nicht berechtigt. Das zeigt sich vor allem daran, dass in den anderen Provinzen des Landes die AKP das Leben der Menschen ja auch nicht unbedingt eingeschränkt hat. In Izmir hält diese Angst der Säkularisten vor einem islamischen Fundamentalismus an."

    Den letzten Umfragen zufolge wird es in Izmir bei dieser Wahl zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der CHP und der AKP kommen. Gut möglich also, dass die Partei von Ministerpräsident Erdoğan die letzte Bastion der CHP diesmal zu Fall bringt.